Präsidentschaftswahl Kommt in Kolumbien das erste Mal in 200 Jahren ein Linker an die Macht?

Präsidentschaftskandidat Petro (bei der Abschlusskundgebung seines Wahlkampfs am 22. Mai in Kolumbien): Historische Chance
Foto:Fernando Vergara / dpa
Der Mann, der die besten Chancen hat, der nächste Präsident Kolumbiens zu werden, wird bewacht, als wäre er bereits Staatsoberhaupt. Während der Abschlussveranstaltung seines Wahlkampfs am vergangenen Sonntag trug Gustavo Petro, 62, eine schusssichere Weste, er stand hinter einem gepanzerten Pult und wurde flankiert von zwei Leibwächtern mit Schutzschilden.
Mehrmals hatte der Linkspolitiker Auftritte abgesagt, weil er Morddrohungen erhalten hatte, seine Agenda wird aus Sicherheitsgründen bis zum letzten Moment geheim gehalten. Am Sonntag schwenkte er vor einer jubelnden Menge auf der Plaza de Armas im Zentrum von Bogotá eine Flagge in den Nationalfarben. »Die Stunde ist gekommen!«, rief er. »Alle Gewehre zusammen können die Geschichte nicht so verändern wie ein Schriftzug mit dem Kugelschreiber, das werden wir beweisen. Kommenden Sonntag werden wir die Geschichte Kolumbiens verändern«.
Tatsächlich steht Kolumbien vor einer Zeitenwende, wenn Petro an diesem Tag – oder in der wahrscheinlich nötigen Stichwahl drei Wochen später – zum Staatsoberhaupt des südamerikanischen Landes gewählt wird, wie alle Umfragen vorhersagen. Zum ersten Mal in der über 200 Jahre alten Geschichte des südamerikanischen Landes könnte die Linke an die Macht kommen. Eine reformierte, gemäßigte Linke zwar, wie Petro nicht müde wird zu betonen. Aber für die herrschende Elite ist es dennoch, als schickte sich der Beelzebub persönlich an, in den Präsidentenpalast in Bogotá einzuziehen. In seiner Jugend gehörte Petro einer Guerillabewegung an, zur Vizekandidatin hat er Francia Márquez berufen, eine schwarze Bürgerrechtlerin und Vorkämpferin für Frauenrechte und Umweltschutz. Im konservativen Kolumbien käme ihr Sieg einer Revolution gleich.
Rechte wie Linke warnen vor Wahlbetrug
»Seit den Siebzigerjahren hatten wir nicht so komplizierte Wahlen«, sagt der Jurist und Soziologe Rodrigo Uprimny, ein Kenner der politischen Szene. »Noch nie war das Land so stark polarisiert. Es besteht die reale Gefahr, dass die herrschende Klasse das Ergebnis nicht anerkennt und das Land in ein institutionelles Chaos stürzt.« Rechte wie Linke warnen vor Wahlbetrug; der Heereschef twitterte jüngst gegen einen Sieg Petros – noch nie hat sich das Militär so offen in die Politik eingemischt.
Trotz Drogenkriegs und Guerilla war Kolumbien immer ein Hort politischer Stabilität in der Region. Zwar wurden seit den Achtzigerjahren vier Präsidentschaftskandidaten ermordet; linke Rebellen und rechte Paramilitärs kontrollieren weite Regionen im Landesinneren und begingen abscheuliche Gräueltaten. Aber es gelang ihnen nie, die großen Städte und damit die Machtzentren des Landes einzunehmen. Alle vier Jahre wurde gewählt, Liberale und Konservative wechselten sich an der Macht ab, so sah es eine stille Übereinkunft vor.

Ehemalige Farc-Guerilleros beim Fußballspiel in einem Wiedereingliederungscamp: Die Reintegration der Ex-Rebellen stockt
Foto: RAUL ARBOLEDA/ AFPAls der Pakt platzte, profitierte davon die Rechte: Von 2002 bis 2010 regierte der Rechtspopulist Alvaro Uribe Kolumbien mit eiserner Faust . Er drängte die Guerilla zurück, gleichzeitig pflegte er beste Kontakte zu rechten Paramilitärs. Der Mann aus Medellín war so beliebt, dass er auch bei der Wahl der folgenden zwei Staatschefs entscheidenden Einfluss ausübte. Uribes langjähriger Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, der 2010 zum Präsidenten gewählt wurde und bis 2018 regierte, überwarf sich zwar mit seinem Mentor, als er an die Macht kam: Er schloss 2016 ein Friedensabkommen mit der Guerilla Farc, das Uribe ablehnte. Doch nach dem Ende seiner Regierungszeit vor vier Jahren übernahmen Uribe-Anhänger wieder die Staatsführung. Iván Duque, ein konservativer ehemaliger Weltbankmanager, wurde zum Präsidenten gewählt.
Der Uribe-Mann erwies sich als Fehlbesetzung: Noch nie war ein Präsident zum Ende seiner Amtszeit so unbeliebt. Der versprochene politische Aufbruch blieb aus, unter Duque florierte nur die kleine Oberschicht, der er selbst entstammt. Die soziale Krise verschlimmerte sich; in keinem anderen lateinamerikanischen Land mit Ausnahme Brasiliens ist der Abgrund zwischen Arm und Reich so groß wie in Kolumbien.
Corona ließ die Krise eskalieren
Die im Friedensabkommen versprochene Landreform blieb weitgehend aus, die Wiedereingliederung der entwaffneten Ex-Guerrilleros der Farc stockt. Zugleich explodierte die Gewalt auf dem Land, wo sich abtrünnige Rebellen und ehemalige Paramilitärs mit Drogenhändlern zu bewaffneten Banden zusammengeschlossen haben.
Corona ließ die Krise eskalieren, Hunderttausende verloren ihren Job. Zwischen 2019 und 2021 kam es in den wichtigsten Städten des Landes zu Massendemonstrationen, die Polizei reagierte mit außergewöhnlich brutaler Gewalt. Unterdessen besetzten Duque und sein Mentor Uribe Schlüsselposten wie die Generalstaatsanwaltschaft mit ihren Anhängern. »Weite Teile der öffentlichen Verwaltung sind heute in der Hand der Rechten«, sagt Uprimny.

Antiregierungsproteste (am 1. Mai 2021 in Bogotá): Explosion der Gewalt
Foto: Fernando Vergara / dpaWeil die versprochenen Reformen immer wieder verschoben wurden, ist der Wunsch nach Wandel jetzt übermächtig. Davon profitiert die demokratische Linke, die dem bewaffneten Kampf entsagt hat. »Die Protestbewegung hat die Linke gestärkt«, sagt Uprimny. »Zugleich ist der Einfluss Uribes geschwächt.« Korruptionsvorwürfe und seine engen Verbindungen zu Paramilitärs haben Uribes Ruf beschädigt, er muss sich vor Gericht verantworten. Auch hilft der Linken, dass die Guerilla keine große Gefahr mehr darstellt.
Hinzu kommt: Der 62-jährige Petro ist trotz seiner Guerillero-Vergangenheit kein Radikaler. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an einer privaten Universität; in den Achtzigerjahren gehörte er der Guerilla M-19 an, einer städtischen Rebellenbewegung, die mit spektakulären Aktionen wie der Erstürmung des Justizpalasts in Bogotá 1985 Aufsehen erregte. 1990 legte sie die Waffen nieder und verwandelte sich in eine politische Partei. Petro war Abgeordneter und Senator im Kongress, von 2012 bis 2015 regierte er als Bürgermeister die Hauptstadt Bogotá. Für das Präsidentenamt kandidiert er zum zweiten Mal.
»Petro ist ein Caudillo«
Ansehen erwarb er sich wegen seines unerschrockenen Kampfs gegen die rechten Paramilitärs, die unter Uribe Teile des Staates und des Sicherheitsapparats unterwandert hatten. Petro ist nicht besonders charismatisch, aber er ist ein versierter Debattierer und belesen. Er strebt einen Wandel des Wirtschaftsmodells an, will die Reichen stärker besteuern und hat dem Klimawandel den Kampf angesagt: Kolumbien bezieht einen Großteil seiner Devisen aus der Ausfuhr von Öl und Kohle, diese Abhängigkeit will er verringern. »Er wünscht sich eine Art grüne Sozialdemokratie«, sagt Uprimny.
Dennoch sieht er Petros Kandidatur kritisch: »Petro neigt zum Autoritarismus, er ist ein Caudillo.« Jüngst verkündete der Kandidat, dass er als Präsident den wirtschaftlichen Notstand ausrufen will – er bräuchte wichtige Gesetzesvorhaben dann nicht dem Kongress vorzulegen und könnte per Dekret regieren. »Petro fühlt sich nicht sehr an den Rechtsstaat gebunden«, sagt Uprimny. »Er könnte seine Anhänger leicht gegen die Institutionen aufwiegeln.« Diese Versuchung ist umso größer, weil Petros Parteienbündnis Pacto Histórico über keine Mehrheit im Kongress verfügt.
Rechte Unternehmer und Politiker warnen vor einer Diktatur wie im benachbarten Venezuela, einige Reiche bringen ihr Geld außer Landes. Ihr Kandidat war bislang Federico »Fico« Gutiérrez, ein ehemaliger Bürgermeister von Medellín. Doch in Umfragen stagniert er bei etwas über 20 Prozent, in einer Stichwahl hätte er gegen Petro vermutlich keine Chance.

Politikerin Betancourt, Kandidat Hernández: Schützenhilfe für einen politischen Raufbold
Foto: - / AFPImmer mehr Petro-Gegner laufen offenbar zu dem Kandidaten Rodolfo Hernández über, einem populistischen Außenseiter, der seinen Wahlkampf monothematisch mit dem Kampf gegen die Korruption bestreitet. Der 77-jährige ehemalige Bauunternehmer war 2016 zum Bürgermeister der Großstadt Bucaramanga gewählt worden. Zwei Jahre später wurde er vorübergehend vom Amt suspendiert, weil er einen Stadtrat mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Sein Ruf als politischer Raufbold ficht ihn nicht an: »Ich habe mit der Fauna aus korrupten Politikern aufgeräumt, die die Stadt ausgeplündert hatten«, tönte er gegenüber dem SPIEGEL während eines Mittagessens in Bogotá. »Vier Wochen vor der Wahl lag ich in Umfragen bei vier Prozent, gesiegt habe ich mit 32.« Jetzt will er das politische Kunststück auf nationaler Ebene wiederholen. »Auf die Umfragen ist kein Verlass; viele Wähler schämen sich, die Wahrheit zu sagen.«
Hernández hat keine Partei hinter sich; seinen Wahlkampf finanziere er aus eigener Tasche, sagt er. Vor allem in den sozialen Medien ist er stark präsent, dort wirbt er als »der Alte von TikTok« um Stimmen. »Für mich gibt es kein links oder rechts«, sagt er. »Die große Mehrheit der Politiker sind Verbrecher, die sich ein Mäntelchen umgehängt haben und die Interessen des Volkes verraten.«
Die Politikverdrossenheit ist groß
Solche Sprüche kommen bei vielen Kolumbianern gut an, die Politikverdrossenheit ist groß. Umfragen zufolge wird sich Hernández ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den zweiten Platz mit dem Rechten Gutiérrez liefern. In einer Stichwahl könnte er Demoskopen zufolge als Einziger dem Linken Petro gefährlich werden: Er passt in kein politisches Schema, Attacken auf die Rechte verfangen bei ihm nicht.
Sein überraschender politischer Aufstieg hat Hernández die Unterstützung einer der umstrittensten Figuren der kolumbianischen Politik eingebracht: Die einstige Grünenpolitikerin Ingrid Betancourt, die während ihrer ersten Präsidentschaftskandidatur 2002 von der Guerilla Farc gekidnappt wurde und sich sechs Jahre in Geiselhaft befand, hat ihre eigene Kandidatur aufgegeben und sich bei einem gemeinsamen Auftritt für die Wahl Hernández’ ausgesprochen. Er sei der einzige aussichtsreiche Kandidat des politischen Zentrums, versichert sie.
Viele Stimmen dürfte die Franko-Kolumbianerin, die im Ausland einen besseren Ruf genießt als in ihrer Heimat, dem Alten allerdings nicht bescheren: Bei ihrer eigenen Kandidatur kam sie laut Umfragen nicht über ein Prozent hinaus.