Frauenrechtsaktivistin in Polen »Meine Trauer verwandelt sich schnell in Wut«

Tausende protestieren in Krakau gegen das Abtreibungsverbot
Foto: Benjamin Furst / imago images/Hans LucasDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Es hängt kein Schild an der Tür, aber manchmal finden sie sie trotzdem. Eines Morgens, als Kamila Ferenc das Büro erreichte, stand »Kindermörder« quer über den Eingang geschrieben. Ein andermal war das Schloss mit Gummi versiegelt. Als würde sie das hindern.
Als die Morddrohungen kamen, habe sie keine Angst gespürt, sagt Ferenc. Für Angst sei sie einfach zu müde, zu überarbeitet gewesen. Nur als sie in ihrem E-Mail-Postfach ein Bild ihres blutüberströmten Gesichts entdeckte, mit einem Einschussloch auf der Stirn, das habe sie gegruselt.
Kamila Ferenc, braune Haare, lila Wimperntusche und ernster Blick, ist 30 Jahre alt. Bei »Federa«, dem polnischen Bund für Frauen und Familienplanung, arbeitet sie als Juristin und stellvertretende Programmdirektorin. Sie berät Frauen, wie sie abtreiben können, obwohl die polnische Regierung das im vergangenen Jahr praktisch verboten hat. Als Juristin vertritt sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Frauen, die den Staat Polen verklagen.
Falls jemand verhaftet wird, übernimmt Kamila Ferenc den Rechtsbeistand
Es ist ein kalter und windiger Freitagmorgen, in Ferencs rechtem Ohr steckt ein Wattebausch. Wahrscheinlich eine Erkältung, aber in dieser Woche bleibt Ferenc keine Zeit für Krankheit. Im Minutentakt klingelt ihr Telefon, Journalisten, die ein Statement zum Jahrestag der Verfassungsgerichtsentscheidung haben wollen. Am Abend wird sie bei der Demonstration mitlaufen. Falls jemand verhaftet wird, übernimmt sie den Rechtsbeistand. Im vergangenen Jahr wurden viele Menschen verhaftet.
Abtreibungen waren im erzkatholischen Polen seit jeher kaum möglich. Doch am 22. Oktober 2020 erklärte das Verfassungsgericht in Warschau auch noch eine bis dahin geltende Ausnahmeregelung vom Abtreibungsverbot für verfassungswidrig. Wenn das ungeborene Kind schwere Fehlbildungen aufwies, durften Frauen in Polen abtreiben. Mehr als hundert Abgeordnete, überwiegend aus der rechtspopulistischen Regierungspartei PiS, hatten sich mit der Kritik am bestehenden Recht an das Verfassungsgericht gewandt.
Die Richter entschieden, dass die Ausnahmeregelung gegen das in der polnischen Verfassung garantierte Recht auf Leben verstößt.
Mehr als 8000 Anrufe und 5000 Mails erreichten die Organisation
In allen Teilen des Landes gingen Frauen und Männer damals tagelang auf die Straße, Massenproteste, wie die PiS sie vielleicht im liberalen Warschau erwartet hatte, aber nicht in konservativen Kleinstädten. Auch wenn die Zustimmung zur Regierung laut Umfragen nach dem Urteil einbrach, wurde das neue Gesetz Ende Januar 2021 in Kraft gesetzt.
Seitdem sind Abtreibungen nur noch nach Vergewaltigungen erlaubt, oder wenn Leben und Gesundheit der Mutter durch die Austragung ernsthaft bedroht sind.
Mehr als 8000 Anrufe und über 5000 Mails sind seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts bei Federa eingegangen. In dem dunklen Erdgeschossbüro im ehemaligen Warschauer Getto nehmen sieben Menschen sie entgegen.
Es meldeten sich: schwangere Frauen, die schlechte Testergebnisse erhalten hatten und bereits wussten, dass der Fötus schwere genetische Defekte hatte; Frauen, die eine Schwangerschaft planten, aber die das Urteil abhielt, Kinder zu bekommen; Frauen mit ungewollten Schwangerschaften; Frauen mit Panikattacken vor lauter Angst, schwanger zu werden. Die Anrufe kamen von alleinerziehenden Müttern, Frauen in missbräuchlichen Beziehungen; Ehemännern, deren Frauen vor ihren Augen zerfielen; Eltern, die sich vor der Vorstellung fürchteten, an das Bett eines sterbenden Kindes gekettet zu sein, während seine älteren Geschwister zu Hause bei der Großmutter warten. Frauen, die fürchten, dass Ärzte sie anlügen, dass der Fötus gesund sei. Frauen, die tatsächlich von Ärzten angelogen wurden.
Kamila Ferenc kennt viele dieser Geschichten.
»Wenn die Frauen am anderen Ende der Leitung weinen, nimmt mich das schon manchmal mit«, sagt Ferenc, »Aber meine Trauer verwandelt sich schnell in Wut, die ich nutzen kann«.
Offiziell haben im vergangenen Jahr etwa 300 Frauen in Polen abgetrieben. Viele mithilfe von Kamila Ferenc und ihren Kollegen. Es gibt noch weitere Gruppen, die Frauen bei Abtreibungen unterstützen. Sie heißen »Abtreibung ohne Grenzen« oder »Abortion Dreamteam«.
Federa berät Frauen, wie sie mit einer ungewollten Schwangerschaft umgehen können. Die Organisation hilft Frauen mit Kontakt zu Psychiatern, die ihnen gegebenenfalls eine Bedrohung der psychischen oder physischen Gesundheit attestieren. Sie verklagen auch Krankenhäuser, die sich trotz eines solchen Attests weigern, Abtreibungen durchzuführen. Das sind die meisten Krankenhäuser in Polen.

Demonstration am 22. Oktober in Warschau: Viele Menschen schwenkten LGBT-Flaggen – der Protest vermischt sich zunehmend
Foto: Aleksander Kalka / imago images/Aleksander KalkaWo sind die Demonstranten?
Um kurz vor 18 Uhr verlässt Kamila Ferenc das Büro in Richtung Innenstadt. Die Straßenkreuzung vor dem Warschauer Kulturpalast ist weiträumig abgesperrt, von allen Straßen blinken blaue Polizeisirenen. Nur: Die Menschen fehlen. In der Mitte der Kreuzung steht ein Planwagen, auf dem ein roter Blitz leuchtet – das Zeichen der Frauenbewegung. Um den Anhänger versammeln sich Menschen in Grüppchen, vor der Bühne hat sich eine kleine Menge gebildet.
»Vielleicht kommen ja während des Marschs noch mehr Leute hinzu«, sagt Ferenc. Sie gesellt sich zu einer Gruppe von Abgeordneten der Linken, die ebenfalls etwas ratlos in der Gegend stehen. »Letzte Woche gab es einen großen Protest für den Verbleib in der EU «, sagt einer der Abgeordneten. »Vielleicht war das erst mal genug Aktivismus für die Warschauer«. Dann dreht er sich weg, um ein Interview zu geben.

Demonstrantin am Freitag: »Abtreibungen legalisieren«
Foto: Aleksander Kalka / imago images/Aleksander KalkaIm Parlament ist die Linke der einzige verbliebene Partner der Abtreibungsbefürworter. Als Kamila Ferenc einen offenen Brief an alle Abgeordneten schrieb, erhielt sie keine einzige Antwort. »Den Linken mache ich keinen Vorwurf«, sagt sie, »Sie unterstützen uns und wir wissen, dass sie an unserer Seite stehen«. Das Problem seien vielmehr die Parteien, die zwar liberaler seien als PiS und trotzdem zu konservativ oder zu opportun, um sich im Kampf gegen das Abtreibungsgesetz zu engagieren.
Kamila Ferenc
Ferenc findet, die Abgeordneten müssten Abtreibungen nicht befürworten, um sich für deren Legalisierung einzusetzen. »Wenn du Verantwortung für die Gesellschaft übernimmst, dann kannst du nicht deine eigenen moralischen Vorstellungen als Maßstab für alle anderen ansetzen«, sagt sie. »Ob man abtreibt oder nicht ist keine abstrakte moralische Überlegung. Es ist eine Entscheidung, die Frauen treffen, die konkrete Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Familien hat«.
Nur weil Abtreibungen verboten seien, sei das Problem für die Betroffenen ja nicht gelöst. Man mache ihnen das Leben nur schwerer, indem man sie zwingt, im Ausland Hilfe zu suchen oder Pillen im Internet zu bestellen. Schätzungen zufolge haben im vergangenen Jahr mehr als 100.000 Polinnen abgetrieben. Die Entscheidung der Regierung hat nie dazu geführt, dass Frauen nicht mehr abtreiben. Sie machen es bloß heimlich.
Auf dem Wagen haben nun Frauen das Mikrofon ergriffen, die von ihren eigenen Abtreibungserfahrungen berichten. Das ist etwas, was sich geändert hat in Polen: Immer mehr Frauen trauen sich, offen mit ihren Schwangerschaftsabbrüchen umzugehen. Rechtliche Schritte drohen den Frauen wegen des eigenen Abbruchs nicht. Nur die gesellschaftliche Ächtung.
Der Demozug setzt sich in Bewegung. An der Spitze läuft Marta Lempart, das prominenteste Gesicht der Bewegung. In Polen ist sie nun eine Berühmtheit, das bedeutet auch: Sie kann ihr Haus nicht mehr ohne Personenschutz verlassen. Während sie die Straße entlangschreitet und ins Mikrofon spricht, läuft ein Kameramann rückwärts vor ihr her und filmt jedes ihrer Worte.
Vorbei an Louis-Vuitton- und Gucci-Läden zieht die Demo in Richtung Regierungsviertel. Kaum hundert Meter Menschen reihen sich hinter dem Wagen auf. Ein Mädchen mit einem roten Blitz unter dem Auge sitzt auf der Ladefläche und skandiert müde. Aus den Boxen schallt »I Will Survive« von Gloria Gaynor oder »I need a Hero« von Giada Monteleone, manche tanzen mehr als sie laufen. »Achtung, hier kommt der weibliche Teil der Bevölkerung«, schreit jemand ins Mikrofon oder »Fick die Regierung«. Eine Passantin im eleganten hellblauen Mantel versucht ärgerlich, sich den Weg durch die Menge auf die andere Straßenseite zu bahnen.
Während sie neben der Demonstration hertrottet, bleiben Kamila Ferencs Augen auf ihr Handy geheftet. Sie versucht einen Artikel auf Facebook zu teilen. Eigentlich hätte es eine Kollegin machen sollen, aber die ist nun schon im Wochenende. Ferenc ist als einzige von Federa bei der Demo erschienen. Es ist ihr wichtig, dort zu sein, und es ist ihr wichtig, dass der Artikel geteilt wird, also macht sie es selbst.

Kamila Ferenc kämpft als Juristin für die Rechte der polnischen Frauen
Foto: PrivatSolange PiS an Macht ist, wird sich die Lage der Frauen nicht bessern
Jemand drückt ihr einen Sticker in die Hand. Darauf wird für eine Unterschriftensammlung geworben, mit deren Hilfe ein Antrag auf Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen erreicht werden soll. »Den habe ich mitverfasst«, sagt Ferenc.
Ob sie daran glaubt, die Politik ändern zu können?
»Nicht, solange PiS an der Macht ist«, sagt Ferenc. Das Verfassungsgerichtsurteil kann von der Partei selbst gar nicht angefochten werden. Das muss eine andere Regierung machen, wenn sie beweisen kann, dass das Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung politisch beeinflusst war.
Ferenc fürchtet, dass es dazu gar nicht mehr kommen könnte. Dass die rechtspopulistische Partei es noch während ihrer Amtszeit schafft, den Staat so umzubauen, dass sie die Macht nicht mehr abgeben muss.
Trotzdem: Langfristig werde sich etwas ändern, hofft Ferenc. »Deshalb mache ich meinen Job.«
Wenige Hundert Meter, bevor die Demonstration ihr Ziel erreicht, entscheidet Ferenc, dass sie genug hat. Die Woche war lang, sie ist müde und der Bus, der sie nach Hause bringt, hält nicht weit von hier. »Wenn jemand verhaftet wird, erreicht er mich auch auf dem Sofa«, sagt sie.
Im Regierungsviertel stoppt die Demonstration. Marta Lempart ergreift wieder das Mikrofon. Einige Demonstranten setzen sich auf die Mauern vor den Ministerien. Eine Dreiergruppe lässt eine Chipstüte rumgehen. Für sie sei die Demo eine Enttäuschung gewesen, sagen sie. »Es war ja kaum jemand da und irgendwie war es mehr wie eine Party«, sagt eine junge Frau. Ihre Freundin ergänzt: »Letztes Jahr waren die Proteste riesig, aber geändert hat sich nichts. Vielleicht kommt deshalb keiner mehr«.
Warum sie hier seien? »Nicht kommen war irgendwie auch keine Option.«
Zehn Minuten vor dem offiziellen Ende der Veranstaltung ist die Straße fast schon leer. Demonstrierende stapfen durch Wind und Nieselregen nach Hause. In der nächsten Woche soll im Parlament ein neues Gesetz zur ersten Lesung vorgelegt werden. Damit sollen alle Abtreibungen endgültig verboten werden. Die nächste Wahl ist 2023.