OSZE ohne Führung Chaos bei den Friedenswächtern

OSZE-Beobachter im Einsatz in der Ukraine
Foto: SERGEY VAGANOV/ EPA-EFE/ REXIm Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan kam es jüngst zu Grenzgefechten mit Toten und Verletzten. Der Krieg in der Ostukraine geht trotz wiederholter Bemühungen, eine dauerhafte Waffenruhe zu erreichen, weiter. In der Coronakrise fahren Regierungen die Medienfreiheit zurück.
Drei Herausforderungen für Frieden und Demokratie; drei Aufgaben, mit denen die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) befasst ist. Hervorgegangen aus der noch im Kalten Krieg gegründeten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, ist sie das einzige sicherheitspolitische Forum, in dem alle europäischen Länder, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die USA und Kanada vertreten sind. Sie ist Dialogplattform und Hüterin rechtsstaatlicher und demokratischer Standards.
Vor dem Hintergrund einer zunehmend von Misstrauen und nationalen Alleingängen geprägten geopolitischen Lage scheint es besonders ungünstig, dass die Organisation ausgerechnet jetzt eine Krise durchlebt, die manche Beobachter für die schwerste seit ihrem Bestehen halten.

Thomas Greminger: "Krise des Multilateralismus"
Foto: Anadolu Agency/ Getty Images"Die Polarisierung ist noch intensiver geworden"
Seit wenigen Tagen steht die OSZE ohne Führungspersonal da:
Der bisherige Generalsekretär, der Schweizer Diplomat Thomas Greminger, hat sein Amt verloren.
Gleiches gilt für den Franzosen Harlem Désir, bis vor Kurzem noch Beauftragter für Medienfreiheit,
und die Isländerin Ingibjörg Sólrún Gísladóttir. Sie leitete ODIHR, das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte, das Wahlbeobachter entsendet.
Auch der Italiener Lamberto Zannier, bisher Hoher Kommissar für Nationale Minderheiten, ist seinen Posten los.
"Die Polarisierung, die schon seit Jahren die OSZE prägt, ist zuletzt noch intensiver geworden", sagt Greminger dem SPIEGEL. Der Diplomat sieht die Führungskrise in der Organisation als Symptom größerer geopolitischer Spannungen - auch wenn sie ihre unmittelbare Ursache im mangelnden politischen Engagement der großen Mitgliedstaaten gehabt habe.

Tagung des OSZE-Ministerrats 2016 in Hamburg: "polarisierte Dynamik"
Foto: Bodo Marks/ dpaAm Anfang der Kausalkette, die zum Vakuum an der OSZE-Spitze führte, stehen die Personalie Désir und eine diplomatische Note, die Mitte Juni am derzeit von Albanien gehaltenen Ratsvorsitz einging:
Absender war das aserbaidschanische Außenministerium.
Es protestierte gegen eine angeblich "exzessive Kritik" des Franzosen an der Lage der Medien im Land.
Gemeinsam mit Tadschikistan blockierte Aserbaidschan die – sonst übliche – Verlängerung des Mandats von Désir, dem französischen Diplomaten.
Tadschikistan und die Türkei verhinderten zudem eine Verlängerung der Amtszeit von Gísladóttir an der Spitze des Wahlbeobachterbüros ODIHR.
Die Blockade dieser beiden Personalien hatte auch für die anderen Posten Folgen: Frankreich, Island, Kanada und Norwegen wollten nur einem Gesamtpaket mit allen vier Amtsträgern zustimmen und verweigerten die Wiederwahl von Greminger und Zannier.
Er könne die Haltung zwar nachvollziehen, wonach entweder alle Mandatsträger oder keiner verlängert werden sollten, sagt Greminger. Dann aber hätten sich Staaten wie Frankreich politisch engagieren sollen, statt passiv zu bleiben, etwa indem sie auf Aserbaidschan einwirkten.
"Dass dieses Engagement ausgeblieben ist, ist eigentlich meine größte Enttäuschung", sagt der Schweizer. Unter den größeren Staaten sei allein Deutschland zu Schritten bereit gewesen, die über die diplomatische Routine hinausgegangen wären.
"Krise des Multilateralismus"
Die diplomatischen Turbulenzen, die im aktuellen Führungsvakuum der OSZE mündeten, fügen sich in ein Gesamtbild von der Organisation, das schon seit Längerem durch schier unüberbrückbare Differenzen und mangelnden Willen zur Zusammenarbeit gekennzeichnet ist. Spannungen zwischen Moskau und Washington wirken sich auch auf die Arbeit und Atmosphäre in der OSZE aus. Spätestens seit Russlands Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine ist diese von fehlendem Vertrauen und gegenseitigen Vorwürfen geprägt.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) versteht sich als größte regionale Sicherheitsorganisation weltweit. Ihr gehören insgesamt 57 Staaten aus Europa, Nordamerika und Asien an.
"Die sehr polarisierte Dynamik in der OSZE schlägt sich nieder in den wöchentlichen Sitzungen des Ständigen Rates bezüglich der Ukraine, aber längst nicht nur dort", sagt Greminger. Als weitere Spannungsfelder nennt der Schweizer Spitzendiplomat, der als einer der Architekten der Beobachtermission in der Ukraine gilt, sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen im politisch-militärischen Bereich und die Frage nach hybriden Bedrohungen, etwa durch Desinformation.
Insgesamt sieht Greminger auch die OSZE von einer "Krise des Multilateralismus" betroffen, die die Geopolitik insgesamt präge und von der es wenige Ausnahmen gebe, darunter die jüngst erfolgte Einigung der EU-Staaten auf ein Finanzpaket zur Bewältigung der Coronakrise.
Showdown im Dezember
Beim OSZE-Ministerrat im Dezember dieses Jahres in Tirana sollen die vier vakanten Plätze an der Spitze der Organisation besetzt werden. Dass es dazu kommt, ist alles andere als sicher. In der OSZE gilt das Konsensprinzip: Jedes der 57 Mitgliedsländer kann eine Neubesetzung der Posten verhindern.
Schon die Ernennung der jüngst abgesägten Führungsmannschaft kam 2017 nur nach großen Mühen auf Vermittlung des damaligen österreichischen Außenministers und heutigen Bundeskanzlers, Sebastian kurz, zustande. Bis auf Weiteres führt der albanische Ratsvorsitz die laufenden Geschäfte.
Greminger hält sich eine erneute Kandidatur für den Posten des Generalsekretärs offen; Ende August will er voraussichtlich darüber entscheiden. Ob sich die Krise der OSZE weiter zuspitzt, wird aus seiner Sicht entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, zum Ministertreffen eine Lösung zu finden. Die Lage sei ernst genug, um die Aufmerksamkeit der politischen Führungen zu verdienen.