Gerichtsurteil gegen EU-Recht Warschaus Kampfansage an Europa

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen: »Prägender Moment ihrer Amtszeit«
Foto:John Thys / AFP
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Polens Regierung hat auf Eskalation im Streit mit der EU gesetzt – bekommen hat sie womöglich noch mehr. Das Urteil des politisch besetzten Warschauer Verfassungstribunals, ergangen auf Antrag von Regierungschef Mateusz Morawiecki, hat zentrale Teile des EU-Vertrags für unvereinbar mit der nationalen Verfassung erklärt. Es legt die Axt an das Fundament der EU – das Prinzip, dass die Rechtsprechung der EU über der ihrer Mitgliedsländer steht.
Schon die ersten Reaktionen aus Brüssel und anderen Teilen der EU zeigen: Das Urteil ist mehr als nur eine weitere Eskalationsstufe im seit Jahren schwelenden Streit zwischen der EU und Warschau um den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat in Polen. Noch nie hat ein Mitgliedsland der EU eine derartige Kampfansage gemacht – nicht einmal die Briten, die zwar die Gemeinschaft verlassen, deren Grundlagen aber nie infrage gestellt haben.
Die EU sei »eine Gemeinschaft der Werte und des Rechts«, erklärte die EU-Kommission keine drei Stunden nach der Verkündung des Urteils in Warschau. Sie werde »nicht zögern, ihre vertraglichen Befugnisse einzusetzen, um die Integrität des Unionsrechts und seine einheitliche Anwendung zu sichern.« Was das bedeutet, buchstabierte die Brüsseler Behörde zwar noch nicht aus. Doch der Druck auf die Kommission, eine harte Reaktion zu zeigen, steigt.
Vehemente Forderungen nach Sanktionen
»Das ist ein Angriff auf die EU insgesamt«, sagte Jeroen Lenaers, Justizsprecher der christdemokratischen Europäischen Volkspartei im EU-Parlament. Morawiecki habe mit dem Antrag auf das Urteil »nicht nur das illegale Justizsystem in Polen legitimiert, sondern auch die Grundlage der EU infrage gestellt«. Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europaparlaments, fordert das Einfrieren der von Polen beantragten Gelder aus dem Corona-Rettungsfonds der EU. »Die Auszahlung der Corona-Aufbaugelder kann vorerst auf keinen Fall infrage kommen«, sagte Barley dem SPIEGEL. Zudem müsse die Kommission nun endlich den seit Januar verfügbaren Rechtsstaats-Mechanismus des EU-Haushalts gegen Polen einsetzen, der den Entzug von Fördergeldern ermöglicht.
Um das zu erzwingen, will der Grünenpolitiker Sergey Lagodinsky im Rechtsausschuss des Europaparlaments, dessen Vizechef er ist, die bereits angedrohte Untätigkeitsklage gegen die Kommission vorantreiben. »Es gibt jetzt keine anderen wirksamen Mittel mehr als den Geldentzug«, so Lagodinsky. Sein Parteikollege Daniel Freund sieht in der Polenkrise schon jetzt »einen der prägenden Momente der Amtszeit von Ursula von der Leyen«.
Eine harte Reaktion der Kommissionspräsidentin könnte Polen teuer zu stehen kommen. Das Land ist der mit Abstand größte Profiteur von EU-Mitteln, allein 2019 hat das Land unter dem Strich zwölf Milliarden Euro aus den Brüsseler Töpfen bekommen. Zusätzlich hat Warschau aus dem Corona-Wiederaufbaufonds fast 24 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuwendungen beantragt, dazu weitere gut zwölf Milliarden an Krediten. Zusammen entspricht das fast sieben Prozent der polnischen Wirtschaftsleistung.

SPD-Politikerin Barley: »Die Kommission kann eigentlich gar nicht anders, als Gelder zurückzuhalten«
Foto: Michele Tantussi/ Getty ImagesDie Kommission hat die Corona-Gelder bisher zurückgehalten, zuletzt aber angedeutet, noch im November grünes Licht für die erste Tranche zu geben. Das erscheint nun kaum noch vorstellbar – zumal die Achtung der Rechtsstaatlichkeit eine der Bedingungen ist. »Die Kommission kann eigentlich gar nicht anders, als Gelder zurückzuhalten«, sagt SPD-Politikerin Barley.
Zudem muss auch noch der Rat der Mitgliedsländer die Auszahlung mit qualifizierter Mehrheit absegnen. Das heißt: 15 der 27 EU-Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung müssen zustimmen. Schon vor dem Warschauer Gerichtsurteil haben Diplomaten mehrerer EU-Länder angedeutet, dass die Auszahlung der Mittel im Rat scheitern könnte, sollte Polen im Rechtsstaatsstreit nicht einlenken. Nun ist das genaue Gegenteil passiert.
Kommt der Polexit?
Die Folgen sind derzeit kaum absehbar. Immer weiter hat sich Polen von der Rechtsstaatlichkeit entfernt, immer härter wurden die Fronten. Aufforderungen des Europäischen Gerichtshofs, eine Disziplinarkammer für Richter umgehend stillzulegen, wurden ignoriert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte zuletzt sogar die Zusammensetzung des Verfassungstribunals für illegal, da dessen Mitglieder von der nationalkonservativen Regierung unter Polens starkem Mann Jarosław Kaczyński ausgewählt wurden. Nun hat sich diese Regierung quasi selbst ermächtigt, die Urteile der europäischen Richter zu missachten.
Selbst Experten rätseln, wie Polen und die EU aus der Sackgasse herausfinden könnten. »Das Problem ist praktisch nicht aufzulösen«, sagt der Göttinger Europarechtler Alexander Thiele. Allenfalls theoretisch gebe es zwei Möglichkeiten. »Entweder die EU ändert ihre Verträge«, sagt Thiele, »oder Polen ändert seine Verfassung.« Doch beides sei vollkommen abwegig. Eine Änderung der EU-Verträge würde einen einstimmigen Beschluss aller Mitgliedsländer und in einigen von ihnen gar Referenden erfordern – vom politischen Willen ganz zu schweigen. Die Vorstellung, dass Polen seine Verfassung ändert, um sie EU-kompatibel zu machen, erscheint noch absurder.
Bliebe noch eine dritte Möglichkeit: der Austritt Polens aus der EU. Der Respekt vor EU-Recht sei nicht weniger als die »Geschäftsgrundlage« der EU, twitterte der Bielefelder Rechtswissenschaftler Franz Mayer. »Entweder sie gehen, oder sie ändern die polnische Verfassung.« Ohnehin sei das Gerichtsurteil in Wahrheit eine »politisch gesteuerte Eskalation der Regierenden gegen die EU und alle anderen Mitgliedstaaten«. Man könne es durchaus »als Erklärung gemäß Artikel 50 (Austritt aus der EU) interpretieren«, so Mayer.
Hier der Wortlaut: Art. 1 & 19 EUV unvereinbar mit poln. Verfassung. Folge? Verfassung ändern. Oder Exit. Sieht aus wie ein Gerichtsurteil, ist aber politisch gesteuerte Eskalation der Regierenden gegen EU & alle anderen MItgliedstaaten - Respekt EU-Recht ist Geschäftsgrundlage. https://t.co/pT4Ame6AO2
— Prof. Franz C. Mayer (@mayerprof@nrw.social) (@prof_mayer) October 7, 2021
Zwar verweisen manche Beobachter darauf, dass das Urteil erst rechtskräftig sei, wenn die Regierung es im Gesetzesblatt veröffentliche – was in früheren Fällen, etwa bei einem Urteil über Abtreibungen, Monate gedauert hat. »Das sind aber nur juristische Feinheiten«, sagt Thiele. »Der Schaden ist bereits eingetreten. Die Regierung kann sich jetzt auf das Urteil berufen und EU-Recht außer Kraft setzen, wann immer es ihr passt – auch in zukünftigen Fällen.«
Das sei ein zentraler Unterschied zum umstrittenen Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Mai. Die Karlsruher Richter hatten die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank beanstandet und ebenfalls den Vorrang des Europäischen Gerichtshofs infrage gestellt – was die polnische Regierung genüsslich für ihre Zwecke ausschlachtete. Die beiden Urteile seien aber kaum miteinander vergleichbar, sagt Thiele. Das Bundesverfassungsgericht habe lediglich über einen Einzelfall geurteilt und zugleich den generellen Vorrang des EU-Rechts betont.
Der Polexit, warnt der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner, sei »nicht länger nur ein Hirngespinst der Rechtspopulisten in Polen, sondern leider reale Gefahr«. »Die nächste Wahl in Polen wird nun zur Schicksalswahl darüber, ob Polen Mitglied der EU bleiben kann oder nicht.«