
Politisierung Anfang der Achtzigerjahre Warum meine Generation eine Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine trägt


Friedensdemonstration 1981 im Bonner Hofgarten: 300.000 Menschen können nicht irren
Foto: Klaus Rose / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Helmut Schmidt war berüchtigt dafür, dass er junge Journalisten gerne fragte, ob sie auch gedient hätten. Als ich 1989 als Journalistenschüler ein Praktikum in der Politikredaktion der ZEIT absolvierte, saß ich mehrmals in Diskussionen mit ihm. Ich habe immer auf die Frage gewartet, nur um sagen zu können: Ja, ich habe gedient.
Ich habe 15 Monate Wehrdienst bei der Marine geleistet. Wenige Tage nachdem ich meine Uniform abgegeben hatte, fuhr ich im Oktober 1981 zur ersten großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten. Ich habe das nicht als Widerspruch empfunden. In meiner Brust haben damals Churchill und Gandhi nebeneinander gewohnt, wie es mein Kollege Alexander Smoltczyk so schön im SPIEGEL formuliert hat. Die Friedensbewegung stand in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Achtzigerjahre für eine Art früher Identitätspolitik: Wer an der Hamburger Uni Politikwissenschaft studierte wie ich, war links und musste dabei sein. 300.000 Menschen im Hofgarten konnten sich nicht irren.
Ich bin Jahrgang 1960; wie Olaf Scholz gehöre ich der Generation der Babyboomer an. Die späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre waren unsere Sturm-und-Drangzeit. Der Hofgarten war unser Woodstock, für 1968 waren wir zu jung. Eine der Folgen dieses Altersabstands: Außer Aufrüstung und Atomkraft gab es kaum etwas, wogegen man als junger Student Anfang der Achtzigerjahre noch rebellieren konnte. Die Achtundsechziger hatten bereits die Institutionen erobert. Die meisten meiner Lehrer auf dem Gymnasium kamen aus der Studentenbewegung, im Deutschunterricht haben wir Marcuse gelesen, in Geschichte wurden wir vor allem über die Gräuel der Nazis aufgeklärt. Viele Professoren an der Uni waren ebenso links wie die Studenten.
Ein Overkill an Selbstzufriedenheit
Dennoch blieb der Trip nach Bonn die einzige Friedensdemonstration meines Lebens. Ich habe in der Menschenmenge ein Unbehagen empfunden, das ich damals nicht erklären konnte. Ich empfand es als einen Overkill an Selbstzufriedenheit; eine Form der Emotionalisierung von Politik, die ich bis heute nicht mag.
Heute ist mir klar: Der Churchill in mir hat sich durchgesetzt. Angesichts des Kriegs in der Ukraine werden mir die Fehler und Versäumnisse meiner Generation klarer als je zuvor. Und ich frage mich, ob wir nicht mitverantwortlich sind dafür, dass es so weit gekommen ist. Ob wir den Krieg nicht hätten verhindern können, wenn wir uns außenpolitisch, verteidigungspolitisch, historisch und militärisch mehr für Russland und Osteuropa interessiert hätten.

Jens Glüsing, (3. von rechts in der zweiten Reihe) in der Marineversorgungsschule 1980
Foto: privatDer Wehrdienst war gewiss nicht die aufregendste Zeit meines Lebens, aber auch kein Horrortrip. Ich empfand ihn vielmehr als Zeitverschwendung. Das Kreiswehrersatzamt stellte mich vor die Wahl, zu den Panzergrenadieren in die Lüneburger Heide zu gehen (»Da können Sie den LKW-Führerschein machen«) oder mich in der Marineversorgungsschule auf Sylt im Stabsdienst ausbilden zu lassen (»Da lernen Sie zehn Finger Schreibmaschine blind«). Natürlich entschied ich mich für Sylt und die Schreibmaschine. So wurde der Wehrdienst für mich zu einer Art von Vorbereitung auf meinen späteren Beruf als Journalist. Auf der Insel wurden damals neben den Stabsdienstlern auch die Versorger und die Köche der Marine ausgebildet, die für ihre kulinarischen Künste berühmt waren. Wir Wehrpflichtigen waren ihre Vorkoster. Nachts stapften wir mit Gewehr, Gepäck und Cordon Bleu als Marschverpflegung über die Lister Dünen.
Ich hätte den Wehrdienst verweigern können, als der Musterungsbescheid eintraf. Aber das stand für mich nie zur Debatte. Ich hatte ein unsentimentales Verhältnis zu Waffen. Als Soldat haben mir die Schießübungen keinen Spaß gemacht, aber ich litt auch nicht unter Gewissensqualen.
Unter dem Atomschirm der Amerikaner lebten wir so behaglich, dass wir glaubten, wir könnten auf ihn verzichten
Nach sechs Monaten auf Sylt wurde ich auf eigenen Wunsch an die Bundeswehrhochschule in Hamburg versetzt, die damals einige Wehrpflichtige in der Verwaltung beschäftigte. Jetzt war ich »Heimschläfer« und brauchte nicht mehr in der Kaserne zu nächtigen. Ich teilte mir das Büro mit einem Zivilbeamten, der zum Freund wurde. Er begeisterte mich für den Liedermacher Konstantin Wecker. Gemeinsam hörten wir oft den »Willy«, ein Lied, das zur Hymne aller Antifaschisten geworden ist. Es erzählt, wie sich ein junger Mann in einer Kneipe gegen einen Neonazi auflehnt und von diesem erschlagen wird. Vom »Willy« führte für mich ein direkter Weg zur Friedensdemo in den Hofgarten – dabei hätte die Lehre aus dem Lied sein müssen, sich gegen faschistische Angriffe, notfalls auch mit der Waffe, zu wehren.
Mit einer Gruppe von Jungdemokraten, der damaligen Jugendorganisation der FDP, die in Hamburg linker und vor allem anarchistischer war als die SPD und die Jusos, bin ich 1981 nach Bonn gefahren. Ich fühlte mich zwar nicht unmittelbar von den Pershing-Raketen bedroht, deren Stationierung der Nato-Doppelbeschluss vorsah. Aber die Logik, Frieden durch eine Eskalation der Abschreckung zu schaffen, leuchtete mir nicht ein, sie erschien mir irre. Die Diskussionen über Erst- und Zweitschlagkapazitäten fand ich surreal angesichts der Vorstellung, dass sowieso niemand einen Atomkrieg überleben würde. Die Idee, Stabilität und Sicherheit durch Abschreckung zu erzeugen, erschien mir absurd.
Die bittere Wahrheit haben wir damals verdrängt: Unter dem Atomschirm der Amerikaner lebten wir so behaglich, dass wir glaubten, wir könnten auf ihn verzichten.
Wenn ich morgens in meiner Marineuniform zum Dienst fuhr, sahen mich die Leute an, als käme ich vom Mars
Die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, hat alles Militärische immer mit Befremden betrachtet. Wenn ich morgens in meiner Marineuniform zum Dienst in die Bundeswehrhochschule nach Hamburg-Wandsbek fuhr, sahen mich die Leute an, als käme ich vom Mars. Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben war immer unbeliebt, das entsprach einem stillen gesellschaftlichen Konsens. Wir haben uns in der Illusion gewiegt, dass wir nie mit Bedrohungen unserer Demokratie oder gar unserer eigenen Existenz konfrontiert sein würden.

Demonstration der Friedensbewegung gegen den Staatsbesuch von US-Präsident Ronald Reagan in Bonn, 1981
Foto: Sven Simon / IMAGOMein Studium begann ich im Herbst 1981 in dem Gefühl, dass mir die Zukunft zu Füßen lag. Nebenher jobbte ich; wenn ich genug Geld gespart hatte, reiste ich mit dem Rucksack um die halbe Welt – die westliche Hälfte, wohlgemerkt. In Buenos Aires kannte ich mich besser aus als in Ost-Berlin. Madrid war mir näher als Magdeburg.
Kiew und die Ukraine kannten wir nur vom Hörensagen, beides gehörte in unseren Augen irgendwie zu Russland. Die Sowjetunion war ein von unfreundlichen Pelzmützenträgern und missmutigen Mütterchen bewohntes kaltes Dunkelland. Die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien galten als absolut unsexy, das Baltikum kam in unserer Vorstellungswelt überhaupt nicht vor. Man redete dort komplizierte Sprachen, die niemand lernen wollte, weil man damit wenig anfangen konnte. Wer dagegen Englisch, Spanisch oder Französisch sprach, dem erschlossen sich Dutzende Länder und Kulturen. An der Uni saßen die schönsten Mädchen in den Romanistikseminaren, abends ging man zum Salsa tanzen auf den Kiez. Mit Tschechisch, Bulgarisch oder Litauisch waren die Aussichten auf einen Flirt eher trist.
Als die Mauer fiel, fielen wir aus allen Wolken
Die DDR, die uns eigentlich näher gewesen sein müsste, haben wir ignoriert: Sie war das deutsche Fly-over-Country, das man möglichst rasch durchquerte, wenn man über die Transitstrecke nach West-Berlin fuhr. Die Wiedervereinigung war kein Thema, sie war absolut unvorstellbar. Irgendwann Anfang der Achtzigerjahre tauchte in unserer Studentenclique ein Ossi auf, der zusammen mit seiner Frau mehrere Jahre in Bautzen im Gefängnis gesessen hatte, bis die Bundesregierung die beiden freikaufte. Ungläubig lauschten wir seinen Geschichten über Folter und Isolationshaft und die eiserne Faust der Sowjetunion. Im Grunde wollten wir davon nichts wissen. Unsere Welt war der Westen.

Jubelnde Menschen sitzen mit Wunderkerzen auf der Berliner Mauer, 11.11.1989
Foto: dpaAls die Mauer fiel, fielen wir daher aus allen Wolken. Nicht nur die Ostdeutschen verloren ihre Republik, auch wir Westdeutschen verloren unsere Heimat, so empfand ich das. Ich fuhr mit meinen Eltern und einer Flasche Sekt an die Grenze bei Lauenburg, um die Trabi-Karawane zu begrüßen, doch geheuer war mir das alles nicht. Die Bonner Republik war ein sehr liebenswertes, freiheitliches und friedliebendes Land. Was jetzt kam, war ein großes Fragezeichen. Den Kalten Krieg hatte ich nie als Bedrohung empfunden, unsicher hatte ich mich in der alten Bundesrepublik nie gefühlt. Dass Russland einmal einen Angriffskrieg auf ein demokratisches Nachbarland starten würden, erschien mir unvorstellbar. Dass wir unsere Sicherheit an die Amerikaner delegiert hatten, verdrängten wir.
Für mich hat nicht erst Donald Trump die Illusion zerstört, dass mit dem Sieg des Westens eine Epoche andauernden Friedens und Wohlstands anbrechen würde. Welche Gefahr Autokraten darstellen, wenn sie nicht rechtzeitig gebremst werden, konnte man schon vorher erkennen, nicht nur im Osten. In Lateinamerika begleite ich den Niedergang Venezuelas seit dem ersten Wahlsieg Hugo Chávez' im Jahr 1999. Jeder, der sich dafür interessierte, konnte wie im Lehrbuch verfolgen, wie man aus Inkompetenz und Hybris einen Staat zerstört. Man soll den Vergleich nicht überstrapazieren, aber auch Chávez hätte fast einen Krieg gegen ein Nachbarland – Kolumbien – vom Zaun gebrochen. Über fünf Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren aus dem wirtschaftlich ruinierten Ölstaat geflüchtet.
Wir betrauern den Tod des »Willy«, aber vor einem echten Autokraten kneifen wir
Seit ein paar Jahren kann ich vor meiner Haustür in Brasilien verfolgen, wie ein Mann versucht, die Demokratie von innen zu zerstören. Es ist kein Zufall, dass sowohl Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro wie auch der verstorbene Linkspopulist Chávez zu Putins Freunden zählen, alle drei sind Brüder im Geiste. Dass Bolsonaro früher auch Chávez bewundert hat, wird heute gerne verdrängt.
Demokratien sterben einen langsamen Tod. Wenn man die Symptome bemerkt, ist es oft zu spät. Die Dämonen der Geschichte, die ich besiegt glaubte, als ich zu studieren begann, sind wieder erwacht – innerhalb Deutschlands in Gestalt von mörderischen Neonazis, international in Typen wie Putin. Wir betrauern den Tod des »Willy«, aber vor einem echten Autokraten kneifen wir.

Demonstranten machen Rast anlässlich einer Anti-Reagan-Demonstration in Bonn, 1982
Foto: Sven Simon / IMAGOAls ich 40 war, so um die Jahrtausendwende, hätte meine Generation die Chance gehabt, vorzubauen. Wir hätten uns dafür einsetzen müssen, gemeinsam mit Frankreich eine europäische Streitmacht aufzubauen. Aber wir zählten zur Toskana-Fraktion, die Europäische Union war für uns in erster Linie eine Region zum Urlaub machen. Das Symbol der europäischen Einheit war für uns der Euro. Wir konnten gut damit leben, dass Deutschland seine Rolle in der Welt vor allem über Wohlstand und Wirtschaftswachstum definierte. Wann immer eine Aufrüstung der Bundeswehr und eine prominentere Rolle Deutschlands in der Sicherheitspolitik zur Debatte stand, beriefen wir uns auf unsere Vergangenheit und lehnten freundlich ab. So versäumte es der reichste Staat Europas, für seine und Europas Sicherheit zu sorgen.
Ich habe die Aufhebung der Wehrpflicht immer für den größten Fehler der Regierung Merkel gehalten. Sie wurde nach dem Krieg ja nicht nur eingeführt, weil man wegen der schieren Größe einer Wehrpflichtarmee besser gegen einen potenziellen Aggressor gewappnet war. Sie sollte auch sicherstellen, dass die Bundeswehr in der Gesellschaft verankert war. Die Lehre aus der Nazidiktatur lautete nicht: »Nie wieder eine Armee«, sondern »Nie wieder eine Armee, die isoliert von der Gesellschaft ist und damit ein Eigenleben entwickelt« – so wie einst die Wehrmacht.
Das Leisetreten in der Sicherheitspolitik erstreckte sich auch auf die Außenpolitik
Die Wehrpflicht entsprach dem Konzept der Inneren Führung, das von dem verstorbenen Wolf Graf von Baudissin mitentwickelt wurde, bei dem ich während des Studiums an der Uni Hamburg Seminare in Sicherheitspolitik belegte. Er war General, Militärtheoretiker – und er gehörte der SPD an. Mit der Wehrpflicht wollte er die Bundeswehr gegen rechtsradikale Tendenzen wappnen. Er hat diese Aufgabe erfüllt – jedenfalls war das meine Erfahrung.
Merkel und der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg verwandelten die Bundeswehr in eine Berufsarmee, weil das billiger war und weil sie für die neuen strategischen Anforderungen wie Auslandseinsätze besser gewappnet schien – jedenfalls wurde das von der Regierung so dargestellt. In Wirklichkeit hat man die Streitkräfte politisch und finanziell vernachlässigt – mit der Folge, dass rechtsradikale Tendenzen unter den Soldaten zunahmen und die Armee gleichzeitig an Schlagkraft verlor.
Das Leisetreten in der Sicherheitspolitik erstreckte sich auch auf die Außenpolitik: Sie wurde zu einem Anhängsel der Wirtschaftspolitik. Wenn irgendwo ein internationaler Konflikt drohte, sollten es die Amerikaner, Franzosen oder Engländer richten. Wir machten lieber Geschäfte. Und wir hatten eine wunderbare Entschuldigung für unser Nichtstun: Unsere Nazivergangenheit, die uns angeblich zum Wegducken und Leisetreten verpflichtete, wenn irgendwo Flagge zeigen gefragt war.
Deutschlands Selbstdarstellung wurde den Außenhandelskammern überlassen
Das galt nicht nur für den Osten. Oft habe ich deutsche Regierungsvertreter in Lateinamerika bei Staatsbesuchen begleitet. Kam der Bundespräsident, gab es Trachtengruppen und Bierfeste; mit Schröder oder Merkel ging es zu Siemens oder VW. Deutschlands Selbstdarstellung wurde den Außenhandelskammern überlassen.
Der Wohlstand hat uns bequem gemacht und eingelullt. Vielleicht liegt es daran, dass meine Generation nie die Schrecken eines Kriegs erfahren musste. Aber diese Gewissheit ist gerade in sich zusammengestürzt. Unsere Vergangenheit sollte uns zu einer aktiven Außen- und Sicherheitspolitik zum Schutz der Demokratie verpflichten – und nicht zu einem als Pazifismus verbrämten Wegducken und Aussitzen.
Jetzt sehe ich im Fernsehen ukrainische Studenten, die zu den Waffen greifen. Sie sind in demselben Alter wie ich, als ich überlegte, ob ich in den nächsten Semesterferien lieber durch Mexiko, Brasilien oder Argentinien reisen würde. Es sind friedliche, junge Menschen, die einfach nur in Freiheit leben wollen. Sie führen einen Krieg, der uns glücklicherweise erspart geblieben ist.
Wir sollten ihnen ihren Kampf nicht auch noch erschweren.