Streit über Justizreform Polen will die EU austricksen

Die nationalkonservative Regierung weicht im Streit um die Rechtsstaatlichkeit Polens ihre Haltung kaum auf. Dass die EU Geldstrafen verhängt, wird immer wahrscheinlicher.
Protestplakat am Obersten Gericht in Warschau: Gewaltenteilung in Gefahr

Protestplakat am Obersten Gericht in Warschau: Gewaltenteilung in Gefahr

Foto: Natalie Skrzypczak/ DPA

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Nur Stunden bevor das Ultimatum ablief, hat Warschau reagiert. Erst am Montagabend habe er Nachricht bekommen, twittert EU-Kommissar Didier Reynders. Schon dieses Timing ist eine Botschaft: Widerwillig nur nimmt die nationalkonservative Regierung Stellung zu Urteilen und Anordnungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH).

Der hatte verfügt, Polen müsse die neu geschaffene Disziplinarkammer stilllegen. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt des Streits zwischen Brüssel und Warschau. Das Gremium kann Richter für Fehlurteile oder strafbare Handlungen belangen. Es sei aber – so urteilte der EuGH – viel zu wenig unabhängig von der Regierungsmehrheit im Parlament. Schon lange warnen Juristen, es werde genutzt, um unliebsame Richter zu drangsalieren und politisch nicht genehme Urteile aufzuheben. Die Disziplinarkammer gilt als Werkzeug der Regierung, um Richter einzuschüchtern.

Der genaue Wortlaut des Antwortbriefes aus Warschau ist nicht öffentlich bekannt. Was jedoch durchsickert, lässt nun kaum hoffen, dass der Missbrauch bald ein Ende hat. Die PiS-Regierung lenkt kaum ein. EU-Kommissar Reynders könnte nun Geldstrafen beim EuGH gegen Polen beantragen – eine Million Euro pro Tag könnten das etwa sein. Und das wäre nur ein erster Vorgeschmack. Brüssel könnte die Auszahlung von Coronahilfen weiter verzögern und auch anderes Geld mit dem Hinweis auf mangelnde Rechtsstaatlichkeit zurückhalten. Der immaterielle Schaden ist schon jetzt gewaltig: Polen hat sich unter den Nationalkonservativen außenpolitisch isoliert, liegt im Zank etwa mit Washington und Israel.

Kein konkretes Einlenken

In dem Schreiben von Montag legt die PiS-geführte Regierung dar, es sei vom Obersten Gericht Weisung ergangen, dass die Disziplinarkammer keine neuen Fälle mehr annehme. Die anhängigen Verfahren jedoch liefen weiter, Urteile seien rechtsgültig. Denn – so der schlitzohrige Hinweis – die Regierung könne die Arbeit der Kammer gar nicht aussetzen, das verstoße doch gegen das Prinzip der Unabhängigkeit der Justiz. Wolkig heißt es weiter, die Disziplinarkammer werde in ihrer jetzigen Form im weiteren Verlauf der Justizreform abgeschafft.

Verblüfft notierten Warschauer Medien, mit welcher Halsstarrigkeit die Regierung sich gegenüber dem wichtigsten Partner und Geldgeber des Landes, nämlich der EU, gebärdet. Offenbar scheint sie auf eine Verschleppungstaktik zu bauen: Mit winzigen Zugeständnissen und wenig konkreten Ankündigungen will sie wohl Sanktionen herauszögern. Dabei wäre ein echtes Einlenken möglich: PiS ist nicht wegen der Justizreform, sondern trotz der Reform an der Macht. Die Partei wird mehrheitlich nicht für ihren Umgang mit der Justiz gewählt, sondern für soziale Wohltaten wie das Kindergeld oder den großen Modernisierungsplan »Polski Ład«, den PiS ins Werk zu setzen verspricht. Die Justizreform ist schwer verständlich und wenig populär. Deshalb hätte, so schlägt es etwa ein Richter am Obersten Gericht vor, Warschau zum Beispiel eine Expertengruppe einberufen sollen, die die Disziplinarkammer von Grund auf neu designt und die europäischen Bedenken ausräumt.

Einsames Polen

Aber Nachgeben, das ist nicht der Stil von Parteichef Jarosław Kaczyński. In PiS zählt die heroische Geste – und je mächtiger der Gegner, desto besser. Mit dieser Sturheit haben die Nationaldemokraten Polen von einem anerkannten Player international zu einem Außenseiter gemacht. »Um uns wird es immer einsamer«, klagt etwa der ehemalige Präsident Aleksander Kwaśniewski.

Erst vergangene Woche boxten sie mit Geschäftsordnungstricks ein neues restriktives Rundfunk-Lizenzgesetz durch das Parlament. Es scheint vor allem darauf zugeschnitten, den Sender TVN zu treffen, der zum amerikanischen Discovery-Konzern gehört. Umgehend äußerte Joe Biden »tiefe Besorgnis« um die Freiheit des Wortes. Die Regierung in Warschau hatte zuvor schon nicht geschafft, ihn in der Frage der Ostseepipeline Nord Stream 2 auf ihre Seite zu ziehen.

Auch mit dem unmittelbaren Nachbarn Tschechien herrscht Streit: Im schlesischen Tagebau Turów erlaubt Warschau, so tief nach Kohle zu schürfen, dass die Tschechen sich um ihre Grundwasser Sorgen machen. Monatelange Verhandlungen haben bisher keinen Kompromiss gebracht.

Vergangene Woche unterschrieb der Präsident eine Gesetzesnovelle, die Verjährungsfristen für die Rückgabe von nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlichten Grundstücken festlegt. Damit sollten oft illegale und sozial schmerzhafte »wilde Reprivatisierungen« verhindert werden. Israels Regierung aber reagierte mit Kritik, Außenminister Jair Lapid nannte das neue Paragrafenwerk »antisemitisch«. Wenn der Vorwurf auch ungerecht ist – das Gesetz trifft in der Mehrheit katholische Polen –, so hat Warschau es verpasst, sein Vorhaben in der sensiblen Frage umsichtig zu kommunizieren. Es scheine, als erwarteten viele in der Welt von der nationalistischen Regierung immer nur das Schlechteste, warnt der ehemalige Außenminister Radek Sikorski.

Neuer Streit um Flüchtlinge

Neben der Frage der Rechtsstaatlichkeit bahnt sich in Europa schon der nächste Streit an. Wie schon 2015 werde die Regierung in der Afghanistankrise Flüchtlinge fernhalten, versichern dieser Tage PiS-Politiker. Vor sechs Jahren hatte Polen in Zusammenarbeit mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei eine Regelung torpediert, wonach Flüchtlinge nach einem bestimmten Schlüssel auf die EU-Länder verteilt werden sollten. »Wir verteidigen Polen«, sagte Kulturminister Piotr Gliński am Dienstag, während selbst Kosovo, Albanien und Bosnien-Herzegowina verkündeten, sie wären bereit, Afghanen aufzunehmen. Sogar Nordmazedonien hat versprochen, immerhin 450 Flüchtlinge vor den Taliban Schutz zu bieten.

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