Jugendliche bei Ausschreitungen in Nordirland »Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse sein«

Ausschreitungen in Belfast: Ein alter Konflikt flammt wieder auf
Foto: Charles McQuillan / Getty ImagesSie kommen in kleinen Gruppen, lachen, verschwinden kurz in den Seitenstraßen und kehren mit Ziegelsteinen und Flaschen zurück. Hunderte Jugendliche versetzen die nordirische Hauptstadt Belfast in einen Ausnahmezustand.
Am Donnerstagabend fliegen Steine und Feuerwerk auf gepanzerte Polizeiwagen, die auf der Springfield Road stehen, einer Straße in einem irisch-katholischen Viertel. Weder Dutzende Sozialarbeiter noch ein Wasserwerfer der Polizei können die aufgebrachten Teenager zur Ruhe bringen oder abschrecken. Die Sicherheitskräfte versperren ihnen den Weg zu den verhassten Feinden von der protestantischen Shankill Road. Die Randalierer von den gegnerischen Seiten sehen diesen im Übrigen sehr ähnlich: schwarze Jacken, schwarze Masken, Jeans oder Jogginghosen, viel aufgestaute Wut und Frust.
Die beiden Arbeiterviertel sind voneinander durch eine Mauer getrennt, die sogenannte Friedensmauer. Mehrere Meter hoch ist sie und hat drei Teile – Beton, Wellblech und Gitter. Das Tor in der Mauer ist zu. Auf der protestantischen Seite steht eine Reihe von Polizeiwagen direkt davor.
Am Mittwochabend flogen Molotowcocktails über das Tor, am Ende wurde es aufgebrochen. Ein Linienbus wurde auf der Shankill Road in Brand gesetzt. »Jedes Jahr gibt es Spannungen um Ostern, doch dass es so schlimm wird, habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr erlebt«, sagt Sharon, eine Anwohnerin, die sich zusammen mit ihren Nachbarinnen im katholischen Viertel die Krawalle anschaut.
Seit mehr als einer Woche werden in Nordirland täglich Steine und Molotowcocktails auf die Polizei geworfen und Autos in Brand gesetzt. Die Ausschreitungen begannen in probritischen unionistischen Stadtteilen in Londonderry, Belfast und kleineren Orten wie Ballymena oder Carrickfergus. Seit Mittwoch wird auch im katholischen Viertel rund um die Springfield Road rebelliert. Mehr als 50 Polizisten wurden bereits verletzt. Das nordirische Parlament kam am Donnerstag zu einer Sondersitzung zusammen. Der Premierminister Boris Johnson schickte den Staatssekretär für Nordirland nach Belfast.
Der Brexit heizt die alten Spannungen zwischen proirischen Republikanern und probritischen Unionisten wieder an. Seit das Vereinigte Königreich im Januar die EU verlassen hat, verläuft de facto eine Zollgrenze zwischen Großbritannien und der EU in der Irischen See. Mit dem sogenannten Nordirlandprotokoll, auf das sich London und Brüssel geeinigt hatten, soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindert werden.
»Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse sein«
Diese Regelung sorgt bei den Unionisten schon lange für Unmut. Die unionistische Partei DUP fordert, dass das Protokoll außer Kraft gesetzt wird. Und spricht man mit protestantischen Jugendlichen, die sich jeden Tag am frühen Abend zu Krawallen versammeln, rattern sie Parolen herunter: »Wir wollen keine Grenze in der Irischen See. Sie versuchen, uns von England, Schottland und Wales abzuschneiden und so ein vereinigtes Irland zu bekommen. Das darf nicht passieren.«
Den Teenagern, die ihre Gesichter hinter Masken verstecken und ihre Namen nicht nennen wollen, geht es dabei nicht um bürokratische Feinheiten oder Versorgungsengpässe. Sie fühlen sich als Gruppe bedroht, ausgeschlossen und benachteiligt. »Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse sein«, wiederholen sie immer wieder. Die Frage, wo die Zollgrenze zwischen Großbritannien und der EU verläuft, wird damit zu einer Frage nach Identität.
Eine Beerdigung spaltet Katholiken und Protestanten
Als Beweis dafür, dass irische Katholiken in Nordirland im Unterschied zu Protestanten angeblich besondere Privilegien genießen, führen sie die Geschichte der Beerdigung von Bobby Storey an.
Storey war einst einer der Anführer bei der Irisch-Republikanischen Armee IRA und wurde im Juni vergangenen Jahres in Belfast mit besonderen Ehren bestattet. Trotz Corona-Restriktionen versammelten sich mehr als tausend Menschen zu seiner Beerdigung, darunter die Vorsitzende der Partei Sinn Féin, Mary Lou McDonald, und die stellvertretende Erste Ministerin Nordirlands, Michelle O’Neill. Niemand von den Teilnehmenden wurde dafür bestraft, das teilte die Polizei diesen März mit. Der Fall wurde damit zu einem Politikum, als die nordirische Regierungschefin Arlene Foster von der unionistischen Partei DUP den Rücktritt des Polizeichefs forderte. Die Empörung über die Beerdigung war ein Grund, warum die Gewalt eskalierte.

Polizisten in Belfast: Die Gewalt eskaliert seit Tagen
Foto: Mark Marlow / EPADie Sichtweise der Unionisten, dass die Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland eine existenzielle Bedrohung darstellt, wird nicht nur von den Jugendlichen, sondern auch von einflussreichen Erwachsenen in protestantischen Vierteln geteilt.
Wenn Robert Williamson deutlich machen möchte, dass er auf keinen Fall eine Grenze in der Irischen See hinnehmen wird, zeigt er auf ein Graffiti in seinem Viertel in Ostbelfast. Damit wird protestantischer Opfer des Nordirlandkonflikts gedacht. »Das Abschlachten der Unschuldigen durch die blutigen Hände von Sinn Féin/IRA darf nie vergessen werden« steht in roter Schrift auf schwarzem Grund geschrieben. Eine Zollgrenze ist für ihn der erste Schritt zu einer irischen Wiedervereinigung, und die würde Protestanten praktisch in Lebensgefahr bringen.
»Wir wurden vollkommen verraten«
Der heute 60-jährige Williamson war schon als Jugendlicher ein Aktivist auf der Seite von Loyalisten – radikalen Unionisten. Jetzt ist er Koordinator bei einer lokalen Organisation, die mit ehemaligen loyalistischen Kämpfern arbeitet. Und er ist Mitglied im Loyalist Community Council (LCC), einer Vereinigung, zu der auch Vertreter von paramilitärischen unionistischen Gruppen gehören. Anfang März erklärte der LCC, dass er wegen des Nordirlandprotokolls seine Unterstützung für das Karfreitagsabkommen temporär zurückzieht.
»Nach dem Brexit kam Premierminister Johnson nach Belfast und versicherte uns, dass unsere britische Identität nicht in Gefahr ist. Doch er hat gelogen. Wir wurden vollkommen verraten«, sagt Williamson. Dieses Gefühl habe sich bei vielen Unionisten durchgesetzt. Er sagt, die Gewalt müsse aufhören, bevor jemand ums Leben komme. Doch einfach sei es nicht, in seinem eigenen Viertel werden über soziale Medien schon Proteste für das Wochenende geplant.