Polizeigewalt in Brasilien Gefoltert, erschossen, erstickt

In Brasilien sterben immer mehr Menschen durch Sicherheitskräfte, die meisten Opfer sind jung, männlich und schwarz. Zuletzt wurde ein 38-Jähriger von der Verkehrspolizei wohl in einem Auto erstickt – Passanten sahen zu.
Von Nicola Abé, São Paulo
Polizisten bei einem Anti-Drogen-Einsatz in Rio de Janeiro (2018)

Polizisten bei einem Anti-Drogen-Einsatz in Rio de Janeiro (2018)

Foto: REUTERS
Globale Gesellschaft

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Am vergangenen Mittwochvormittag stieg Genivaldo de Jesus Santos, 38, Ehemann, Vater eines siebenjährigen Sohnes, zum letzten Mal auf ein Motorrad. Er fuhr die Autobahn BR101 in seiner Heimatstadt Umbaúba im Nordosten Brasiliens entlang. Einen Helm trug er nicht. Die Autobahnpolizei hielt ihn an. Sie verlangten, dass er sein Hemd ausziehe, so erzählt es sein Neffe, Wallison de Jesus Santos, der die Szene aus nächster Nähe beobachtete, dem Nachrichtensender Globo TV.

Was sich wenig später ereignete, zeigt ein Video: De Jesus Santos Beine ragen aus dem Kofferraum eines Polizeiautos, strampeln wild. Er schreit. Aus dem Inneren des Wagens quillt weißer Rauch – Tränengas. Polizisten halten die Kofferraumtür des SUV zu. In diesen Minuten kämpft der Mann im Inneren um sein Leben. Irgendwann hören die Beine von de Jesus Santos auf, sich zu bewegen.

Menschen protestieren in Rio de Janiero nach dem Tod des 38-jährigen Genivaldo de Jesus Santos, der in einem mit Tränengas gefüllten Polizeiauto wohl erstickte

Menschen protestieren in Rio de Janiero nach dem Tod des 38-jährigen Genivaldo de Jesus Santos, der in einem mit Tränengas gefüllten Polizeiauto wohl erstickte

Foto: Bruna Prado / AP

Laut einem vorläufigen Bericht des gerichtsmedizinischen Instituts starb der Mann an akutem Atemversagen, ausgelöst durch Ersticken. Die Bundesverkehrspolizei, die direkt der Zentralregierung von Präsident Jair Bolsonaro untersteht, teilte mit, er könne auch einer »plötzlichen Erkrankung« zum Opfer gefallen sein.

Der Vorfall ereignete sich ausgerechnet am zweiten Todestag des Afroamerikaners George Floyd, der in Minneapolis Opfer einer brutalen Polizeiaktion geworden war. Und auch der Tod von de Jesus Santos löste Entsetzen aus. In mehreren brasilianischen Städten kam es zu Protesten; in den sozialen Medien ist seither vom »Gaskammer-Mord« die Rede. Zahlreiche Journalisten und Politikerinnen äußerten sich, darunter Jandira Feghali, von der kommunistischen Partei: »Genivaldo wurde gefoltert und in einem Auto ermordet, am helllichten Tag, während die Leute seinem Todeskampf zusahen. Eine Barbarei! Ein Tod in einer improvisierten Gaskammer!«

Talíria Petrone von der sozialistischen Partei schrieb auf Twitter: »Es ist ein absurdes Verbrechen, das zeigt, wie Bolsonaros Nekropolitik schwarze Brasilianer tötet.« Die Philosophin und Journalistin Djamila Ribeiro sagte dem SPIEGEL: »Die rassistische, strukturelle Gewalt, die das Land historisch prägt, wird jetzt durch die Hände von Staatsangestellten fortgeführt. Das ist absolut widerwärtig

Denn der Tod von de Santos Jesus ist bei Weitem kein Einzelfall. Zwar ist er gekennzeichnet von besonderer Grausamkeit und Kälte – und durch Videoaufnahmen dokumentiert – aber er reiht sich ein in einen Trend, vor dem Forscher warnen: Brasilien erlebt seit Jahren einen Anstieg brutaler Polizeigewalt. Immer mehr Menschen sterben durch die Hände von Sicherheitskräften. 2020 waren es 6416, laut dem Forum für Öffentliche Sicherheit . Das sind 17 Menschen am Tag und sechsmal so viele wie 2013, als die Daten erstmals erhoben wurden.

»Brasilien ist ein Land, in dem es keine Todesstrafe gibt, aber etwas noch Schlimmeres: tödliche Polizeigewalt, die straffrei bleibt«, sagt Priscila Villela, Politikwissenschaftlerin an der katholischen Universität von São Paulo. Dabei sind keinesfalls alle Brasilianerinnen und Brasilianer gleichermaßen betroffen: Fast alle von Polizisten Getöteten waren Männer. 79 Prozent waren schwarz, die meisten zwischen 18 und 24 Jahren alt. »Das zeigt eine klare rassistische Ausrichtung in der Polizeigewalt.«

Die Autobahnpolizei behauptet, de Santos Jesus habe sich aggressiv verhalten, hätte ruhiggestellt werden müssen. Sein Neffe, der sich nur wenige Meter entfernt befand, gibt hingegen an, de Jesus Santos sei allen Anweisungen der Polizisten sofort nachgekommen. Die Polizisten hätten seinen Onkel dennoch getreten und gefesselt. Er habe die Einsatzkräfte außerdem immer wieder darauf hingewiesen, dass sein Onkel an psychischen und an Herzproblemen litt, und sie gebeten aufzuhören.

Anwohnerinnen protestieren gegen die Polizei in der Nähe des Getulio Vargas Krankenhauses nach einer Polizeirazzia in der Favela Vila Cruzeiro

Anwohnerinnen protestieren gegen die Polizei in der Nähe des Getulio Vargas Krankenhauses nach einer Polizeirazzia in der Favela Vila Cruzeiro

Foto: Bruna Prado / dpa

Inzwischen distanzierte sich die Bundesverkehrspolizei von dem Vorgehen ihrer Leute, diese hätten Methoden verwendet, welche nicht den Richtlinien entsprächen. Die drei Polizisten wurden suspendiert, aber nicht festgenommen. Laut einer Recherche von Globo TV gab es in den vergangenen zwölf Jahren allerdings mindestens 18 Fälle, in denen Polizisten Menschen in Autos einsperrten, in die Pfefferspray gesprüht wurde. Einige von ihnen sollen die Glasfenster mit bloßen Händen zerbrochen haben, um atmen zu können. Ein weiterer Fall, in dem das noch gefährlichere Tränengas verwendet wurde, ist bisher nicht bekannt.

Im Namen öffentlicher Sicherheit werde die arme, schwarze Bevölkerung in den brasilianischen Armenvierteln unterdrückt, sagt die Expertin Villela, die zu Polizeigewalt in Brasilien forscht. Der politische Diskurs und auch viele Medien würden dazu beitragen, diese Menschen zu kriminalisieren und das harte Vorgehen gegen sie zu rechtfertigen. Zwar gehe die Gewalt innerhalb der Favelas von Drogengangs aus, doch die Antwort der Polizei sei oft unverhältnismäßig und willkürlich; und sie erschaffe erst einen Kreislauf der Gewalt, der das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in diesen Vierteln präge. Die Bewohnerinnen und Bewohner würden in der Folge Polizisten nicht mit Sicherheit verbinden, sondern eine Gefahr in ihnen sehen.

79 Prozent der von Polizisten Getöteten waren schwarz, die meisten zwischen 18 und 24 Jahren alt

Wie brutal die Einsatzkräfte vorgehen, zeigte sich erst vor wenigen Tagen erneut auch in der Strandmetropole Rio de Janeiro. Bei einer Razzia in der Favela Vila Cruzeiro kamen mindestens 23 Menschen ums Leben. Es war die zweittödlichste in der Geschichte der Stadt – nach der tödlichsten, die vor einem Jahr stattfand.

Sicherheitskräfte einer Polizei-Spezialeinheit positionieren sich in der Favela Mangueira in Rio de Janeiro

Sicherheitskräfte einer Polizei-Spezialeinheit positionieren sich in der Favela Mangueira in Rio de Janeiro

Foto: Victor R. Caivano/ AP

Die Polizei behauptet, bei der Operation am vergangenen Dienstag unter Beschuss geraten zu sein. Doch die brasilianische Anwaltskammer erhebt schwere Vorwürfe: Einige der Leichen wiesen demnach Anzeichen von Folter auf. Das Gesicht einer der Leichen sei mit einem weißen Pulver – mutmaßlich Kokain – beschmiert worden. Möglicherweise sei das Opfer gezwungen worden, die Droge zu essen, sagte Rodrigo Mondego, Leiter der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer in Rio de Janeiro der Nachrichtenagentur AFP. Zudem bestehe der Verdacht, dass die Opfer regelrecht hingerichtet worden seien. Zeugen hätten berichtet, »dass Männer, die sich der Polizei ergeben hatten, im Wald erschossen wurden«. Allein die hohe Zahl an Toten sei Anlass zur Sorge. »Wenn man sich Statistiken auf der ganzen Welt anschaut, wird man nie ein Feuergefecht finden, bei dem auf einer Seite mehr als 20 Menschen getötet werden und auf der anderen Seite keiner«, so Mondego.

Bei der Operation in Vila Cruzeiro wurden 22 Sturmgewehre, fünf Pistolen sowie Drogen sichergestellt. Zum Vergleich: Bei einem anderen Einsatz der Polizei in Rio de Janeiro im Jahr 2019 beschlagnahmte die Polizei 117 Sturmgewehre des Typs M16, die offenbar einem Ex-Polizisten und Nachbarn von Präsident Jair Bolsonaro gehörten – erschossen wurde bei diesem Einsatz niemand.

Für die Politikwissenschaftlerin Villela zeigt sich ein klares Muster: »Polizisten verhalten sich der armen Bevölkerung gegenüber völlig anders und übersteigert.« Angesichts der sozialen Situation werde das Problem verschärft: »Wir sehen in den vergangenen Jahren einen Wandel in Brasilien: Armut und Ungleichheit wachsen, mehr Menschen leben auf der Straße, leiden Hunger.« Die Betroffenen würden darauf reagieren, sich möglicherweise organisieren oder aber zu illegalen Mitteln im Bereich der Kleinkriminalität greifen, um zu überleben. »Der Staat versucht, diese Menschen in Schach zu halten und abzuschotten.«

Ein Verletzter weint, nachdem Polizisten in der Favela Vila Cruzeiro eine Polizeioperation durchgeführt hatten

Ein Verletzter weint, nachdem Polizisten in der Favela Vila Cruzeiro eine Polizeioperation durchgeführt hatten

Foto: Bruna Prado / dpa

Hinzu komme, dass mit Jair Bolsonaro seit 2019 ein Präsident an der Macht sei, der gewalttätigen Polizisten den Rücken stärke. Auch zur jüngsten Operation in Rio de Janeiro gratulierte Bolsonaro den Einsatzkräften, nannte sie »Krieger«.

Schon im Wahlkampf, so Villela, habe der spätere Präsident auf das für seine Wählerbasis wichtige Thema öffentliche Sicherheit gesetzt. »Den Polizisten gibt er das Gefühl einer Garantie. Sie glauben, dass sie tun können, was auch immer sie für nötig halten.« Kurse zu Menschenrechten und Polizeiethik, eigentlich ein Pflichtprogramm in der Ausbildung von Autobahn-Polizisten, finden inzwischen offenbar reduziert oder gar nicht mehr statt, das zeigen Dokumente, die dem Fernsehsender Globo TV vorliegen.

Bolsonaro, für den die Polizei eine wichtige Säule seiner Macht darstellt, bedachte die Sicherheitskräfte mit steigenden Gehältern. Für 2022 soll die Bundespolizei ein Budget von 1,7 Milliarden Real erhalten, ein Anstieg um fünf Prozent im Vergleich zu 2021. Das Geld soll offenbar verstärkt auch in die Autobahnpolizei investiert werden, die direkt seiner Zentralregierung untersteht. Diese nimmt – neben der den Bundesstaaten unterstellten Militärpolizei – zunehmend eine umstrittene Rolle ein. »Wir beobachten eine Militarisierung und ideologische Ausrichtung«, sagt Villela.

Präsident Jair Bolsonaro fährt ohne Helm Motorrad bei der Einweihung einer Brücke in Porto Velho

Präsident Jair Bolsonaro fährt ohne Helm Motorrad bei der Einweihung einer Brücke in Porto Velho

Foto: Anderson Riedel / AFP

Die Verkehrspolizei mischte jüngst bei immer mehr Großoperationen mit, auch wenn diese eigentlich nicht in ihren Aufgabenbereich fallen. Es waren Verkehrspolizisten, die de Jesus Santos in einen zur tödlichen Falle umgewandelten Kofferraum steckten. Sie waren aber auch bei der tödlichen Operation in der Favela in Rio mit dabei.

Wie sicher sie sich fühlen müssen, macht der Fall von de Jesus Santos überdeutlich. Die Polizisten störten sich offenbar noch nicht einmal daran, dass Umstehende, darunter Familienangehörige, die Tat beobachteten, sogar filmten. Diese Leichtfertigkeit könnte sich noch als Fehleinschätzung entpuppen. Auch weil der Vorgang gut dokumentiert ist, könnten die Polizisten in diesem Fall tatsächlich bestraft werden. »Aber leider haben wir bereits erlebt, dass solche Einzelfälle, die viel Aufmerksamkeit erregen, die generellen Muster nicht verändern«, sagt die Expertin Villela.

Eine Maßnahme, die die Realität auf der Straße hingegen tatsächlich verändert hat, führte vor einem Jahr unter anderem der Bundesstaat São Paulo ein: Er stattete seine Militärpolizisten mit Körperkameras aus. Seither verzeichnete São Paulo einen offiziellen Rückgang der tödlichen Polizeigewalt um 46 Prozent. Seit diesem Montag müssen nun auch Rios Militärpolizisten eine solche Kamera tragen. Für die meisten anderen der 27 Bundesstaaten oder die Autobahnpolizei ist das bisher allerdings nicht vorgesehen.

Mitarbeit: Letícia Bilard

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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