Mikhail Zygar

Oppositionelle verlassen Russland Sie wissen, dass sie verflucht werden

Mikhail Zygar
Ein Essay von Mikhail Zygar
Russland erlebt den unsichtbarsten Exodus der Geschichte – eine Massenflucht von Journalisten, Künstlern und Programmierern: Sie stehen in einer langen Tradition von Intellektuellen, die vor dem Staat fliehen mussten.
Abzeichen auf dem Flohmarkt der georgischen Hauptstadt Tiflis

Abzeichen auf dem Flohmarkt der georgischen Hauptstadt Tiflis

Foto: Orhan Karsli / Anadolu / Getty Images

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Wie viele Flüchtlinge Russland in den letzten zwei Wochen verlassen haben, ist nicht bekannt, aber es besteht kein Zweifel: Wir sprechen von Hunderttausenden Menschen. Es ist der wohl unsichtbarste Exodus der Geschichte. Während die ganze Welt mit Entsetzen den Krieg in der Ukraine verfolgt, setzt eine Massenflucht von russischen Journalisten, Künstlern, Wissenschaftlern, Schauspielern und Programmierern ein.

Nach ungefähren Schätzungen der georgischen Behörden kamen nach Kriegsbeginn etwa 20.000 bis 25.000 russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nach Tiflis.

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Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

Mikhail Zygar, geboren 1981, ist ein russischer Journalist und Autor. Von 2010 bis 2015 war er Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd. 2015 veröffentlichte er den Bestseller »Endspiel – die Metamorphosen des Wladimir Putin«. Er veröffentlichte zahlreiche weitere Bücher und startete »1917. Freie Geschichte«, ein Onlineprojekt über die Russische Revolution. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine initiierte er eine Onlinepetition gegen den Krieg, kurz darauf reiste er aus. Zygar befindet sich derzeit in Berlin.

Tiflis war schon immer eine beliebte Stadt unter Russen: leckeres Essen, guter Wein und gastfreundliche Menschen. Auf einmal gibt es aber zu viele Russen: Der Zustrom von Einwanderern macht immer mehr Menschen im Land Sorgen. Einige Einwohner von Tiflis sammeln bereits Unterschriften für eine Petition zur Einführung einer Visumpflicht für russische Staatsbürger.

Brücke über den Fluss Kura in Tiflis, Georgien

Brücke über den Fluss Kura in Tiflis, Georgien

Foto: Mint Images / imago/Mint Images

Und die Behörden verhalten sich widersprüchlich: Einerseits hat Georgien einen offiziellen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt, andererseits wurden vergangene Woche mindestens zwei berühmte russische Journalisten, die gegen den Krieg in der Ukraine protestierten und Putin seit Langem kritisieren, bei ihrem Versuch abgewiesen, in das Land einzureisen. Ausgerechnet in Georgien befinden sich jetzt die meisten russischen Emigranten der jüngsten Welle, und viele von ihnen verstehen, dass dies bei Weitem nicht der sicherste Ort für sie ist.

Die Abreise der russischen Mittelschicht aus Russland, die am Sonntag, dem 27. Februar, begann, hat zunehmend panische Züge angenommen. An jenem Tag schlossen die meisten europäischen Länder ihren Luftraum für russische Flugzeuge. Viele Russen dachten, dass nun die Grenzen auf allen Seiten abgeriegelt würden und es keinen Ausweg mehr gäbe.

Deshalb stiegen letzte Woche die Preise für Tickets von Moskau nach Istanbul, Dubai, Eriwan, Baku, Bischkek und sogar Ulan Bator fast um das Zehnfache. Russlands Intellektuelle zerstreuten sich in alle Richtungen und nahmen die bizarrsten Umwege in Kauf. Tatsache ist, dass die Angst vor geschlossenen Grenzen eine der hartnäckigsten Phobien aller früheren Bewohner der ehemaligen Sowjetunion ist.

In den vergangenen 20 Jahren, während Putins Präsidentschaft, als sich die Lage um die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit immer weiter verschlechterte, definierten viele Russen für sich eine rote Linie, ab der sie zur Auswanderung bereit wären: wenn die Grenzen geschlossen werden sollten. Dahinter liegt ein historisches Trauma, das die russische Gesellschaft bis heute noch nicht überwunden hat. Es ist schon mehr als hundert Jahre her. Im Oktober 1917 führten die Bolschewiki einen Putsch durch und stürzten die liberale Übergangsregierung. Und wenige Monate später schlossen sie die Grenzen, verboten Reisen ins Ausland und erst recht die Ausfuhr von Geld und Wertgegenständen. Der russische Adel, Dichter des Silbernen Zeitalters, herausragende Avantgardekünstler, Tänzer des russischen Balletts, Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten mussten nach Fluchtwegen suchen und ihr gesamtes Eigentum zurücklassen.

Typisch für diese Zeit ist die Geschichte von der legendären Dichterin Sinaida Gippius und ihrem Mann, den für den Literaturnobelpreis mehrfach nominierten Schriftsteller Dmitrij Mereschkowski, die es 1919 dank ihren Beziehungen zu besonders einflussreichen Dritten auf eine wundersame Art und Weise schafften, eine Anstellung als Feldlehrkräfte zu bekommen, mit der eigentlichen Aufgabe, die Vorlesungen zur russischen Kunstgeschichte für Soldaten der Roten Armee zu halten.

So konnten sie damals aus Petrograd (heute: St. Petersburg) ausreisen, trotz des strengen Passsystems, das die Bolschewiki für das Betreten und Verlassen der Stadt eingeführt hatten. An der Front angekommen, flohen sie und überquerten zu Fuß die Grenze auf dem Eis des Finnischen Meerbusens. Sie brauchten lange, um von Finnland bis nach Paris zu gelangen, wo sie eine Wohnung besaßen. Sie öffneten sie mit ihren Schlüsseln und ließen sich sicher im Exil nieder. Sie waren eher eine Ausnahme – alle anderen hatten bei der Flucht die gleichen Schwierigkeiten, aber nicht alle hatten eine Immobilie in Paris.

Hunderttausende von Menschen verließen in jenen Jahren Russland, darunter Menschen, die im Ausland zu Stars wurden und einen enormen Beitrag zur Weltkultur und -wissenschaft leisteten: Nabokov, Rachmaninow, Strawinsky, Djiaghilew, Ayn Rand, Bunin, Chagall, Kandinsky, Sikorski. Und es gab ihre Freunde und Kollegen, die verzweifelt auszureisen versuchten – aber vergeblich, man ließ sie nicht gehen.

Der russische Dichter Alexander Blok

Der russische Dichter Alexander Blok

Foto: Heritage Images / Heritage Images/Getty Images

Der große russische Dichter Alexander Blok, schwer krank, bat darum, zur Behandlung ins Ausland entlassen zu werden – aber die Sowjetregierung erteilte spöttisch ein Ausreisevisum nur für ihn und keins für seine Frau. Der große russische Schriftsteller, Autor des Romans »Der Meister und Margarita«, Michail Bulgakow, versuchte mehrere Jahrzehnte lang auszureisen und schrieb viele Briefe an Stalin, in denen er an ihn appellierte, wenn man ihn seine Stücke nicht in Russland aufführen lasse, dann solle man ihn zumindest ins Ausland schicken. Doch auf alle seine Bitten erhielt er eine Absage.

Erschreckenderweise gibt es in der gesamten russischen Kulturgeschichte ähnliche Episoden staatlicher Schikanen gegenüber den Intellektuellen. Russlands Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler wollten zu allen Zeiten frei sein, sich in einem globalen Umfeld bewegen, mit ihresgleichen kommunizieren, und die Behörden versuchten, sie bis zur Erstickung zu kontrollieren. Deshalb ist die gesamte heutige russische Intelligenz mit Horrorgeschichten darüber aufgewachsen, wie die Diktatur die Klügsten

vernichtet – selbst, wenn sie sie nicht unterdrückt, erwürgt sie sie in ihren Armen.

Ethnische Russen aus Sukhumi in Abchasien am Schwarzen Meer

Ethnische Russen aus Sukhumi in Abchasien am Schwarzen Meer

Foto: Robert Nickelsberg / Getty Images

In der sowjetischen Geschichte gibt es zwei unterschiedliche Haltungen zur Frage der Emigration. Einerseits verließen sehr viele Menschen das Land. Andererseits gibt es jene, die aus Prinzip blieben und ihre Verachtung für Auswanderer zum Ausdruck brachten. Symbolisch für diese Stilrichtung ist das Werk der großen Dichterin Anna Achmatowa. 1922 schrieb sie das Gedicht »Ich bin nicht bei denen, die die Erde verlassen haben«, das Kinder in russischen Schulen noch immer auswendig lernen. Achmatowa selbst wurde ein tragisches Schicksal zuteil. Bereits 1921 wurde ihr erster Ehemann, der Dichter Nikolai Gumiljow, erschossen. 1935 wurde ihr Sohn Leo verhaftet, und Anna verbrachte die folgenden Jahre im Kresty-Gefängnis in Leningrad, wo sie ihr berühmtestes Gedicht »Requiem« schrieb. Ihr letzter Ehemann, Nikolaj Punin, starb 1953 in einem Lager.

Dichterin Anna Achmatowa und Schriftsteller Nikolai Gumiljow

Dichterin Anna Achmatowa und Schriftsteller Nikolai Gumiljow

Foto: Itar-Tass / picture alliance / ITAR-TASS

Das »Requiem«-Gedicht enthält Zeilen, die Achmatowa am Ende ihres Lebens verfasste und die in Russland oft zitiert werden als Beleg dafür, dass Auswanderung eine absolute moralische Unmöglichkeit sei: »Ich war damals bei meinem Volk, dort, wo mein Volk zu seinem Unglück war«, schrieb Achmatowa fünf Jahre vor ihrem Tod.

Diese Zeilen wurden in den letzten Jahren oft von Gegnern von Präsident Putin zitiert – von jenen, die es vorzogen zu kämpfen, statt ihr Land zu verlassen. Sie stehen symbolhaft für das ehrenvolle und heldenhafte Schicksal jener, die in ihrer Heimat bleiben, und dabei Folter und Unterdrückung aushalten (obwohl das Schicksal von Anna Achmatowa selbst die schreckliche Geschichte einer unglücklichen, gequälten einsamen Frau ist).

Die Diskussion über die Frage »Ist es Zeit oder ist es noch nicht die Zeit, um abzuhauen« war in den letzten 20 Jahren das beliebteste Thema des gesellschaftlichen Small Talks in Moskau. Einige, die Achmatowa nachahmten, sagten, zu gehen wäre inakzeptabel. Nur eine Minderheit glaubte, dass die Tendenzen so beängstigend seien, dass die Auswanderung die einzig mögliche moralische Wahl sei.

Vor acht Jahren, während der Besetzung der Krim, wurden zwei der beliebtesten Medien Russlands attackiert: Der Fernsehsender Doschd (dessen Chefredakteur ich damals war) und die Onlinezeitung Lenta.ru. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Doschd beschlossen zu bleiben: Der Fernsehsender verlor, nachdem die Anbieter ihn aus dem Programm entfernt hatten, den größten Teil seiner Zuschauer, begann aber mit der Ausstrahlung im Internet und behielt seine Unabhängigkeit. Die Mitarbeiter von Lenta.ru beschlossen, Russland gemeinsam zu verlassen, und gründeten das neue unabhängige Medium Meduza in Lettland.

Ende 2021 wurden Meduza und Doschd fast gleichzeitig zu »ausländischen Agenten« erklärt. Und letzte Woche erhielten sie den Todesstoß: Das russische Parlament verabschiedete ein Gesetz, welches jede wahrheitsgemäße Information über den Krieg mit Landesverrat gleichsetzt – jetzt drohen allen Journalisten bis zu 15 Jahre Gefängnis für ihre Arbeit. Der TV-Sender Doschd wurde geschlossen, die meisten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter flogen hastig nach Istanbul oder Eriwan. Meduza wurde für die russische Medienlandschaft gesperrt. Letzte Woche haben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Doschd zusammen mit Journalisten anderer unabhängiger Medien sowie Wissenschaftler, Schauspieler und Lehrer Russland verlassen.

Seltsamerweise ist der Grund dafür nicht nur die Angst um die eigene Sicherheit. Nicht nur die Angst vor geschlossenen Grenzen, die sie seit vielen Jahren in ihren Fesseln hält. Nach dem Angriff auf die Ukraine bekamen viele das Gefühl, dass sie nicht in Russland bleiben können. In einem Russland, das zu einem Aggressorstaat geworden war. Sie konnten nicht zulassen, dass in ihrem Namen Krieg geführt wird. Viele von ihnen nahmen in den ersten Kriegstagen an Antikriegsdemonstrationen teil, die brutal niedergeschlagen wurden. Sie verglichen Putin mit Hitler und sagten, dass sie nicht in einem Land bleiben können, das einen Krieg entfesselt hat.

Als sie gehen, wissen sie bereits, dass sie nun überall verflucht werden. Dass sie im Ausland als »Putins Leute« begrüßt würden und keineswegs als jene, die 20 Jahre lang verzweifelt, wenn auch erfolglos, gegen ihn gekämpft haben.

Und doch geht der Strom der Auswanderer ununterbrochen weiter. Und die Machthaber im Kreml scheinen sich darüber nur zu freuen: Die Emigranten dürfen ihr Geld nicht mitnehmen, Abgeordnete schlagen bereits vor, den Ausgewanderten die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen und ihr Eigentum zu verstaatlichen. Ja, und Putin ist natürlich viel besser dran, wenn seine Kritiker das Land verlassen. Lenin nannte die Intellektuellen »Scheiße der Nation« und tat alles, damit sie abreisten oder auf andere Weise verschwanden. Putin hat diese »Scheiße« nun nicht weniger effektiv beseitigt.

Höchstwahrscheinlich werden die Russen bald zu einer der größten geteilten Nationen der Welt. Ein Teil, die Siegreichen, werden in Russland leben, umgeben von einer Mauer. Die anderen, die Verlierer, werden draußen bleiben, auf der anderen Seite der Mauer.

Und sie werden darauf warten, dass die Mauer eines Tages fällt.

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