Proteste in Polen »Die Regierung versucht, Sexualerziehung zu kriminalisieren«

Gabriela Cichowicz beobachtet mit Sorge, in welche Richtung sich Polen bewegt
Foto:Oliver Krüger

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Vier Frauen in Polen.
Gabriela hat eine Tochter, und für sie geht sie auf die Straßen Warschaus. Damit ihr Kind einmal selbst über seinen Körper bestimmen kann. Gabriela kann an ihrer Forderung nichts Verbrecherisches erkennen.
Łaja ist queer. Sie hat Todesangst, wenn sie in der polnischen Öffentlichkeit die Hand der Person hält, die sie liebt.
Iwonna erinnert sich, wie sie während des Kommunismus im Untergrund Bücher von George Orwell verteilte. Sie sagt, dass Polen auf dem Weg zurück in eine dunkle Zeit sei.
Anna sagt, dass das, was in ihrem Land geschieht, die ganze Welt angeht.
Gabriela, Łaja, Iwonna, Anna.
Vier Frauen in Polen, die alle finden, dass Freiheit etwas ist, wofür man kämpfen muss. Und dass diese Freiheit in ihrem Land noch nie so in Gefahr war wie jetzt. Wie sie zogen in den vergangenen Wochen Hunderttausende Polinnen und Polen durch die Straßen von Warschau oder Krakau. »Genug! Genug!« schrien sie, »mein Körper, meine Entscheidung.«

Demonstrierende im Zentrum von Warschau Ende Oktober
Foto:Oliver Krueger
Die Frauen protestieren gegen den Kurs des von der nationalkonservativen Regierung dominierten Verfassungsgerichts, das im Oktober die Verschärfung des Abtreibungsrechts verfügte. Schwangerschaftsabbrüche sind nun praktisch komplett verboten.
Demnach sind Abtreibungen nicht mehr erlaubt, auch wenn der Fötus schwer und unheilbar geschädigt ist. Noch mehr Frauen als jetzt werden künftig für einen Schwangerschaftsabbruch ins Ausland gehen müssen. Aktivistinnen im Land sprachen von einem »schwarzen Tag« für Polen. Als Antwort auf die Proteste spielt die Regierung auf Zeit.
Hier erzählen Gabriela, Iwonna, Anna und Łaja von ihrer Wut, ihrer Angst, und warum sie nicht nachgeben werden.
Gabriela Cichowicz, 35 Jahre, Demonstrantin und Mutter einer Tochter
»Meine Haltung ist simpel: Abtreibung ist ein Menschenrecht. Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Es ist mein Körper, also meine Entscheidung.
Es gibt diesen Satz, der es auf den Punkt bringt: Wenn du gegen Abtreibung bist, dann treib nicht ab. So einfach ist das. Dieser Satz gibt jeder Frau die Freiheit, nach ihren Werten zu entscheiden.

Auch am vergangenen Mittwoch gingen wieder Tausende Polinnen in Warschau auf die Straße
Foto:Attila Husejnow / imago images/ZUMA Wire
Ich habe eine Tochter. Sie ist zwei Jahre alt. Ich bin in Sorge. Sie wächst in einem Land auf, in dem so viel rückwärtsgewandt ist: Die Regierung versucht, Sexualerziehung zu kriminalisieren. Die Regierung will den Zugang zu Verhütungsmitteln einschränken. Das Abtreibungsrecht in Polen war schon bisher eins der striktesten in Europa, nun wurde es noch mal verschärft. Wo führt das hin?
Es bedrückt mich, dass meine Tochter in zehn Jahren vielleicht auch noch auf die Straße gehen muss für Rechte, die so selbstverständlich sein müssten.
Für mich ist es einfach, auf die Straße zu gehen. Mein Mann passt auf die Kleine auf, damit ich protestieren kann. Und es sind auch Männer auf den Straßen, die den Kurs der PiS-Partei satthaben, denen nicht gefällt, wohin unsere Gesellschaft abdriftet. Aber viele Männer sind auch gegen die Proteste. Denn sie fürchten, dass sie etwas von ihren Privilegien abgeben müssen.«
Iwonna Kowalska, 65 Jahre, von der Protestgruppe Polnische Großmütter (Polskie Babcie)

Iwonna Kowalska geht mit den polnischen Großmüttern auf die Straße
Foto: Oliver Krüger»Wir kämpfen für unsere Enkelkinder. Sie können nicht entscheiden, was gerade passiert, nicht eingreifen. Sie sind es aber, die künftig unter den Maßnahmen leiden, die jetzt beschlossen werden.
Wir älteren Frauen sind diejenigen, die sich an den Kommunismus erinnern, und wir haben Angst, dass Polen wieder in diese Richtung abbiegt. Wissen Sie, während des Kommunismus habe ich im Untergrund verbotene Bücher verteilt, zum Beispiel George Orwells ›Animal Farm‹. Und jetzt haben wir in Polen genau dies: eine Animal Farm. Eine unfreie, unterdrückte Gesellschaft mitten in Europa.

»So sieht die Demokratie aus« steht auf dem Plakat dieser Demonstrierenden in Warschau
Foto:Oliver Krüger
Wie konnte es so weit kommen? Nun, ich denke, nach dem Ende des Kommunismus haben wir uns in unserer Demokratie zu sicher gefühlt, haben uns nicht gekümmert. Aber für die Demokratie musst du kämpfen. Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, dass eine Regierung die polnische Verfassung wie ein lächerliches Blatt Papier behandeln würde.
Gerade unter den jungen Leuten galt es lange als modern zu sagen, man sei unpolitisch.
Anna Juniewicz, Organisatorin von Protesten in Warschau
Aber dann hat unser Präsident – ach was, er ist nicht mein Präsident – im Wahlkampf den Menschen der LGBTQ-Community das Recht abgesprochen, Menschen zu sein. Er sagte, diese Leute seien keine Menschen, sondern eine Ideologie.
Das war der Moment, an dem die junge Bevölkerung aufbegehrte.
Als die PiS-Partei dann die Pandemie nutzte, um abseits der Aufmerksamkeit dieses elendige Abtreibungsgesetz zu verschärfen, da sagten Frauen und Männer endgültig: ›Genug! Genug! Genug!‹ Seitdem sind hier so viele auf die Straßen gegangen, dass ich ganz überwältigt bin.
Es geht längst nicht mehr nur um das Thema Abtreibung, die Leute wollen Wandel, mehr Toleranz, die Entmachtung der katholischen Kirche, sie wollen eine andere Regierung.«
Łaja Szkło, 28 Jahre, schreibt Protestsongs
»Die Straße ist unsere Waffe. Und die Musik. Ich schreibe Songs für die Freiheit, für Menschenrechte. Über Schwesternschaft. Und spiele sie auf den Demos. Denn es ist Zeit für uns Unterdrückte, Frauen und LGBTQ+ aufzustehen.
Ich lebe in einem Land, in dem ein Bildungsminister sagen darf, dass LGBTQ+ keine normalen Menschen seien. In dem ein Bischof von einer ›Regenbogen-Plage‹ spricht.
Anna Juniewicz, Protestierende
Ich bin queer. Wie ich hatten schon so viele Todesangst, wenn sie die Hand von jemandem hielten, den sie lieben. Es kann immer sein, dass jemand dich zusammenschlägt. In so einem Land lebe ich. Doch meine Wut ist stärker als meine Angst.
Ich bin voller Wut. Aber ich glaube an Veränderung. Viele glauben daran, das sehen wir an den Menschenmassen, die jetzt protestieren. Sie protestieren, obwohl die Polizei oft brutal gegen sie vorgeht.«
Anna Juniewicz, 36 Jahre, organisiert Proteste in Warschau

Anna Juniewicz: »Was in Polen geschieht, geht die ganze Welt an«
Foto: Oliver Krüger»Viele Ärzte weigern sich, eine Abtreibung vorzunehmen, wenn dies ihrer ideologischen Überzeugung widerspricht. Genauso weigern sich viele, die Pille oder andere Verhütungsmittel zu verschreiben. Was wiederum dazu führt, dass mehr Frauen ungewollt schwanger werden.
Es gibt hier Abgeordnete, die sagen, die Freiheit einer Frau ende, sobald sie schwanger ist.
Wenn eine Schwangere in Polen abtreiben will, dann begibt sie sich oft in große Gefahr. Zwar gibt es Organisationen, die Hilfe suchenden Frauen Medikamente für den Abbruch zur Verfügung stellen. In manchen Fällen organisieren sie auch eine Abtreibung im Ausland. Und in den großen Städten findet man meist eine Apotheke oder einen Arzt, der hilft.
Aber es gibt trotzdem so viele Frauen, die keinen Zugang zu einer sicheren Abtreibung finden.

Viele Protestierende forderten den Abtritt der polnischen Regierung
Foto: Oliver KrügerGerade auf dem Land und in den Dörfern sind die Frauen verloren: Dort ist die katholische Kirche stark und die Menschen – und die Ärzte – konservativer. Oft gibt es auch nur einen Arzt oder einen Apotheker weit und breit. Die meisten von ihnen versuchen, die Frauen von einem Abbruch abzubringen.
Und: Jeder kennt jeden. Es gibt keine Geheimnisse. Das Stigma für Frauen auf dem Land, die abgetrieben haben, ist groß. Alle wissen davon. Die Frau ist gebrandmarkt für ihr Leben.
Viele Frauen versuchen deshalb, die Schwangerschaft selbst zu beenden, was sehr gefährlich ist. Oder sie geraten an Scharlatane oder Ärzte, die keine Routine in dem Eingriff haben.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.