Gesundheitskrise in Pakistan Die Stadt der HIV-infizierten Kinder

In einer Stadt in Pakistan sind Hunderte Kinder mit HIV infiziert. Schuld dürften wiederverwendete Spritzen und schlechte Hygiene in Praxen sein. Der Ausbruch zeigt, wie sehr Covid-19 andere Gesundheitskrisen verdrängt.
Eman 2020 mit gut drei Jahren. Vater Nazeer Shah sagt, es geht seiner Tochter gut, seit sie die Medikamente bekommt

Eman 2020 mit gut drei Jahren. Vater Nazeer Shah sagt, es geht seiner Tochter gut, seit sie die Medikamente bekommt

Foto: Nazeer Shah
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Er wusste ja, dass seine Tochter krank ist. Es war seit Wochen nicht zu übersehen gewesen: der Gewichtsverlust, das flache Atmen, das Fieber, wie blass sie war und wie erschöpft. Irgendwann wog das Mädchen, zwölf Monate alt, nur noch knapp fünf Kilogramm. Aber als der Arzt in der Klinik dann sagte, er wolle bei der Tochter einen Test auf das humane Immundefizienz-Virus machen, schrie der Vater:

»Was sagen Sie da? Meine kleine Tochter – mit HIV infiziert? Soll das ein Witz sein?«

Nazeer Shah, 42 Jahre, Vater von zwei Kindern, lebt in Ratodero, einer Stadt im Nordwesten Pakistans. Er erzählt am Telefon von dem Moment vor gut zwei Jahren, als der Verdacht zum ersten Mal ausgesprochen wurde, der sich schließlich bestätigte: Seine Tochter Eman, heute drei Jahre alt, ist mit HIV infiziert.

Die kleine Eman 2019 kurz nach der HIV-Diagnose im Uniklinikum in Karachi

Die kleine Eman 2019 kurz nach der HIV-Diagnose im Uniklinikum in Karachi

Foto:

Nazeer Shah

Er erzählt von der quälenden Suche danach, wie das Virus seinen Weg in den Körper seiner Tochter gefunden haben könnte. Von der Suche nach einer guten Behandlung. Und wie er schließlich erfuhr, dass nicht nur seine Tochter, sondern Hunderte Kinder in der pakistanischen Stadt mit HIV infiziert sind. Sein Zuhause, Ratodero, ist jetzt bekannt als die Stadt der HIV-infizierten Kinder.

Die Daten seiner Suche haben sich in Shahs Gedächtnis eingebrannt, er zählt sie auf:

19. Februar 2019: Bluttest auf HIV im lokalen Labor. Ergebnis: »schwach positiv«. Shah sagt: »Ich dachte, vielleicht ist das alles doch ein Irrtum.«

22. Februar 2019: Weiterer Test auf HIV durch das Aga Khan Universitätsklinikum in Karachi, erneut positiv. Shah sagt: »Die Ärzte sagten mir: Machen Sie sich keine Sorgen, wir können Ihre Tochter gut behandeln. Aber ich zitterte, weinte, bekam gar nichts mehr mit.«

3. März 2019: Beginn der Behandlung mit dem Namen »antiretrovirale Therapie«; die kleine Eman bekommt erste Medikamente, die das Virus in ihrem Körper unterdrücken sollen.

Mehrfach verwendete Spritzen und Kanülen in Kinderarztpraxen

Laut einem Unicef-Report  infizierten sich im Jahr 2019 weltweit etwa 460.000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 24 Jahren mit dem HI-Virus. Die meisten davon südlich der Sahara auf dem afrikanischen Kontinent, gefolgt von Asien und Lateinamerika. Insgesamt leben mehr als drei Millionen Mädchen und Jungen mit dem Virus. Bei Kindern überträgt sich HIV oft durch eine sogenannte vertikale Transmission: von einer HIV-positiven Mutter auf das Baby, in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder beim Stillen. Manche Kinder stecken sich an, wenn sie unsaubere Blutkonserven bekommen.

Bei der HIV-Krise von Ratodero, der die »New York Times« eine große Recherche  widmete, war es anders: Es hatten sich Kinder angesteckt, bei denen weder Vater noch Mutter das HI-Virus in sich trugen. Sie hatten meist auch keine Bluttransfusionen bekommen. Wie vom Himmel gefallen, sagt Nazeer Shah. Wie kam das Virus in die Körper der Kinder?

Nachdem bei Eman Shah und auffallend vielen anderen Kindern HIV festgestellt worden war, begannen im Jahr 2019 Wissenschaftler um die Kinderärztin Fatima Mir von der Aga Khan Universität Karachi mit einem groß angelegten Screening in der Region. Mir, die sich seit Jahrzehnten mit Infektionskrankheiten bei Jugendlichen beschäftigt, sagt am Telefon: »Bei diesen Tests fanden wir überproportional viele Infektionen bei Kindern. Insgesamt etwa 1100 Fälle. Und das, obwohl nur ein Teil der Leute in der Stadt am Screening teilnahm. Die wahre Zahl der Betroffenen dürfte weit höher sein.«

»Meine Tochter wird nur ein Leben haben, solange sie diese Medikamente hat. Wie Luft zum Atmen.«

Nazeer Shah, Vater der HIV-positiven Eman in Ratodero

Die Infektionsquelle fand Mir letztlich vor allem in Kinderpraxen rund um die Stadt, wo Nadeln, Spritzen und Infusionen wiederverwendet, und Kinder unter unhygienischen Zuständen behandelt werden. Ratodero in der Provinz Sindh ist eine ländliche, arme Gegend. Es hatte dort schon vorher Ausbrüche gegeben, unter Sexarbeiterinnen, Drogenabhängigen, zuletzt in einem Zentrum für Dialyse-Patienten. Kinder waren bisher offiziell nicht betroffen.

Viele Kinder und Schwangere in Ratodero, sagt Mir, sind mangelernährt, Babys wachsen in Armut auf. Die ärztliche Versorgung ist schlecht. »Die Symptome, die Kinder bei einer HIV-Infektion zeigen, sind denen von Mangelernährung nicht unähnlich«, sagt die Kinderärztin. Durchfall, erhöhte Temperatur, Abgeschlagenheit, Hautkrankheiten. »Viele Kinder in Ratodero haben solche Dinge. Deshalb sind die HIV-Infektionen erst recht nicht aufgefallen.«

Pakistan hat eine der weltweit höchsten Raten an Spritzen und Injektionen

Pakistan, wo die HIV-Neuinfektionen im Gegensatz  zum Trend in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern zuletzt stiegen, hat eine der höchsten Raten an Injektionen weltweit. Laut der Rechercheplattform »Research Gate « werden viele dieser Spritzen unnötig verabreicht. Oft werden die Utensilien mehrfach verwendet, schlecht gereinigt. Kinderärztin Mir sagt, viele Patientinnen und Patienten glauben, eine Spritze verspreche mehr Heilung als eine oral eingenommene Tablette.

So auch bei dem Kinderarzt, der die kleine Eman Shah behandelt hatte und über den Nazeer Shah sagt: »Alle haben ihre Kinder zu ihm gebracht.« Die Kliniken sind schlecht ausgerüstet. Und häufig müssen Patientinnen und Patienten Utensilien selbst vorab kaufen und dem Arzt zur Behandlung mitbringen. Der Handel mit billigerem, schon benutztem Material ist groß. Eine optimale Bedingung für das HI-Virus, um sich weiterzuverbreiten.

2019 fielen in der pakistanischen Stadt Ratodero bei mehr als tausend Kindern HIV-Infektionen auf. Hier stehen Mütter mit Kindern für einen Bluttest am Krankenhaus an

2019 fielen in der pakistanischen Stadt Ratodero bei mehr als tausend Kindern HIV-Infektionen auf. Hier stehen Mütter mit Kindern für einen Bluttest am Krankenhaus an

Foto:

RIZWAN TABASSUM / AFP

Und dann ist da noch die Entsorgung. Kinderärztin Fatima Mir sagt, wenn Spritzen, Kanülen und andere medizinische Instrumente, die mit Körperflüssigkeiten von Patienten in Berührung gekommen sind, entsorgt werden, bringe man sie selten in den dafür vorgesehenen sicheren Spezialmüll. Oft landen die Kanülen auf dem Müllberg hinterm Haus. Dort, wo Kinder toben – und sich an den Spritzen oder Klingen schneiden. Oder sich damit vielleicht aus Spielfreude in den Oberarm piksen.

Nach dem HIV-Ausbruch 2019 baute Mir mit Kolleginnen und Kollegen sowie Unterstützung von Unicef und WHO nahe Ratodero ein HIV-Klinikum für Kinder auf; sie unterrichtete lokales Personal und Ärzte darin, die Kinder richtig zu behandeln. Sie suchte nach der Infektionsquelle. Sie beantwortete die Fragen der Eltern. Die »Reaktions-Phase«, sagt Mir.

»Covid-19 hat uns komplett ausgebremst.«

Kinderärztin und Infektiologin Fatima Mir

Dann sollte 2020 die Phase der Vorbeugung kommen. »Doch Covid-19 hat uns allen Schwung genommen«, sagt Mir. Pakistan, mit seinem katastrophalen Gesundheitssystem, springe schon immer von einem Brandherd zum nächsten, sagt sie. 2020 sei der Brandherd die Coronakrise gewesen. Alle Ressourcen, Ärzte, Material, Zeit seien in die Bekämpfung von Covid-19 geflossen. Für die HIV-Krise, in der das Land weiter stecke, sei keine Aufmerksamkeit mehr übrig gewesen. Genauso wenig für das nationale Tuberkulose-Programm.

Corona dreht Fortschritte in globaler Gesundheit zurück

Bis vor der Coronakrise bekam die Welt die drei großen globalen Infektionskrankheiten – Aids, Tuberkulose und Malaria – zunehmend besser in den Griff. Zwei Drittel der 38 Millionen HIV-Patienten haben inzwischen Zugang zu Medikamenten. Ihre Lebenserwartung ist gestiegen.

Nun warnt etwa UNAIDS, die Pandemie habe die Bekämpfung von Aids enorm zurückgeworfen . Der Zugang zu medizinischer Versorgung wurde in vielen Weltregionen unterbrochen oder erschwert, Menschen können sich Behandlungen oder den Weg zur Ärztin nicht mehr leisten. Medizinisches Personal wurde und wird vor allem zur Bekämpfung des Coronavirus abgestellt. Laut dem »Global Fund « sind 41 Prozent weniger Menschen auf HIV getestet worden als in den Jahren davor. Das bedeutet: Mehr Menschen als sonst könnten infiziert sein – ohne es zu wissen.

Mir konnte zwar noch per Zoom Kontakt zu Patientinnen und Ärzten halten. Sie sorgt sich aber, dass die Kinder durch die fehlende Aufklärung in der Stadt stigmatisiert, vom Unterricht ausgeschlossen, gemobbt werden. Dass Mädchen und Jungen in Ratodero durchs Raster gefallen sind, denen man dringend helfen müsste. Dass, wenn die Coronapandemie einmal abflacht, erst zu sehen sein wird, welche Not entstanden ist in anderen Gesundheitsbereichen. Gerade in einem Land wie Pakistan, wo sich die Coronakrise noch viel länger ziehen wird als in Europa, weil Impfstoff akut fehlt. Wo das Gesundheitssystem keinem Virus, weder HIV noch Covid-19, etwas entgegenzusetzen hat.

Nazeer Shah, Vater der kleinen Eman, sagt, die HIV-Medikamente seien in Pakistan kostenlos, viele könnten sich eine gute Behandlung dennoch nicht leisten. Er müsse seine Tochter alle drei Monate nach Karachi fahren, knapp 500 Kilometer weit, sechs Stunden mit dem Auto. Dort werde seine Tochter durchgecheckt, und sie erhalte ein Medikamenten-Paket fürs nächste Vierteljahr. Sie bleibt meistens ein paar Tage dort im Krankenhaus, an dem Fatima Mir arbeitet. Ein Privatkrankenhaus, die bislang größte Rechnung schickt er als Foto per WhatsApp. 564.366 Rupien, 6300 Euro. In Pakistan liegt das Durchschnittsgehalt pro Familie bei etwa 200 Euro, in Ratodero niedriger.

Aber Shah sagt: »Meine Tochter wird nur ein Leben haben, solange sie diese Medikamente hat. Wie Luft zum Atmen.« Emans nächster Untersuchungstermin in der Klinik ist, auch das weiß Shah aus dem Kopf, am 9. Juli.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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