Pestizide in der Landwirtschaft »Meine Augen brennen, mir ist schwindelig und schlecht«

Die EU verbietet den Einsatz von besonders giftigen Pestiziden, trotzdem dürfen europäische Chemiekonzerne diese exportieren. Bauernfamilien und ihre Kinder in Indien spüren die Folgen.
Von Rohini Mohan, Katharina Wecker und Samyukta Lakshmi (Fotos)
Die 13-jährige Mythali aus Tamil Nadu in Indien hilft vor der Schule ihrem Vater auf dem Feld beim Blumenpflücken

Die 13-jährige Mythali aus Tamil Nadu in Indien hilft vor der Schule ihrem Vater auf dem Feld beim Blumenpflücken

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL
Globale Gesellschaft

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Am Tag vor dem Erntefest denkt die 14-jährige Sabita Krishnan schon beim Aufwachen an Blumen. Sie stupst ihren Vater Krishnan Isaac an, der neben ihr auf dem Boden in ihrem Zweizimmerhaus schläft, und geht dann in die Küche zu ihrer Mutter, die bereits wach ist.

Sie trinken schnell eine Tasse Tee und machen sich an die Arbeit. Je früher die Familie auf ihren Blumenfeldern die Jasminknospen pflückt, desto früher kann der Vater sie auf dem Markt im nächsten Ort verkaufen. Kurz vor dem Erntefest sind die Blumen am meisten wert.

Myhtali, Sriram und Sabita pflücken Jasmin

Myhtali, Sriram und Sabita pflücken Jasmin

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Dutzende Familien sind an diesem Morgen bereits auf den Feldern in Thalavedu, einem Dorf im südindischen Staat Tamil Nadu. Sie laufen vornübergebeugt, ihre Augen und Finger scannen die Sträucher nach Knospen, die kurz vor dem Blühen sind. Sabita winkt ihren Freunden und Klassenkameradinnen zu, die ebenfalls Blumen pflücken.

Der Staat Tamil Nadu ist der größte Blumenproduzent Indiens. Die Jasminblüten, die Sabita und ihre Familie anbauen, werden für Girlanden und Dekorationen für Feste und Andachtsstätten verwendet. Und viele Frauen tragen Jasmin in ihren geflochtenen Haaren, wenn sie sich schick machen.

»Jasmin ist wie Gold für uns. Es zahlt die Schule meiner Kinder, es ernährt meine Familie. Wenn wir es anbauen könnten, ohne unsere Gesundheit dafür zu riskieren, wäre das ideal«, sagt Rose Govindasamy.

»Jasmin ist wie Gold für uns. Es zahlt die Schule meiner Kinder, es ernährt meine Familie. Wenn wir es anbauen könnten, ohne unsere Gesundheit dafür zu riskieren, wäre das ideal«, sagt Rose Govindasamy.

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Wie jedes Kind in ihrem Dorf arbeitet Sabita, seit sie sechs oder sieben Jahre alt ist, auf den Feldern ihrer Familie. In Indien dürfen unter 14-Jährige vor und nach der Schule legal ihren Eltern bei der Arbeit helfen, wenn sie zu Hause stattfindet. Fast 70 Prozent der weltweiten Kinderarbeit ist unbezahlte Familienarbeit. Sabita pflückt morgens vor dem Unterricht für ein paar Stunden Blumen. Sie macht es gern, sagt sie. Außer an den Tagen, wenn Pestizide versprüht werden.

»Meine Augen brennen von den Dämpfen, mir ist schwindelig und schlecht, und ich bin sehr müde. Meine Finger brennen sogar noch, nachdem ich sie gewaschen habe«, sagt Sabita. An einigen Tagen fühle sie sich so krank, dass sie nicht zur Schule gehen könne. Ihre Nachbarn, der 13-jährige Bharat Ravi und der elfjährige Narendran Gangadharan, erzählen, dass sie manchmal am ganzen Körper Ausschlag kriegen würden, nachdem sie auf den frisch gespritzten Feldern gearbeitet hätten.

Ein Bauer versprüht Pestizide in Tamil Nadu – ohne jeglichen Schutz. Laut NGOs sorgen häufig Armut, Analphabetismus und tropisches Klima dafür, dass Bauern keine Schutzanzüge tragen. Fast alle Pestizidvergiftungen treten daher in Entwicklungsländern auf.

Ein Bauer versprüht Pestizide in Tamil Nadu – ohne jeglichen Schutz. Laut NGOs sorgen häufig Armut, Analphabetismus und tropisches Klima dafür, dass Bauern keine Schutzanzüge tragen. Fast alle Pestizidvergiftungen treten daher in Entwicklungsländern auf.

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Am Abend vor der wichtigsten Ernte des Jahres hat Sabitas Vater die Felder mit einem Fungizid gegen den rostfarbenen Mehltau besprüht und mit Insektiziden, die die Jasminblüten vor Ungeziefer schützen. Vor allem der Arabische Jasmin, die beliebteste und lukrativste Gattung, ist mit ihren runden Blüten anfällig für Insekten. »Ohne Pestizide können wir keinen Jasmin anbauen. Die Blumen müssen perfekt sein, sonst kaufen die Händler sie nicht«, sagt Gangadharan K, ein Nachbar von Sabitas Familie. Mehr als 80 Prozent seiner Kosten entfallen auf Pestizide, berichtet er.

Unter den Pestiziden, die die Menschen in Sabitas Dorf verwenden, sind auch Produkte von europäischen Agrarchemiekonzernen, die in Europa aus Umwelt- und Gesundheitsgründen längst nicht mehr zugelassen sind.

Die Landwirte versprühen laut eigenen Angaben unter anderem die in der EU verbotenen Mittel Antracol, Jump und Sunrice vom deutschen Chemiekonzern Bayer sowie Pegasus und Alika vom Schweizer Konzern Syngenta. Verkäufer in den Pestizidgeschäften bestätigen das.

Die Bauern sagen, Syngentas Alika sei das »effektivste« Insektizid. »Aber nachdem ich es verwende, fühlt es sich an, als würde die Haut am ganzen Körper in Flammen stehen«, erzählt der Landwirt Rose Govindasamy, der nach der Lieblingsblume seines Vaters benannt ist. In der Region pflanzen die Familien seit Generationen Blumen an.

Eine Untersuchung des internationalen Pestizid Aktions-Netzwerks (PAN) fand in den Blumendörfern auch Syngentas Mittel Gramoxone mit dem hochtoxischen Wirkstoff Paraquat. Paraquat ist so giftig, dass bereits ein Schluck davon tödlich sein kann. Es ist in der EU seit 2007 verboten, in der Schweiz sogar schon seit 1989. Hochgiftige Pestizide können das Risiko für Krankheiten wie Krebs und Parkinson erhöhen, das Erbgut verändern und werden für den weltweiten Rückgang an Artenvielfalt mitverantwortlich gemacht.

Dass die akuten Vergiftungssymptome, von denen die Bauernfamilien erzählen, auf die Produkte von Bayer und Syngenta zurückzuführen sind, lässt sich nicht direkt nachweisen. Den meisten Familien ist ein Arztbesuch zu teuer, medizinische Berichte gibt es nicht. Doch viele Menschen in der Region berichten von solchen Schädigungen. Sie haben sich an das Jucken gewöhnt und schmieren sich mit Kokosnussöl zur Linderung ein.

Dieser Laden in Arakkonam im indischen Bundesstaat Tamil Nadu verkauft Pestizide, die in Europa verboten sind

Dieser Laden in Arakkonam im indischen Bundesstaat Tamil Nadu verkauft Pestizide, die in Europa verboten sind

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Konfrontiert mit den Berichten aus Tamil Nadu, will Bayer vor Ort für Aufklärung sorgen. Die Zustände seien nicht mit den Werten und Bemühungen von Bayer für einen sicheren Umgang mit seinen Produkten vereinbar, so ein Unternehmenssprecher. Eine Sprecherin von Syngenta sagt, sie hätte keine Anhaltspunkte über gesundheitliche Nebenwirkungen im Zusammenhang mit einer sachgemäßen Anwendung.

Sowohl Bayer als auch Syngenta sehen kein moralisches Dilemma darin, dass sie Produkte, die in Europa nicht zugelassen sind, in Indien und anderen Ländern vertreiben. Jede Region hätte andere landwirtschaftliche Bedürfnisse, und so lange ein Wirkstoff in mindestens einem OECD-Land zugelassen sei, würden die Pestizide exportiert, so ein Sprecher von Bayer.

In Entwicklungsländern würde das Unternehmen nur noch Pflanzenschutzprodukte vermarkten, »die den regulatorischen Anforderungen einer Mehrheit relevanter internationaler Zulassungsbehörden entsprechen«. Und: »Wenn wir es für sinnvoll halten, nehmen wir Produkte freiwillig vom Markt.«

Das Herbizid Sunrise steht im indischen Arakkonam im Regal, in Europa ist es verboten

Das Herbizid Sunrise steht im indischen Arakkonam im Regal, in Europa ist es verboten

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Der Export von in der EU nicht zugelassenen Pestiziden ist gängige Praxis. Insgesamt haben hiesige Chemiekonzerne 2018 mehr als 81.000 Tonnen von in der EU verbotenen Pestiziden exportiert, belegt eine Studie von Greenpeace UKs Rechercheeinheit Unearthed und der Schweizer Organisation Public Eye. Ein Großteil der giftigen Exporte geht neben Indien in die Ukraine, nach Brasilien, Japan und Russland.

Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Exporte. »Wenn Pestizide keine Genehmigung in der EU erhalten, dann oft aus gewichtigen Gründen, die ein Risiko oder eine Gefährdung für Mensch und Umwelt aufzeigen«, sagt Jan Priegnitz, Chemikalienexperte beim Umweltbundesamt. Die Gründe seien durchaus auf andere Kontinente übertragbar. Doch: »Beim Export hochgefährlicher Pestizide spielt der zuvor angelegte wissenschaftliche Bewertungsmaßstab plötzlich keine Rolle mehr«, so Priegnitz.

Marcos Orellana, Uno-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und toxische Substanzen, formuliert es drastischer. Menschen werden für »Profit vergiftet«, sagt er. Orellana und seine Amtsvorgänger fordern seit Jahren internationale Regeln, die den Verkauf gefährlicher Pestizide weltweit einschränken.

»Nach zwei Stunden schwoll alles an«: Sabita und ihr Vater Krishnan Isaac mit dem Gerät, mit dem die Pestizide versprüht werden

»Nach zwei Stunden schwoll alles an«: Sabita und ihr Vater Krishnan Isaac mit dem Gerät, mit dem die Pestizide versprüht werden

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Tatsächlich tut sich langsam etwas. Die Schweiz verbietet seit diesem Jahr den Export von fünf der gefährlichsten Pestizide. In Frankreich soll ein Exportverbot von in der EU nicht zugelassenen Pestiziden ab 2022 gelten. Die deutsche Bundesregierung sieht dagegen offenbar bislang keinen Handlungsbedarf. Die jetzige Regelung unter dem Rotterdamer Abkommen, wonach Drittländer dem Import giftiger Substanzen vorher ausdrücklich zustimmen müssen, sei ausreichend, so eine Sprecherin des Bundesministeriums für Landwirtschaft.

Etwa zwei Drittel des weltweit jährlich knapp 60 Milliarden Dollar schweren Pestizidmarktes kontrollieren laut einer Studie von Unearthed und Public Eye die fünf großen Chemiekonzerne Syngenta, Bayer, BASF, Corteva und FMC. Uno-Sonderberichterstatter Orellana sieht deswegen die EU, wo drei der fünf Agrarriesen ihren Sitz haben, in der Verantwortung, strengere Gesetze zu erlassen.

Und nachdem die EU lange nichts von einem Exportverbot hören wollte, lenkt sie nun doch ein. Als Teil des Green Deal kündigte die Europäische Kommission im Oktober an, dass »in der EU verbotene gefährliche Stoffe auch nicht zur Ausfuhr hergestellt werden« sollen. Konkrete Gesetzesvorschläge gebe es allerdings noch nicht, so eine Sprecherin der EU.

Blumenverkauf in Tamil Nadu

Blumenverkauf in Tamil Nadu

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Doch selbst mit einem EU-Verbot wären die Bauernfamilien in Indien nicht automatisch geschützt. Denn Firmen könnten weiterhin ihre Pestizide außerhalb Europas produzieren und verkaufen. Sowohl Bayer als auch Syngenta haben Produktionsstätten in Indien. Deswegen sei Teil der EU-Strategie, Drittländer zu überzeugen, keine giftigen Pestizide mehr zu verwenden, so die EU-Sprecherin.

Croplife International, die Lobbyorganisation der Branche, sieht keinen Anlass für ein Exportverbot. Die Mitgliedsfirmen hätten bereits den Verkauf von »hochakut toxischen« Produkten eingestellt. Außerdem würden die Chemiekonzerne Landwirte im richtigen Umgang mit Pestiziden ausbilden und Schutzausrüstungen bereitstellen. Laut eigener Aussage hat Bayer in den vergangenen Jahren jährlich mehr als eine Million Landwirte »in der sicheren Verwendung von Pestiziden« geschult.

Doch nicht überall kommt dies auch an. Munisamy K, Bayer-Vertreter und Verkäufer in einem Pestizidgeschäft in Arakkonam, einer Stadt in der Nähe der Blumendörfer, nennt sich selbst Pflanzendoktor. Die Landwirte kommen mit verrotteten Knospen oder verwelkten Blättern zu ihm, und er verschreibe dann die passende »Medizin«.

Munisamy K, Bayer-Vertreter und Verkäufer in einem Pestizidgeschäft in Arakkonam, einer Stadt in der Nähe der Blumendörfer, sagt: »Ja, manche sind sehr stark, aber ich bestehe immer darauf, dass die Bauern Schutzkleidung tragen«

Munisamy K, Bayer-Vertreter und Verkäufer in einem Pestizidgeschäft in Arakkonam, einer Stadt in der Nähe der Blumendörfer, sagt: »Ja, manche sind sehr stark, aber ich bestehe immer darauf, dass die Bauern Schutzkleidung tragen«

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

»Wir verkaufen nur Pestizide, die von der Regierung zugelassen sind und haben den Verkauf von allen problematischen Mitteln beendet«, sagt Munisamy. »Ja, manche sind sehr stark, aber ich bestehe immer darauf, dass die Bauern Schutzkleidung tragen.«

Einige Pestizide werden mit Maske und Gummihandschuhen verkauft. Krishnan Isaac, Sabitas Vater, berichtet, er habe beim Versprühen des Pestizids Alika stets eine Maske getragen, aber die hätte nichts gebracht. Seine Haut sei trotzdem rot geworden, und »nach zwei Stunden schwoll alles an«.

Andere setzen keine Maske auf, weil es zu heiß sei. Nur Rose Govindasamy trägt beim Versprühen einen Rollerhelm und Handschuhe. »Es ist mir egal, ob andere Leute sich über mich lustig machen. Ich will für meine Kinder lange leben«, sagt der 38-Jährige.

Blumenladen in Arakkonam: Ohne die Pestizide könnten die Jasminblüten mit den perfekt gewachsenen Blüten ihrer Nachbarn auf dem Markt nicht mithalten, sagt Rose Govindasamy

Blumenladen in Arakkonam: Ohne die Pestizide könnten die Jasminblüten mit den perfekt gewachsenen Blüten ihrer Nachbarn auf dem Markt nicht mithalten, sagt Rose Govindasamy

Foto: Samyukta Lakshmi / DER SPIEGEL

Die indische Regierung hat 2016 beschlossen, eine Reihe von hochgiftigen Insektiziden zu verbieten; Familien sowie Menschenrechts- und Umweltgruppen hatten Druck auf die Regierung ausgeübt, nachdem sich vermehrt Landwirte mit Pestiziden das Leben genommen hatten. Doch der Gesetzentwurf wurde bis heute nicht verabschiedet. Kritiker machen die Industrielobby für die Verzögerung verantwortlich.

Die Bauernfamilien sehen derweil keine Möglichkeit, die Pestizide wegzulassen »Jasmin ist wie Gold für uns. Es zahlt die Schule meiner Kinder, es ernährt meine Familie. Wenn wir es anbauen könnten, ohne unsere Gesundheit dafür zu riskieren, wäre das ideal«, sagt Rose Govindasamy. Aber ohne die Pestizide könnten sie mit den perfekt gewachsenen Jasminblüten ihrer Nachbarn auf dem Markt nicht mithalten.

Solange das so bleibt, werden die juckenden Ausschläge, die pochenden Kopfschmerzen, die geröteten Augen und die Erschöpfung zum Alltag der 14-jährigen Sabita gehören.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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