
Internationale Nachrichten im ersten SPIEGEL ...wird man ein befreites Land

Gromyko sprach englisch
Und Baruch siegte »moralisch«
Mit 10 zu 0 Stimmen nahm der Atomenergie-Ausschuß in New York den USA-Plan für internationale Atomkontrolle an. Rußland und Polen enthielten sich der Stimme.
In der Schlußsitzung fing der Vertreter Rußlands, Andrei Gromyko, plötzlich an, englisch zu sprechen. Er bediente sich nicht nur dieser für ihn ungewohnten Sprache. Er versuchte auch wiederholt, den Vertreter der USA, den 76jährigen Bernard Baruch, direkt anzuschauen und ihn gleichsam unmittelbar anzusprechen. Trotzdem blieben die russischen Einwendungen unberücksichtigt.

DER SPIEGEL hat Geburtstag! Deshalb diskutieren wir, wie Journalismus künftig sein sollte und wie sich die gesellschaftliche Debatte verändert.
Baruch ist der Vater des auch nach ihm benannten Fünf-Punkte-Plans. Nach ihm soll eine internationale Kontrollbehörde errichtet werden, deren Aufgabe es ist, die ausschließliche Verwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke sicherzustellen.
Umstritten blieb bis zum Schluß eigentlich nur der zweite Punkt. Kein Staat, heißt es in ihm, soll das Recht haben, durch ein Veto die Durchführung der Kontrolle zu behindern.
Mathieu von Rohr, Ressortleiter Ausland (2022)
Dieser Vorschlag, sagte Gromyko, verstoße gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen. Trotz dieses Vorbehaltes habe Rußland nichts dagegen einzuwenden, den Plan Punkt für Punkt durchzugehen.
Obwohl er direkt angesprochen wurde, enthielt sich Baruch in der Sitzung jeder Aeußerung. Erst später, als sein Plan angenommen und damit an den Sicherheitsrat weitergeleitet war, sprach er von »einem moralischen Sieg«.

Vielleicht war es dieser Erfolg am vorletzten Tage des alten Jahres, der den Generalsekretär der UNO, Trygve Lie, zu einem hoffnungsfreudigen Ausblick auf 1947 veranlaßte. Vielleicht aber hatte es ihn auch nur erfreut, daß Brasilien als erste und bisher einzige Nation schon den vollen Jahresbeitrag zur UNO in Höhe von 1250 887 Dollar für 1946 und 1947 eingezahlt hat.
Trygve Lie sieht keinen Grund, daß bei den Friedensvertragsverhandlungen mit Deutschland und Japan größere Meinungsverschiedenheiten hervortreten könnten, als bei den Verhandlungen über die Verträge mit den Mitläufer-Staaten.
Lies Zuversicht wird sich bald bewahrheiten müssen. Am 10. Januar treten die Stellvertreter der Außenminister in London zusammen. Vertreter des englischen Außenministers Bevin wird Sir William Strang sein. Dieser 54jährige Schotte führte im Sommer 1939 die englische Delegation, die sich damals vergeblich um einen Vertragsabschluß in Moskau bemühte.
Bis - zum 25. Februar sollen die Vertreter der Außenminister ihren Bericht fertiggestellt haben. Daß sie schon einen Vertragsentwurf ausarbeiten werden, erwartet niemand.
Wiener Werben
Aber nur im Rahmen der UNO
Oesterreichs Außenpolitik ist aktiv. Der Minister des Aeußeren, Dr. Gruber, ist ein eifriger diplomatischer Reisender seines Landes. Mit Dr. Kleinwächter in Washington und Norbert Bischoff in Moskau hat er zwei wichtige Gesandtenposten neu besetzt.
Von den demnächst stattfindenden Besprechungen der Außenminister-Stellvertreter in London erhofft Oesterreich die Erfüllung folgender Punkte: volle politische und wirtschaftliche Souveränität; Anerkennung des österreichischen Eigentums auch in den Nachbarländern; ein österreichiches Heer von 30000 Mann; die Grenzen von 1937; Festlegung der Rückforderungsansprüche Oesterreichs an Deutschland im Staatsvertrag; Anhören der österreichischen Vertreter bei Abfassung des Vertrages.
Die inneren Verhältnisse des Landes leiden, wie die Regierung Dr. Figl bei jeder Gelegenheit betont, unter der Vierzonenaufteilung. Vier Besatzungsmächte sind für den kleinen Staat eine schwere Last. Um so mehr bemüht sich Wien, die politische Verbindung mit der Außenwelt herzustellen. Es wird in diesem Bestreben vor allem von den USA und Großbritannien unterstützt.

SPIEGEL Nr. 1
Zum 75. Jubiläum präsentieren wir die erste Ausgabe des SPIEGEL vom 4. Januar 1947 noch einmal in vier Teilen mit aktuellen Kommentaren heutiger Kolleginnen und Kollegen.
Die Erklärung der Vereinigten Staaten spricht in diesem Sinne: »Oesterreich wird als befreites Land und nicht als ehemaliger Feindstaat betrachtet. Als befreitem Land werden die Vereinigten Staaten Oesterreich alle jene gesetzlichen, verwaltungstechnischen und anderen Gegebenheiten zukommen lassen, die den befreiten Gebieten zugesichert worden sind.«
Ebenso tritt Großbritannien für den Grundsatz der österreichischen Unabhängigkeit ein. Oesterreich selbst wünscht »Isolierung«. Bundespräsident Dr. Karl Renner hat den Plan eines katholischen süddeutschen Staatenbundes unter österreichischer Führung abgelehnt. Er erklärte, daß Oesterreich ohne feste Bindungen zu der gleichen Neutralität gelangen wolle, wie die Schweiz sie besitze. Die österreichische Außenpolitik soll nur im Rahmen der UNO geführt werden.
Hierzu sagt Dr. Renner: »Wir haben auswärtige politische Kombinationen außer der einen unseres unmittelbaren raschen Anschlusses an die UNO gar nicht in Erwägung gezogen. Wir werden niemals in eine Kombination irgendwelcher Art eintreten, außer nach dem Wunsch oder mit Billigung der UNO. Wenn ich von unmittelbarer Unterordnung unter die UNO spreche, so geschieht dies aus der Ueberzeugung, daß Blockbildung jeglicher Art kaum als Instrument des Friedens betrachtet werden kann. Selbst dann nicht, wenn sie sich zunächst auf Freundschaft bezieht oder auf nähere nationale Verwandtschaft stützt.«
Blum hat keine rosigen Zeiten
Frankreich zwischen den Bilanzen
In der von Ministerpräsident Leon Blum vor der französischen Nationalversammlung abgegebenen Regierungserklärung finden sich auch einige Hinweise auf die künftig zu verfolgende Deutschlandpolitik der neuen Regierung.

Die französischen Sozialisten haben wiederholt erklärt, daß sie gegen jedwede territoriale Abtrennung von Rhein und Ruhr sind, und daß es ihnen einzig und allein darauf ankommt, ein Wiedererstehen der Kriegsindustrie in diesen Zonen zu verhindern. Diesen Standpunkt haben die französischen Sozialisten nicht verlassen. Er kommt auch in der Regierungserklärung des sozialistischen Kabinetts klar zum Ausdruck. Was andererseits die Reparationen angeht, so verfolgen die Sozialisten mit der gleichen Energie wie die anderen Parteien des Landes den Rechtsanspruch Frankreichs auf angemessene Wiedergutmachung.

Sie erwarten auch, daß die Ruhrkohlenlieferungen, die für die französische Wirtschaft schon vor dem Kriege von großer Bedeutung waren, mit größerer Intensität fortgeführt werden. Der Sprecher der Kommunisten, Jaques Duclos, und der Wortführer der Republikanischen Volksbewegung, Robert Lecourt, kamen ebenfalls auf die Deutschlandfrage zu sprechen. Duclos unterstrich bei dieser Gelegenheit, daß die französischen Interessen ernergisch vertreten werden müßten. Die Internationalisierung des Ruhrgebiets, d.h. seine Stellung unter interalliierte Kontrolle, müsse unter allen Umständen verwirklicht werden. Robert Lecourt betonte die Notwendigkeit einer Kontinuität der französischen Deutschlandpolitik. Die von den drei vorangegangenen Regierungen gefaßten Beschlüsse müßten in jedem Falle berücksichtigt werden.
Da es sich bei der gegenwärtigen Regierung nur um ein Uebergangskabinett handelt, das voraussichtlich nur vier bis fünf Wochen im Amt bleiben wird, werden die entscheidenden Besprechungen über die Deutschlandfrage jedoch erst im März in Moskau beginnen. Es ist kaum anzunehmen, daß der gegenwärtige Wechsel in der Leitung des Quai d'Orsay hierauf einen irgendwie entscheidenden Einfluß ausüben wird. Die gegenwärtige Regierung dürfte sich auf die nächstliegenden Probleme, insbesondere auf die Lösung der dringenden Preis- und Währungsfrage sowie auf die Beilegung des Konfliktes in Indochina beschränken.
Die Regierung scheint nicht die Absicht zu haben, eine Abwertung des Franken oder einen neuen Umtausch der Banknoten vorzunehmen. Es handelt sich zur Zeit vor allem darum, das Gleichgewicht im Staatshaushalt herzustellen. Nach Schätzungen beziffern sich die Ausgaben für 1947 auf 655 Milliarden Franken, denen Einnahmen von nur 500 Milliarden Franken gegenüberstehen. Es müssen also 155 Milliarden Franken gefunden werden, um das Loch im Budget zu stopfen. Minister Andre Philipp hat die Absicht, die. Militärkredite, die sich zur Zeit auf 180 bis 200 Milliarden Franken beziffern, auf annähernd die Hälfte zu reduzieren. Außerdem sollen die wirtschaftlichen Subventionen des Staates, mit Ausnahme für Milch, sämtlich aufgehoben werden. Das würde eine weitere Einsparung von ca. 70 bis 80 Milliarden Franken bedeuten. Allerdings würde die Aufhebung der Subventionen eine neue Welle von Preiserhöhungen zur Folge haben.
Die dänische Lockung
Südschleswig – ein Prüfstein
Seit einigen Wochen läßt sich in der dänischen Haltung zur Südschleswig -Frage ein sichtbarer Wandel feststellen. Anfangs ging die Bestrebung zur Angliederung Südschleswigs von den dort lebenden dänischen Minderheiten aus. Die dänische Regierung verhielt sich abwartend, und die sozialdemokratische Regierungspartei in Kopenhagen lehnte eine eventuelle Angliederung entschieden ab.
Nach dem für alle Teile überraschenden Wahlerfolg der dänischen Minderheiten ergab sich jedoch ein neues Bild. Die dänische Regierung änderte ihr Verhalten, da nun eine Gebietserweiterung in greifbare Nähe gerückt ist. Gustav Rassmussen, der dänische Außenminister, erklärte, daß man bei der künftigen Wahl alle in Südschleswig lebenden Flüchtlinge aus anderen Teilen Deutschlands erfassen und vom Wahlrecht ausschließen soll.
London hat den Dänen seine Zusicherung gegeben, daß dänische Abgeordnete die Ansicht ihres Landes bei den deutschen Friedensverhandlungen vertreten sollen. Dänemark stellt seinen Gebietsanspruch auf Grund alter Verträge und der freiwilligen Entscheidung der Südschleswiger.
Im östlichen Vorort Kopenhagens, auf der Insel Amager, befindet sich ein deutsches Flüchtlingslager. Nacht für Nacht leuchtet den nun bald nach Deutschland Zurückkehrenden der Lichtschein von zwei glücklichen Ländern: hie Dänemark, und dort über das Meer sendet das Feuer von Malmö einen Gruß aus Schweden.
Bohrer am Mont Blanc
Der längste Tunnel der Welt
Der längste Verkehrstunnel der Welt ist im Entstehen. Er soll unterhalb des Mont Blanc die französisch - italienische Grenze kreuzend verlaufen
Der Tunnel wird die Autostrecke Paris-Rom um 107 Meilen verkürzen. Er liegt auf der Verbindungslinie Paris-Genf-Turin. Von italienischer Seite gestattet er einen schnellen Zutritt zu der Schweiz durch drei Straßen, die nach Genf, Martigny und Vevey führen. Den Touristen, die von Frankreich kommen, wird er eine angenehme Wegverkürzung bedeuten.
Bis zum Frühjahr 1950 soll er fertiggestellt sein und dem Verkehr übergeben werden. Ein außerordentlich großer Aufwand an Arbeitskraft und Material ist für dieses Riesenunternehmen notwendig.
Die Arbeit ist schon in Angriff genommen. Mit Sprengstoffen, Picken und Schaufein bewaffnet haben sich Hunderte von Männern daran gemacht, die festen Felsmassen des höchsten Berges von Europa zu durchbohren. Bei besten Leistungen können im Höchstfall 14 Meter täglich gewonnen werden.
Der Mont-Blanc-Tunnel wird acht Meilen lang und 40 Fuß breit werden. Modernste Einrichtungen für Beleuchtung und Belüftung sind vorgesehen.
Auch die geschäftliche Seite des Unternehmens ist in Erwägung gezogen. Der Bau wird drei Milliarden Lire Kosten fordern. Nach Schätzungen wird damit gerechnet, daß 200 000 Personen jährlich über den neuen Verkehrsweg die Grenze passieren werden.
Man will einen Zoll von fünf Schweizer Franken erheben.
Ras Mar Jacob – honigsüß
Fünf Jahre für den Naziabessinier
Während der Nazizeit war der abessinische Ras Mar Jacob ein großer Mann. Heute steht er in Paris vor Gericht und spielt eine klägliche Rolle.
Er ist der Sohn eines deutschen Missionars und einer äthiopischen Prinzessin, die mit dem Kaiser Menelik verwandt war. In Abessinien gehört ihm ein Gebiet von 420 000 ha. Er spricht neun Sprachen und hat die ganze Welt bereist Seine Töchter ließ er als Tänzerinnen ausbilden und spielte selbst den Manager für sie.
Bei den Nazis war Ras Mar Jacob sehr beliebt. In zahlreichen internationalen Zeitschriften schrieb er Artikel für die Rückgabe der ehemaligen deutschen Kolonien. Bei Kriegsausbruch wurde er im Besitze eines deutschen Reisepasses in Frankreich interniert.
Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen forderten seine mächtigen Freunde seine sofortige Freilassung. Sie betrauten Ihn mit der Leitung der exotischen Sendungen des französischen Rundfunks. In dieser Eigenschaft startete er Hetzsendungen gegen General deGaulle und die Alliierten. Seine treuen Dienste ließ er sich von den Deutschen gut bezahlen.
Bei der Gerichtsverhandlung stellte sich aber heraus, daß er die Deutschen gar nicht leiden mag. Er sagte, daß er die Nazis nicht liebe, weil sie seine Tochter sterilisieren wollten. Trotz zahlreicher Beweise, die dafür vorlagen, bestritt er konsequent seine Tätigkeit am Rundfunk. Bescheiden wies er auf seine Verwandtschaft mit dem jetzigen abessinischen Kaiser hin. Nebenbei erwähnte er noch, daß sein Vorname Mar soviel wie Honig heißt.
Vielleicht die Tatsache, daß er Ausländer ist, vielleicht auch seine honigsüßen Redensarten haben das Gericht zur Milde gestimmt. Allzu gefährliche Handlungen waren ihm auch nicht nachzuweisen. Der Naziabessinier kam mit einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren davon. Der Staatsanwalt hatte 20 Jahre beantragt.

Insel auf eigenen Beinen
Sizilien will autonom werden
Der italienische Ministerpräsident de Gasperi hat sich nach Washington auf die Reise gemacht. Er will Verhandlungen über die Aufnahme normaler Handelsbeziehungen zwischen Amerika und Italien führen.
Der italienische Außenminister Nenni wird am 20. Januar nach London gehen. Bevin hat ihn eingeladen. Nenni hat die Absicht, eine Revision des italienischen Friedensvertrages zu suchen und die Zukunft der italienischen Kolonien zu besprechen.
Die Reparationen, die Triestfrage, die Kolonien und der daniederliegende Außenhandel sind Hypotheken, unter deren Last sich das italienische Volk, das zusehends der extremen Linken oder der äußersten Rechten zustrebt, nur schwer regieren läßt.
Besonders im Süden sind die Schwierigkeiten für die Regierung de Gasperi groß. Bei den großenteils noch monarchistisch denkenden Süditalienern ist die junge Republik nur schwer populär zu machen.
In Sizilien halten die Separatisten ihre Stunde für gekommen. Rom verkennt keineswegs die außerordentliche Tragweite. dieses Problems, denn es kann nicht ohne Sizilien leben, aber Sizilien kann ohne Rom leben.
Der Führer der sizilianischen Autonomisten ist Salvatore Guiliano. Die Sizilianer nennen ihn den eifrigsten Kämpfer auf dem Wege zur Herstellung der Autonomie Siziliens. Reiche Sizilianer werden von seinen Leuten entführt und erst gegen horrende Lösegelder wieder freigelassen. Jedes Kind und jeder Polizist wissen, daß sein Hauptquartier in der Nähe des Monte Sagana ist, aber keiner wagt, gegen ihn oder seine Leute einzuschreiten.

Guilianos Leute hatten schon tagelang die Radiostation von Palermo besetzt und die Sendungen kontrolliert. Sie zogen sich erst vor größeren Truppenverbänden aus Rom zurück, »um weiteres Blutvergießen zu vermeiden«.
»Sie müssen der Welt verkünden, daß wir keine Räuber und Banditen, sondern Freiheitskämpfer sind«, sagte Guiliano einem Journalisten, der auf abenteuerlichen Wegen zu ihm gelangte, »wenn ein
Mann eine Milliarde verdient hat und wir verlangen 200 Millionen Lösegeld, so ist das ein angemessener Beitrag für den Kampf um unsere Unabhängigkeit.« Alles abgenommene Geld wird auf vorgedruckten Formularen mit dem Vermerk »Beitrag zum Kampf um die sizilianische Autonomie« quittiert.
Die äußerst schwierigen wirtschaftlichen Probleme Siziliens tragen viel zu Guilianos Popularität bei; die Armen sehen in ihm eine Art Volksrichter, der einen Ausgleich zwischen arm und reich sucht. Die ganze Insel gehört ungefähr 50 Familien. Hunderttausende von Sizilianern arbeiten für diese Leute. Sie verdienen so wenig, daß sie ihre kinderreichen Familien kaum ernähren können. Die Reichen wohnen in komfortablen Häusern. In den Städten hausen die Menschen in sechs mal fünf Meter großen Kästen ohne Fenster, in denen die ganze Familie von der Großmutter bis zum Baby untergebracht ist. Auf dem Lande kommt noch das Kleinvieh bis zum Esel dazu.
Tausende von Italienern aus Tunis leben in fünf großen Lagern auf der Insel. Im Kriege setzten sie auf die Mussolini-Karte und riefen »Tunis an Italien!«. Die Franzosen haben das übelgenommen und verweigern ihnen die Rückreise nach Afrika.
In den Straßen der großen Städte Siziliens, in Palermo, Messina, Katania und Syrakus, reiht sich Basar an Basar und Kaffeehaus an Kaffeehaus. Das Leben spielt sich auf der Straße ab. Morgens sind es schlecht angezogene Frauen und abends gut angezogene Männer, die das Straßenbild beherrschen, und immer zerlumpte Kinder, die alles verkaufen, was die Polizei verbietet: Zigaretten, Gold, Dollars und weißes Mehl. An allen Straßenecken stehen Menschenschlangen bei Wahrsagern, Kartenlegern, Sterndeutern und Hellsehern.
Der Kinderreichtum in Sizilien ist ein äußerst schwieriges Problem. Der Familienvater verdient häufig nicht genug und verkauft seine Kinder an alleinstehende, ältere Frauen. Er bekommt 500 bis 5000 Lire pro Monat oder eine einmalige Abfindung. Die Pflegemutter schickt diese Kinder dann zum Betteln, und abends muß ihr der Tageserlös abgeliefert werden.
Asien auf dem Pan-Marsch
Pandit Nehru erließ eine Einladung
Im Namen der indischen Regierung hat Pandit Nehru zu einem All-Asiatischen Kongreß eingeladen, der im Frühjahr In Delhi stattfinden soll. Das ist der erste Schritt zu einem weitreichenden Unternehmen, das auch in Europa größtes Interesse verdient. Letztes Ziel ist die Gründung der Pan-Asiatischen Liga. Sie würde einen Block von 1200 Millionen Menschen zusammenbringen.

Natürlich könnte man die Frage aufwerfen, ob der Chef der neuen indischen Regierung nicht im eigenen Lande genügend Aufgaben und Schwierigkeiten vorfindet, bevor er sich mit einem so gigantischen Projekt einläßt. Der Kampf mit den Moslems um ihren selbständigen Pakistan-Staat ist noch keineswegs ausgestanden. Die neue Verfassung Indiens muß, auf Grund des britischen Vorschlages vom 16. Mai, erst noch geschaffen werden. Wirtschaftlich und sozial stehen die 360 Millionen Inder zwischen zwei Zeitaltern: das alte Feudalsystem ist zusammengebrochen, eine moderne Ordnung hat an seine Stelle zu treten. Das allein ist eine Riesenaufgabe.
Gegenwärtig beläuft sich das Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung auf ganze fünf Pfund Sterling (gegen 173 in England und noch hundert Pfund mehr in USA). Das durchschnittliche Lebensalter liegt unter 27 Jahren (in England und Amerika über 62) und die Kindersterblichkeit bei 162 auf tausend Geburten (58 und 54 in England und den Vereinigten Staaten).
Das alles sind sprechende Hinweise darauf, daß Ministerpräsident Nehru im eigenen großen Hause alle Hände voll Arbeit hat. Aber es ist eine Eigentümlichkeit unserer Zeit, daß kein Problem mehr als »Ding an sich« betrachtet werden kann. Jedes hat das Bestreben nach räumlicher Ausweitung.
Eingeladen sind zwölf unabhängige Staaten und achtzehn andere Regierungen oder repräsentative Körperschaften der verschiedenen Kolonialgebiete, Mandate und Protektorate. Darunter befinden sich sechzehn islamische Staaten und repräsentative Körperschaften, einschließlich des Hohen Rates der Palästina-Araber. Aber auch die Palästina-Juden hat Nehru nicht vergessen. Unter den übrigen Eingeladenen werden die Viet-Nam-Regierung von Indochina, die Republikanische Regierung von Indonesien, ferner Korea, die malaiischen Staaten und vor allem natürlich China genannt. Japan versteht sich von selbst.
Diese Angaben zeigen, daß Nehru sich nicht auf den Fernen Osten beschränkt, sondern mit den arabischen Staaten auch den Mittleren Osten einbezieht und diese beiden großen räumlichen Begriffe zu der Einheit Asien verbindet. (Nur die asiatischen Sowjetrepubliken Rußlands stellen offensichtlich ein großes Fragezeichen dar, die man wegen ihrer besonderen anderweitigen Bindung offensichtlich außerhalb der Koalition lassen will.)
Aus der räumlichen Spannweite wird die ganze Kühnheit des Unterfangens klar. Unterrichtete Beurteiler sehen den entscheidenden Faktor für den Erfolg oder Nichterfolg in der Frage, wie weit die arabischen Staaten zu einer Zusammenarbeit bereit sein werden. Dafür wieder wird es von ausschlaggebender Bedeutung sein, welche Haltung Jinnah einnimmt, der Führer der indischen Moslem-Liga und große Gegenspieler Pandit Nehrus daheim. Vielleicht sucht er für seine Unterstützung Zugeständnisse Nehrus hinsichtlich seines Lieblingsprojektes, des mohammedanischen Pakistan-Staates, einzuhandeln.
Es wurde aber bereits berichtet, daß er bei seinem kürzlichen Besuch in Kairo, wo er auf dem Englandfluge Station machte, die Frage der Pen-Asiatischen Konferenz eifrig besprochen habe, und zwar vor allem mit dem einflußreichen Mufti von Jerusalem, dem König Fuad in Aegypten Asyl gewährt. Die nichtislamischen Völker befinden sich weitaus in der Ueberzahl (Chinesen, Hindus und Japaner stellen allein mindestens die Hälfte der 1200 Millionen). Tatsächlich liegt die Gesamtzahl aller Anhänger des Propheten unter 300 Millionen, und davon müssen noch die Afrikaner abgezogen werden.
Natürlich wird Nehru bis zur endgültigen Verwirklichung eine Unsumme von Rivalitäten und sonstigen Bedenken zu überwinden haben. Zu den sehr tiefgehenden religiösen Gegensätzen kommen auch in Asien wie überall auf unserer Erde rassische und politische Feindschaften: da sollen die Vertreter der Kuomintang-Regierung mit den chinesischen Kommunisten zusammensitzen, die Malaien mit den Chinesen, die Araber mit den Juden.
Aber im ganzen werden die Vorteile einer solchen gewaltigen Liga den Völkern Asiens einleuchten. Sie befinden sich gegenwärtig alle mehr oder minder im Aufstieg zu Selbständigkeit und Vereinheitlichung. Das alte Asien ist aus seinem Schlummer erwacht und marschiert mit Riesenschritten in die moderne Zivilisation hinein.
Diese Entwicklung wird von den »weißen« Staaten politisch zwangsläufig zugestanden. Wirtschaftlich und technisch aber wird sie von ihnen sogar bewußt gefördert, weil diese ausgedehnten, teilweise unerschlossenen und menschenreichen Gebiete als Rohstoffquellen und Absatzmärkte gebraucht werden. Die gleichlaufenden imperialistischen Bestrebungen Japans sind zwar fehlgeschlagen, aber Japan suchte doch immerhin bereits einen geschlossenen Wirtschaftsblock aus Asien oder dem Fernen Osten zu machen, der fast 700 Millionen Menschen umfassen sollte.
Politisch bietet die Vertretung in den Vereinten Nationen einen sehr -lockenden Anreiz zum Zusammenschluß. Ein Teil der asiatischen Staaten gehört der UNO bereits an. Mit dem Fortschreiten der Selbständigwerdung der übrigen wird die Zahl der asiatischen Mitglieder sich weiter vermehren. Ein gemeinsames Votum, gemeinsame Anträge, eine doch wenigstens in den großen Linien übereinstimmende Politik - damit könnten überaus tiefgreifende Verschiebungen auf der Erde erreicht werden.
Einwendungen gegen das asiatische Mammutprojekt können von europäischer oder überhaupt abendländischer Seite kaum erhoben werden. Churchill propagiert ja soeben - in Konsequenz seiner Züricher Rede - für uns erneut ähnliche Vorschläge. »Die 200 oder 300 Millionen Menschen in Europa brauchen nur eines Morgens aufzuwachen und sich zu entschließen, glücklich und frei dadurch zu sein, daß sie eine Völkerfamilie würden.«
Was Europa recht ist, muß für Asien billig sein. Man braucht nicht gleich jenes gruselige Gespenst zu sehen, das manche Politiker schon früher als »Gelbe Gefahr« an die europäischen Wände malten.

»Aethiopien – für eine Nacht ...«
Die Geliebte des Duce vor Gericht
In einigen Wochen soll vor dem Gericht in Bordeaux die Verhandlung gegen Madeleine Coraboeuf stattfinden. Die Anklage lautet auf Landesverrat Madeleine Coraboeuf oder Magda Fontange, wie sie sich nannte, ist eine interessante Frau, und sie ist schön. Vor einigen Jahren erregte sie großes Aufsehen in Paris. Sie schoß auf den damaligen französischen Botschafter, den Grafen de Chambrun, als er aus dem Romexpreß stieg. Aber die Schüsse verfehlten ihr Ziel.
Die Oeffentlichkeit vermutete eine Eifersuchtsszene, einen Gesellschaftsskandal. Die Dame wurde verhaftet und nach kurzer Voruntersuchung wieder auf freien Fuß gesetzt Madeleine Coraboeuf ging nach Hause und nahm eine ganze Packung Veronal. Doch auch der Selbstmordversuch mißglückte. Sie wurde bewußtlos aufgefunden, in ein Krankenhaus gebracht und dort ins Leben zurückgerufen.
Wer ist Madeleine Coraboeuf, und warum wollte sie nicht mehr leben? Zwischen ihren Papieren hatte man Briefe und Photographien mit Unterschriften und Widmungen von Mussolini gefunden.
»Für eine Nacht mit Dir, würde ich Aethiopien geben, mein Liebling«, hatte der Duce in einer solchen Widmung versichert.
Madeleine Coraboeuf hatte die Bekanntschaft Mussolinis gesucht. Im April 1936 war sie nach Rom gefahren. Im vornehmsten Hotel, dem »Ambassadore« war sie mit zahlreichen Koffern abgestiegen und hatte sich als Journalistin ins Gästebuch eingetragen. In Wirklichkeit hatte sie nicht das geringste mit diesem Beruf zu tun. Aber sie war eine ausgesprochene Schönheit.
Durch Vermittlung des damaligen Propagandaministers Dino Alfieri erreichte sie ein Interview mit dem Duce. Er empfing sie im Palazzo Venezia. Im Verlauf des Interviews erreichte sie noch manches andere.
Mussolini gestand ihr, daß er eine Schwäche für Frauen ihres Typs habe. Sie sah ihr Spiel gewonnen. In ihrer Antwort gab sie zu verstehen, daß sie in einem intimeren Rahmen mit ihm zusammenkommen möchte als in dem pompösen Arbeitsraum des Regierungspalastes.
Der Wunsch wurde ihr gern gewährt. Nach kurzer Bekanntschaft mit Madeleine schickte der Duce seine damalige Favoritin Clara Petacci, (die später mit ihm zusammen gefangen und erschossen wurde) aufs Land. In dieser Zeit war er häufig auch bei öffentlichen Anlässen mit der Pariserin zusammen.
Die italienische Geheimpolizei war mit dem Verhältnis des Staatsoberhauptes zu Madeleine Coraboeuf nicht einverstanden. Sie erbrachte oder verfertigte Unterlagen, daß sie Spionin sei, und daß sie in Frankreich im Stavisky-Skandal eine gewisse Rolle gespielt habe. Durch Alfieri erfuhr Mussolini davon. Er ließ ihr daraufhin 15 000 Lire Reisegeld und ihr Ausreisevisum bringen.
Die Coraboeuf war erbost. Wütend fuhr sie nach Frankreich zurück und schwor, sich zu rächen. Sie nahm an, daß der französische Botschafter an ihrem Mißgeschick schuld sei. So kam es zu den aufregenden Revolverschüssen auf dem Pariser Bahnhof.

»Der am Ende Erfolgreiche«
Viet-Nam macht Frankreich Sorgen
Die Matrosen dreier französischer Flugzeugträger und zweier Kreuzer mußten ihren Weihnachtsurlaub abbrechen und nach Toulon auf ihre Schiffe zurückkehren.
Die Franzosen wollen ein Indochina-Geschwader zusammenstellen, das in die Kämpfe mit den Viet-Nam-Truppen eingreifen soll, gemeinsam mit einem größeren Truppenkontingent, das sich auf dem 43 500-Tonner »Ile de France« in Toulon einschifft.
»Wir werden die Ordnung in Indochina wieder herstellen«, sagte General Leclerc, der mit einem »Sonderauftrag« nach Saigon geschickt wurde. Er steht vor seiner Abreise in die Kampfgebiete im Nordosten Chinas, nach Viet-Nam.
Die Unruhen haben ihre Ursache in der unklaren Stellung des Teilstaates Viet-Nam. Im November 1940 versuchte Dr. Ho Chi Minh ("der das Licht bringt") einen Aufstand und rief für das Gebiet von Tonking und Annam den selbständigen Staat Viet-Nam aus, zu dessen Präsidenten er sich machte. Er war in Moskau propagandistisch ausgebildet worden, und es werden ihm kommunistische Tendenzen nachgesagt.
Die Kriegsläufte brachten die Japaner ins Land, denen Dr. Ho Chi Minh wegen seiner Moskauer Beziehungen nicht geheuer war und die ihm darum einen anamitischen Prinzen entgegenstellten, der schon 1905 durch Unabhängigkeitsbestrebungen von sich reden gemacht hatte. Mit den Japanern verschwand auch der Prinz, und Dr. Ho Chi Minh proklamierte am 9. März 1945 noch einmal die Unabhängigkeit Viet-Nams und nannte sich jetzt stolz Ngnyen Tat Than ("der am Ende Erfolgreiche"). Diesmal klappte es besser.
Der bisherige Kaiser von Annam verzichtete auf seinen Thron und bekannte sich zu Dr. Ho Chi Minhs neuem Staat. »Ich ziehe es vor, einfacher Bürger eines freien Landes zu sein, als gesalbter Herrscher eines unfreien«, sagte Seine Majestät. Die Franzosen aber glaubten, ihn und seine Frau bewegen zu können sich von Viet -Nam loszusagen.
Die Exkaiserin, die wie ihr Gatte in Paris erzogen war, wurde überredet, einige französische Offiziere zu empfangen. Diese Offiziere sollten versuchen, eine provisorische annamitische Regierung zu bilden. Die Franzosen wurden beim Tee der Kaiserin vorgestellt. Bevor sie aber die Möglichkeit hatten, ihre Vorschläge zu unterbreiten, setzte sich die Kaiserin ans Klavier, und spielte die Nationalhymne von Viet-Nam. Die Annamiten standen alle auf und sangen die Hymne mit, und die französischen Offiziere mußten gezwungenermaßen auch Haltung annehmen. Anschließend flüsterte die Kaiserin den Franzosen zu, daß sie damit bereits die Antwort auf die beabsichtigten Vorschläge gegeben habe und es unnötig sei, sie noch zu machen.
Die frisch gewonnene Unabhängigkeit wurde zunächst einmal mit einem Massaker unter den französischen Beamten und ihren Familien gefeiert.
Dr. Ho Chi Minh sah aber bald ein, daß er sich irgendwo anlehnen mußte, und begann nunmehr seine Sympathie für Frankreich bei jeder passenden Gelegenheit zum Ausdruck zu bringen. Die Franzosen machten gute Miene zum bösen Spiel und erkannten seine Regierung an. 1945 reiste Dr. Ho Chi Minh nach Paris und verhandelte in Fontainebleau. Es kam aber zu keiner Einigung über die Frage, wie Viet-Nam neben den anderen Bundesstaaten - Kambodscha, Laos und Cochinchina - der indonesischen Union eingegliedert werden soll.
Die Zuständigkeiten zwischen der Viet-Nam-Regierung und den französischen Indochina-Behörden sind bisher nicht genau abgegrenzt worden. Die Kämpfe entbrannten daher um die Frage, ob Cochinchina - das sich inzwischen unter Protest von Viet-Nam eine von Frankreich anerkannte Regierung gab - in Viet-Nam eingegliedert werden soll. Ein weiterer Streitpunkt ist, daß die Franzosen den Chinesen die freie Benutzung des Hafens von Haiphong versprochen haben; die Viet-Nam-Regierung will aber Zölle und Gebühren erheben.
In Haiphong wurde dann am 20. November zum ersten Male geschossen. Als ein französisches Motorboot eine chinesische Dschunke kontrollieren wollte, beschossen Viet-Nam-Truppen das Boot. Französische Landverbände griffen ein, und es entwickelten sich heftige Gefechte auf den Kais und in den Straßen. Viet-Nam-Artillerie beschoß den Hafen und den französischen Kreuzer »Suffren«.
Die Kämpfe griffen um sich, und die französische Presse spricht von einem regelrechten Kolonialkrieg. Die 89 000 französischen Soldaten, die augenblicklich in Indochina stationiert sind, stehen in hartnäckigen Kämpfen mit irregulären und regulären Viet-Nam-Truppen.
Der französische Kolonialminister, der Sozialist Marius Moutet, hat sich an Ort und Stelle begeben. »Von einem freien Uebereinkommen mit der Viet-Nam-Regierung kann jetzt nicht mehr die Rede sein«, sagte er in Saigon, »nach den vorgekommenen Ausschreitungen ist das nicht mehr möglich.«
Admiral Thierry d'Argenlieu, der Hohe Kommissar für Indochina, sagte, seine Regierung sei fest entschlossen, »die mit Viet-Nam abgeschlossenen Verträge durchzusetzen«. Man wolle Viet-Nam Autonomie geben, aber nicht ohne Bedingungen.
Dr. Ho Chi Minh ist mit der Regierung aus seiner Hauptstadt Hanoi nach Padong, 13 km südwestlicher, übergesiedelt. In einigen Fällen ist er von den bisherigen Vorgängen abgerückt und hat dafür Extremisten verantwortlich gemacht. Die Franzosen behaupten, auf seiner Seite sollten auch Japaner kämpfen.
Leon Blums Regierung hat ihre Haltung Viet-Nam gegenüber versteift. Sie will nicht eher wieder mit Dr. Ho Chi Minh sprechen, ehe die Ordnung wiederhergestellt ist. Die französischen Kommunisten jedoch sind dagegen. Sie wollen, daß sofort Verhandlungen mit Viet-Nam aufgenommen werden.

Ihre Freundschaft hieß – Tod
Marguerite, eine gefährliche Frau
Baronin Marguerite d'Andurain wurde unter Polizeibewachung von Nizza nach Paris gebracht. Die 51jährige Heldin gefährlicher Abenteuer im Mittleren Osten ist immer noch eine faszinierende Erscheinung. Sie steht unter der Anklage, ihren Neffen Raymond Clerisse vergiftet zu haben.
Man führte die dämonische Französin durch unterirdische Gänge in den Pariser Gerichtssaal, um sie vor Pressephotographen zu verstecken - sie trug einen eleganten Morgenrock.
1945 starb Monsieur Clerisse in Nizza. Nun vermuten Pariser Zeitungen bereits, man werde die »tolle Baronin« unter dem Verdacht von mehr als 20 Morden anklagen können.
Mathieu von Rohr, Ressortleiter Ausland (2022)
Als Siebzehnjährige heiratete Marguerite den reichen Baron d'Andurain. Er hatte eine große Leidenschaft für den Orient und ging mit seiner Gattin nach Palmyra, einer Oase in der syrischen Wüste. Dort gaukelte die Abenteuerlust ihr einen Besuch der mohammedanischen Pilgerstätte Mekka vor. Aber als Christin und Frau war es ihr unmöglich, diesen Wunschtraum zu verwirklichen.
Doch die erfinderische Frau War um einen Ausweg nicht verlegen. Sie ließ sich von ihrem Gatten scheiden, ging zum Islam über und heiratete einen wohlhabenden Araberscheich. Dann reiste sie, als Mann verkleidet, mit ihrem neuen Ehemann nach dem Ziel ihrer Sehnsucht - Mekka.
Nach mohammedanischer Sitte tat der Scheich seine weiße Gemahlin in seinen Harem in Jeddah. Das war nichts für die freiheitsliebende Marguerite, und eines Tages brach sie aus ihrem Haremsgefängnis aus.
Damals kostete es höchste diplomatische Einmischung - selbst König Ibn Saud wurde bemüht -, um zu verhindern, daß sie nach arabischem Gesetz durch Steinigung getötet wurde. Bald darauf starb der Scheich an Gift. Marguerite kehrte zu ihrem ersten Mann nach Palmyra zurück. Dann starb auch Baron d'Andurain an einer Vergiftung und bald darauf einer seiner Diener.