Justizreform in Polen "Meine schlimmsten Befürchtungen wurden immer übertroffen"

Tausende Richter demonstrieren in Warschau gegen die Justizreform: "Es geht darum, einen autoritären Staat zu errichten."
Foto: JANEK SKARZYNSKI/ AFP
Rafal Maciaga
Pawel Juszczyszyn, 48, war bis Ende vergangenen Jahres Richter am Kreisgericht in Olsztyn, einer 180.000-Einwohner-Stadt in Nordostpolen. Weil er darauf pochte, dass Polen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes befolgt, wurde er erst degradiert und dann unbefristet suspendiert. Gegen seine Absetzung demonstrierten Bürger seiner Heimatstadt. Juristenvereinigungen und der Richterverband "Iustitia" protestierten.
SPIEGEL: Die nationalkonservative Regierung geht massiv gegen unliebsame Richter vor. Was passiert genau?
Pawel Juszczyszyn: Die Regierung will die Gerichte übernehmen, sie zielt auf eine Revolution gegen den ganzen Berufsstand. Zunächst hat sie eine neue Disziplinarkammer geschaffen und das Richterberufungsgremium unter die Kontrolle der Parlamentsmehrheit gebracht. Durch diese Institutionen werden wir daran gehindert, europäisches Recht, Urteile des Europäischen Gerichtshofes, umzusetzen.
SPIEGEL: Das müssen Sie genauer erklären.
Juszczyszyn: Die neue Instanz, der sogenannte Neo-Landesrichterrat, wirkt an der Berufung von Richtern mit. Der Europäische Gerichtshof und das Oberste Gericht in Polen haben jedoch entschieden, dass dieser neue Landesrichterrat nicht rechtsstaatlichen Standards genügt: Es ist nicht unabhängig genug von den politischen Machthabern. So werden durch ihn Richter mit Verbindungen zum Justizminister berufen. Die rund 500 Richter, die mithilfe dieses Gremiums neu berufen wurden, können den Bürgern keine gerechten Prozesse garantieren.
SPIEGEL: Und Sie haben keine Möglichkeiten, dagegen vorzugehen?
Juszczyszyn: Ein unlängst verabschiedetes sogenanntes Maulkorbgesetz beschneidet unsere Meinungsfreiheit. Es ist Richtern danach verboten, sich öffentlich zu äußern, um sich für die Rechtsstaatlichkeit einzusetzen. Wer etwa zu Demonstrationen geht, wie ich, muss Repressionen fürchten. Aber auch mit rechtlichen Mitteln können wir nicht vorgehen. So darf weder die Rechtmäßigkeit der neuen Institutionen noch die der jüngsten Berufungen von Richtern juristisch hinterfragt oder etwa gegen deren Urteile Einspruch eingelegt werden.
SPIEGEL: Was droht Richtern, die sich nicht unterordnen?
Juszczyszyn: Die Entfernung aus dem Amt und bis zu drei Jahre Gefängnis. Am 20. März wird die umstrittene Disziplinarkammer wahrscheinlich zum ersten Mal einem Kollegen die richterliche Immunität entziehen, sodass er zu einer Haftstrafe verurteilt werden kann. Es ist jene Kammer, die nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes und des polnischen Obersten Gerichts kein Gericht ist. Mir selbst droht auch ein Strafverfahren, wegen angeblicher Überschreitung meiner Befugnisse als Richter und wegen "Machtmissbrauchs".
SPIEGEL: Was hat Ihnen diese Vorwürfe eingebracht? Ihnen wurde ja bereits die Ausübung ihres Berufs untersagt.
Juszczyszyn: Ich habe - gemäß dem Urteil des EuGH - eine Untersuchung zur Unabhängigkeit des Neo-KRS angestrengt - und wurde sofort an ein Gericht unterer Instanz versetzt. Zudem wurde ich von der Disziplinarkammer belangt, weil ich vom Sejm, dem polnischen Parlament, Informationen über die Zusammensetzung des Neo-KRS gefordert hatte. Das sei ein "Machtmissbrauch", so lautete der Vorwurf. Ich wurde dann nicht nur suspendiert, die Disziplinarkammer hat mir auch fast die Hälfte des Gehalts gestrichen.
SPIEGEL: Mehr als 60 Richter erleiden ähnliche Repressionen. Glauben Sie wirklich, dass Sie in Haft müssen?
Juszczyszyn: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass in der Europäischen Union unliebsame Richter zu Gefängnisstrafen verurteilt werden - und dann auch noch für Entscheidungen, die europäisches Recht umsetzen. Aber unter dieser Regierung wurden meine schlimmsten Befürchtungen bisher noch immer übertroffen.
SPIEGEL: Die polnische Richterschaft wird auch in den staatsnahen Medien heftig attackiert. Im Fernsehen läuft eine dokumentarische Serie unter dem Titel "Die Kaste". Richter werden darin als eine geschlossene Gruppe vorgestellt, privilegiert, korrupt und arrogant. Worauf zielt die Regierungspartei PiS ab?
Juszczyszyn: Die staatlichen Medien haben einen öffentlichen Auftrag. Doch sie werden von den Herrschenden missbraucht, um das Bild der Richter und Gerichte in der Öffentlichkeit zu zerstören. Sie zielen darauf ab, unsere Glaubwürdigkeit und das Vertrauen der Gesellschaft in die Justiz zu untergraben. So wird es für die Regierung leichter, die Gewaltenteilung abzubauen, denn am Ende geht es darum, einen autoritären Staat zu errichten.
SPIEGEL: Wie kann diese Entwicklung noch aufgehalten werden?
Juszczyszyn: Solidarität hilft - sie hat uns in den Achtzigerjahren gerettet, jetzt brauchen wir sie wieder. Polen und auch Europa müssen Widerstand leisten. Zum Beispiel hat es im Januar schon den "Marsch der tausend Roben" gegeben, es demonstrierten Richter aus ganz Europa in Warschau. Das hat gezeigt: Die Unabhängigkeit der Justiz ist nicht nur eine polnische Angelegenheit, sondern eine europäische.
SPIEGEL: Sollte Brüssel Sanktionen verhängen?
Juszczyszyn: Wir erwarten, dass die EU-Kommission aktiv wird. Und natürlich der EuGH - und zwar schnell. Die Zeit der Worte ist vorbei. Die Disziplinarkammer und das Maulkorbgesetz müssen aufgehalten werden. Wenn Brüssel erlaubt, dass in Polen europäische Grundsätze Stück für Stück untergraben werden, könnte das auch in anderen Ländern passieren. Die Europäische Union ist nicht nur Bürokratie und Geld, sondern besteht vor allem in gemeinsamen Werten. Wir hoffen, dass die europäischen Politiker die Unabhängigkeit unserer Justiz nicht für irgendwelche politischen Versprechungen der polnischen Regierung opfern. Wer das Recht bricht und die Freiheit beschränkt, dem kann man nicht vertrauen. Ohne unabhängige Gerichte wird es keine Fortschritte in den für die EU wichtigen Fragen geben: nicht beim Budget, nicht bei der Sicherheit und auch nicht beim Klimaschutz.