Massenproteste gegen Abtreibungsverbot in Polen Aufstand gegen den Patriarchen

Die rechtskonservative Regierung hat die Wut ihrer Landsleute unterschätzt. Hunderttausende gehen gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts auf die Straßen. Polens starker Mann Kaczynski gerät unter Druck.
Frauenverbände rufen zum landesweiten Streik auf

Frauenverbände rufen zum landesweiten Streik auf

Foto: AGENCJA GAZETA / REUTERS

Die Kleinstadt Krasnik, Wojewodschaft Lublin, ist konservatives Kernland. Der von Nationalkonservativen dominierte Stadtrat hatte im vergangenen Jahr eine der berüchtigten Anti-LGBT-Erklärungen  verabschiedet und neulich sogar eine Petition angenommen, die sich gegen den Ausbau des 5G-Netzes wendet.

Doch am Montag kam es sogar in Krasnik zum Aufstand. Augenzeugen berichten von rund 1000 Demonstrantinnen und Demonstranten, die gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechtes auf die Straße gegangen sind. Sie zogen zum Büro eines Abgeordneten der Regierungspartei PiS und entzündeten Kerzen.

Das Beispiel Krasnik zeigt: Nicht nur die liberalen Großstädte rebellieren in der Abtreibungsfrage gegen die Regierung, selbst in ostpolnischen PiS-Hochburgen regt sich Widerstand. Diese hatte vergangene Woche einen Beschluss des Verfassungsgerichts herbeigeführt, der Schwangerschaftsabbrüche praktisch ­verbietet.

"Polen ist die Hölle der Frauen"

Es wirkt so, als habe Parteiführer Jarosław Kaczyński diesmal sein politischer Instinkt verlassen. Die Demonstranten belagern sein Haus im Warschauer Stadtteil, täglich kommt es in vielen Groß- und Kleinstädten zu Protesten. "Polen ist die Hölle der Frauen", heißt es auf Plakaten, "PiS off" oder "Die einzige Muschi, über die du bestimmen kannst, Jarek, ist Andrzej". Gemeint ist Präsident Andrzej Duda, der Kaczyński stets zu Diensten sein soll. An Kirchmauern sprühten Unbekannte die Telefonnummern von Organisationen, die Frauen helfen, eine Abtreibung zu Hause mit Medikamenten oder im Ausland einzufädeln.

Für den Freitagabend, 17 Uhr, sind neue Proteste angesagt. In Umfragen geben mehr als 70 Prozent der Polen an, gegen die Verschärfung des Abtreibungsparagrafen zu sein, nur 13 sprechen sich dafür aus. Die linksliberale "Gazeta Wyborcza" hat eine Umfrage in Auftrag gegeben. Danach ist die Zustimmung für PiS massiv eingebrochen. 

Am Donnerstag vergangener Woche hatte das Verfassungstribunal die Abtreibung verboten, selbst wenn der Fötus schwer und unheilbar erkrankt ist. Nach dieser Indikation wurden im vergangenen Jahr fast alle der rund 1100 legalen Schwangerschaftsabbrüche in dem katholischen Land vollzogen. Erlaubt ist Abtreibung jetzt nur noch bei Vergewaltigung und einer unmittelbaren Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Mutter. Frauenverbände sprechen von einem faktischen Totalverbot.

Abtreibung zu Hause oder im Ausland

Bis zu 150.000 Abbrüche nehmen, so schätzen Experten, Polinnen jedes Jahr vor. Die meisten finden im Ausland statt. "Keine Verschärfung des Abtreibungsrechtes führt jemals dazu, dass es weniger Abtreibungen gibt", sagt etwa die Frauenrechtlerin Justyna Wydrzyńska. Polinnen werden jetzt noch häufiger nach Deutschland, Tschechien oder in die Ukraine reisen. Oder aber sich im Internet die Medikamente Mifepriston und Misoprostol bestellen und den Abbruch zu Hause durchstehen.

Aber es ist nicht nur das Schicksal der Frauen, dass den Furor der Polen auf den Straßen erklärt. Jarosław Kaczyński hat mit dem Schritt sehr deutlich gemacht, wie er seine Macht einsetzen will. PiS ist bereit, autoritär, ohne gesellschaftliche Debatte und Parlamentsbeschluss, weltanschaulich fundamentale Fragen zu entscheiden.

PiS hat versucht, die politische Verantwortung für den Schritt zu verschleiern. Doch gilt das Verfassungstribunal schon lange nicht mehr als unabhängige Instanz, sondern als Instrument der Machthaber. Gleich nach dem ersten Wahlsieg 2015 hatte PiS, die Berufung einiger noch von den liberalen Vorgängern gewählter Richter verhindert. Stattdessen setzte Andrzej Duda Gefolgsleute ein. Dieser Handstreich gegen das Verfassungsgericht wurde in Brüssel als schwerer Angriff auf die Gewaltenteilung verstanden. Unter anderem deswegen hat Polen heute ein Rechtsstaats-Prüfverfahren der EU am Hals. Juristenverbände, deren Mitglieder sich unter die Demonstrierenden gemischt haben, fordern, das Verfassungstribunal aufzulösen.

Die Polizei schützt das Haus von Parteichef Jarosław Kaczyński

Die Polizei schützt das Haus von Parteichef Jarosław Kaczyński

Foto: AGENCJA GAZETA / REUTERS

Die Verschärfung war wohl als eine Dankesbezeugung an die katholische Kirche gedacht, die PiS in den vergangenen Wahlkämpfen unterstützt hat. Doch obwohl mehr als 90 Prozent der Polen angeben, katholisch zu sein, hat der Klerus insgesamt kein gutes Image. Die Priester genießen unverdiente Steuerprivilegien, sie haben keine Ahnung vom Alltag in der globalisierten Modernen und rechnen nicht mit Kinderschändern in den eigenen Reihen ab.

Verhaltener Widerstand in den eigenen Reihen

Die Historikerin Karolina Wigura  hält den Abtreibungsbeschluss für ein Ablenkungsmanöver. Kaczyński schüre die gesellschaftliche Polarisierung über weltanschauliche Fragen, um von den zunehmenden Corona-Fällen abzulenken, schreibt sie im "Guardian". PiS-Leute im Sejm haben die Opposition mit Nazis verglichen. "Ihr seid alles Verbrecher", rief Kaczyński liberalen Abgeordneten zu.

Seine Attacken zielen darauf, den Demonstrierenden die Schuld an der zweiten Pandemiewelle zuzuschieben. Am Donnerstag wurde zum ersten Mal die Schwelle von 20.000 neuen Fällen an einem Tag überschritten. Offiziell dürfen sich in Polen auch im Freien nur fünf Personen zusammenfinden. Verblüfft berichten Augenzeugen, dass die Demonstranten fast alle Masken tragen.

Es wird sehr schwer für PiS, die Stimmung im Land wieder zu beruhigen. Selbst in den eigenen Reihen regt sich verhaltener Widerstand. Tenor: Man sei ja wirklich nicht für leichtfertige Schwangerschaftsabbrüche, aber der Staat dürfe Frauen nicht zum "Heroismus" zwingen.

Ein neues Abtreibungsgesetz mit einer Kompromissformel müsse her, sagt Staatsoberhaupt Andrzej Duda. Seine 24-jährige Tochter Kinga stellt sich sogar offen gegen PiS. Obwohl die Demonstrationen sich zum "Protest gegen alles" ausgeweitet hätten, könne sie den Unwillen verstehen, twitterte sie: "In einer unerhört schwierigen Situation wie der Aussicht, ein Kind zu gebären, das nur Minuten oder Stunden nach der Geburt sterben kann, sollte die Entscheidung bei der Frau bleiben."

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