Abtreibungsgesetze in Polen »Ich hatte Angst, dass mich die Regierung zwingt, dieses Kind zu gebären«

Olga Madurska in ihrer Warschauer Wohnung: »Keine Frau ist darauf vorbereitet, ihre erste Schwangerschaft mit einer Pille zu beenden«
Foto:Piotr Malecki / DER SPIEGEL
Olga Madurska hat in diesem Jahr zwei Kinder nicht geboren. Sie spricht ihre Geschichte am vergangenen Samstag in Warschau in ein Mikrofon. Die Geschichte einer Frau, die zweimal schwanger war und doch kein Kind lebend zur Welt brachte in einem Land, das sie deswegen zu einer Verbrecherin macht.

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Als Madurska öffentlich über ihre Erfahrungen spricht und viele stehen bleiben und ihr zuhören, sind in Polens Hauptstadt wieder Tausende auf der Straße; sie blockieren den Verkehr im Zentrum der Stadt, sie protestieren gegen die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtes, die eine legale Abtreibung in dem Land fast unmöglich macht. Olga Madurska steht in der Mitte eines Kreisverkehrs, ein Blumenkasten ist ihr Podest, sie trägt Schwarz, hat einen roten Blitz quer über ihre Wange gemalt, das Symbol der Auflehnung einer ganzen polnischen Generation.
Sie sagt diesen Satz: »Ja, ich habe abgetrieben.«
Später, am Telefon, erzählt Madurska, 29 Jahre, ihre Geschichte noch einmal von vorn. Sie beginnt mit einem Päckchen, das im April 2020 in Madurskas Briefkasten lag. Darin fünf Pillen, geschickt von einer polnischen Organisation, die Frauen hilft, eine Abtreibung vorzunehmen, wenn ihnen das Gesetz diese verwehrt.

Madurska beendete im April eine Schwangerschaft mit Medikamenten
Foto: Piotr Malecki / DER SPIEGEL»Ich war ganz allein, als ich die erste Pille nahm. Ich schluckte sie und blieb den ganzen Tag im Bett. Ich war am Boden zerstört, diese Situation machte mich krank. Ich wartete 24 Stunden. So lange muss man warten, dann nimmt man die restlichen vier Pillen.«
Es gibt ein Zeichen, dass ein medikamentöser Abbruch funktioniert hat, und dieses Zeichen ist Blut. Madurska wartet nach den fünf Tabletten auf den Moment, in dem ihre Blutung beginnt. Sie sagt, dass sie am nächsten Morgen schon um sechs Uhr aufwachte, dass sie die Wäsche wusch und die Küche putzte und alle paar Minuten auf die Toilette ging, »aber da war keine Blutung«, sagt sie.
Dass sie dann zu ihren Eltern fuhr, um sich abzulenken. Dass aber immer wieder dieser Gedanke in ihr hochkam: Was, wenn die Blutung nicht kommt? Was, wenn die Abtreibung nicht funktioniert hat?
Dazu muss man wissen, dass Olga Madurska zu der Zeit, als sie schwanger wurde, ein Medikament gegen ihre Akne einnahm, Izotek heißt es. Der Wirkstoff, Isotretinoin, kann die Wirkung der Antibabypille hemmen und zu schweren Fehlbildungen an Ungeborenen führen.

Als sie schwanger wurde, nahm Madurska schwere Medikamente, die Ungeborene schädigen können
Foto: Piotr Malecki / DER SPIEGELUltraschalluntersuchungen ab der 12. Schwangerschaftswoche können Frauen Hinweise geben, ob und wie sehr der Fötus in ihrem Bauch geschädigt ist. Jedoch kritisieren Frauenorganisationen in Polen, dass Ärzte Schwangere dort oft nicht über diese Möglichkeit informieren. Und selbst wenn eine schwere oder unheilbare Schädigung festgestellt wird: Nach dem Verfassungsgericht sind Schwangerschaftsabbrüche nur noch nach Vergewaltigungen möglich, oder wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft in Gefahr ist.
Das Gericht, von der nationalkonservativen Regierung dominiert, verschärfte das Abtreibungsrecht im Oktober. Abbrüche sind nun praktisch komplett verboten. Auch in einem Fall wie dem von Madurska.
An dem Abend kam bei Olga Madurska das Blut wie eine Erlösung. »Ich hatte keine Angst davor, abzutreiben. Ich hatte Angst, dass mich die Regierung zwingt, dieses Kind zu gebären. Ich hatte solche Angst, dieses Kind zu bekommen, dessen Körper vielleicht doch so schwer geschädigt war.«
Sie sagt: »Keine Frau ist darauf vorbereitet, ihre erste Schwangerschaft mit einer Pille zu beenden. Aber ich wusste, ich hatte das richtige getan.«
In Warschau, wo Madurska lebt, gibt es weiterhin Wege, abzutreiben. Es gibt Apotheken, die entsprechende Tabletten an Frauen abgeben. Organisationen beraten dort und in anderen Städten Frauen, wenn sie mit Medikamenten zu Hause oder durch eine Operation im Ausland abtreiben möchten. In Deutschland etwa, Tschechien, der Slowakei. Pro Jahr lassen so geschätzte 80.000 bis 150.000 Polinnen Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.

Auch Zuzia Smoczyńska trieb ab. Ihr Ex-Freund bezeichnete sie als Mörderin
Foto:Piotr Malecki / DER SPIEGEL
Madurska sagt, für sie sei es nicht schwierig gewesen, die entsprechenden Internetseiten zu finden, auf denen versteckt die Infos stehen. Sie kenne Leute, die sich damit auskennen. Sie wisse, wo man suchen muss. Sie habe genug Geld. Sie könne sich aber nicht vorstellen, wie es ist, in Polen auf dem Land zu leben, in einem konservativen Umfeld, mit wenig Geld und weniger Freiheit. Sie glaubt, dass viele Frauen dort ganz allein und in Not sind und am Ende Kinder bekommen, die sie aus guten Gründen nicht bekommen wollten.
Im Grunde ist es gleich, ob eine Frau nun in der Stadt oder auf dem Dorf lebt. Die Gesetze zwingen Frauen überall in Polen, in den Untergrund zu gehen und nach einem Medikament zu suchen wie nach einer Schnellschusswaffe.
Zwar können die Bilder von den massiven Protesten gegen die PiS-Regierung, mit Hunderttausenden Demonstrierenden, leicht darüber hinwegtäuschen: Doch die Gesellschaft in Polen ist tief gespalten, in Liberale und katholische Traditionalisten , die den Kurs der Regierung unterstützen. Es wurde schon von Bürgerkrieg gesprochen und von einer Gesellschaft, die auseinanderbricht.

Eine legale Abtreibung ist in Polen faktisch nicht mehr möglich. Zuzia Smoczyńska suchte im Internet nach Hilfe und wurde fündig
Foto: Piotr Malecki / DER SPIEGELBei Zuzia Smoczyńska ging die Spaltung durch ihre eigene Beziehung. Als sie vor ein paar Jahren ungewollt schwanger wird, ist sie 21 Jahre alt, sie studiert Anthropologie in Warschau, mit ihrem Freund ist sie da erst ein paar Wochen zusammen. Er kommt aus einer erzkatholischen Familie. Als sie den Schwangerschaftstest macht und er positiv ausfällt, als Panik sich in Smoczyńska breit macht und sie den Entschluss fasst, das Baby nicht zu bekommen, lässt sie ihren Freund außen vor.
Sie ist sich zwar sicher, dass ihr Freund nicht Vater werden möchte, dennoch kennt sie auch seine Antwort zu einer Abtreibung, und diese Antwort wäre ein Nein.
»Also zog ich es allein durch«, sagt Smoczyńska. Auch sie suchte Hilfe auf einer Webseite. Las die Berichte von Frauen in der Q&A-Sektion. Bestellte die Tabletten. Als Lieferadresse gab sie die Wohnung ihrer Eltern an, die gerade im Urlaub waren. Als sie dann die Pillen aus der Packung holte und schluckte, sei sie ganz ruhig gewesen.
Zuzia Smoczyńska, 28 Jahre, aus Warschau
Es dauerte ein Jahr, bis Smoczyńska ihrem Freund von dem Abbruch berichtete. Sie stritten. Er habe gesagt, sie sei eine Mörderin. Smoczyńska sagt: »Ich habe ihm gesagt, er soll mir in die Augen schauen, wenn er mich eine Mörderin nennt. Aber er konnte mir nicht in die Augen schauen.« Sie sagt, sie hätten nie wieder darüber gesprochen. Kurz darauf sei die Beziehung zerbrochen. Es sei ein großer Fehler gewesen, nicht verhütet zu haben. Verantwortung für diesen Fehler zu übernehmen habe für sie aber bedeutet, das Kind nicht zu bekommen.
Dann sagt Smoczyńska einen Satz, über den man ein bisschen nachdenken muss. Sie sagt, sie ärgere sich, dass so viele Menschen sich hinter einer Ideologie versteckten, um diese Verantwortung nicht übernehmen zu müssen.
Im November beschloss das EU-Parlament eine Resolution gegen Polen und forderte das Recht auf eine Abtreibung. »Wir müssen im Jahr 2020 in Europa über Abtreibung diskutieren, weil fundamentalistische Christen angeblich das Recht auf Leben verteidigen«, sagte die schwedische Abgeordnete Heléne Fritzon. Und ihre polnische Kollegin Sylwia Struwa sagte: »Jedes Jahr bewegen wir uns in Polen weiter weg von Paris, Berlin oder Rom.«

»Sie interessieren sich nur dafür, dass wir mehr Babys ranschaffen, mehr, mehr«, sagt Olga Madurska über die polnische Regierung
Foto: Piotr Malecki / DER SPIEGELOlga Madurska ist zwei Monate nach ihrem Abbruch, in diesem Juni, wieder schwanger geworden. Sie hatte die Aknetabletten abgesetzt. Sie war vorbereitet. Sie wollte dieses Kind.
In der zehnten Schwangerschaftswoche sagte ihr dann ein Arzt im Krankenhaus, dass ihr Ungeborenes nicht mehr lebe. »Das war es, mehr hatte er nicht zu sagen«, sagt Madurska. Da seien kein gutes Wort, keine psychologische Hilfe gewesen. Nur wieder dieses Gefühl: Sie war auch dieses Mal allein.
Madurska sagt, damals sei sie sich auf einmal sehr sicher gewesen. Dass es genau neun Monate sind im Leben einer Frau, die für die polnische Regierung zählten. Die Monate, in denen sie ein Kind erwarte. »Sie interessieren sich nur dafür, dass wir mehr Babys ranschaffen, mehr, mehr«, sagt sie. Das Leben einer Frau, wie auch immer ihre Lage, in den Jahren davor und in den Jahren danach, interessiere das System nicht.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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