Umgang mit Kolonialdenkmälern "Zu sagen, das waren andere Zeiten, hilft nicht"

In Großbritannien wurden Statuen von Sklavenhändlern gestürzt - Ausdruck der Debatte über Rassismus. Der Experte Kehinde Andrews fordert einen kritischeren Blick auf die Kolonialzeit und Winston Churchill.
Ein Interview von Julia Smirnova
"Die Zeit der Sklaverei ist vorbei": Die Statue Edward Colstons fliegt ins Wasser (inzwischen wurde sie aus dem Hafen geholt)

"Die Zeit der Sklaverei ist vorbei": Die Statue Edward Colstons fliegt ins Wasser (inzwischen wurde sie aus dem Hafen geholt)

Foto: Keir Gravil/ KEIR GRAVIL via REUTERS

SPIEGEL: Am Wochenende wurde in Bristol die Statue von Edward Colston vom Sockel gestürzt, die Statue von Robert Milligan in London wurde einige Tage später entfernt. Beide waren Sklavenhändler. Ein richtiger Schritt?

Andrews: Es war überfällig. Die Forderungen, Colstons Statue zu entfernen, gab es schon seit Jahren. Bristol ist eine multikulturelle Stadt. Für die Nachfahren versklavter Menschen ist es ein Affront, dass sie im 21. Jahrhundert überall in der Stadt Colston sehen. Denn es gibt nicht nur diese Statue, auch Straßen und Gebäude sind nach ihm benannt. Zu sehen, dass sie gestürzt war, war für viele ein guter Moment. Das Gleiche gilt für die Diskussion über die Sklaverei in London.

SPIEGEL: Warum stand Colstons Statue bis vor wenigen Tagen?

Andrews: Colston ist symbolisch für Bristol. Die Stadt hat den Großteil ihres Reichtums dem Sklavenhandel zu verdanken. Colston spendete sehr viel Geld an die Stadt und ist damit Teil von Bristols Geschichte.

Zur Person
Foto: Birmingham City University

Kehinde Andrews, Jahrgang 1983, ist Professor an der Universität Birmingham. Er hat den ersten Black-Studies-Studiengang in Großbritannien mit aufgebaut. Andrews forscht zum Thema schwarzer radikaler Aktivismus. 

SPIEGEL: Was sagen Sie zur Kritik, wenn man Statuen entferne, werde Geschichte gelöscht?

Andrews: Denkmäler halten nicht die Geschichte fest. Sie halten die Version der Geschichte fest, an die sich die Zeitgenossen erinnern wollen. Sie sagen etwas über den Moment, in dem die Statue errichtet wurde - im Fall von Colston das Ende des 19. Jahrhunderts, 170 Jahre nach seinem Tod. Überall in Großbritannien gibt es Denkmäler für Menschen, die Sklavenhändler, Rassisten oder Anhänger der Eugenik waren. Sie sind Teil des öffentlichen Raums.

SPIEGEL: Weil viele Menschen nicht über den historischen Hintergrund Bescheid wissen, oder weil er ihnen egal ist?

Andrews: Zum Teil geht es um Ignoranz. In einer Umfrage von 2014 sagten 60 Prozent der Briten, auf das Empire könne man stolz sein. Es würde mich nicht überraschen, wenn viele Menschen einfach nicht wissen, dass Kolonialherren wie Cecil Rhodes, dessen Statue Menschen in Oxford entfernen wollen, für den Tod von Tausenden oder sogar Millionen Menschen mitverantwortlich waren.

SPIEGEL: Und die Gleichgültigkeit?

Andrews: Viele Briten haben die Haltung: Das war schlimm, aber das war die Vergangenheit. Sie verbinden diese Vergangenheit nicht mit der Gegenwart. Die Zeit der Sklaverei ist vorbei, aber wir leben immer noch mit ihren Folgen.

DER SPIEGEL

SPIEGEL: Was sollte mit Colstons Statue passieren? Inzwischen wurde sie aus dem Wasser geholt.

Andrews: Sie hätte von mir aus gern im Hafenbecken bleiben sollen. Das wäre der perfekte Ort gewesen.

SPIEGEL: Wie kann Bristol sich anders an seine koloniale Geschichte erinnern?

Andrews: Es gibt eine Diskussion, ob jetzt an der Stelle, wo früher Colstons Statue stand, die Statue von Paul Stephenson errichtet werden soll. Er führte 1963 den Boykott gegen die Bristol Omnibus Company an, weil sie beschlossen hatte, keine schwarzen und asiatischen Busfahrer einzustellen. Ich glaube, das wäre ein guter Schritt.

SPIEGEL: Aber nicht genug?

Andrews: Die Diskussion muss weiter gehen, über die Statuen und Denkmäler hinaus. Das heutige Erbe der Sklaverei, der heutige Rassismus wären mit einer anderen Statue nicht thematisiert. Die Frage alter Denkmäler bewegt sich an der Oberfläche. Wir müssen uns fragen, wie wir die heutige Gesellschaft verändern können.

SPIEGEL: Viele Aktivisten sagen, man müsste an Schulen mehr über die schwarze Geschichte sprechen.

Andrews: Wenn diese Themen ausreichend unterrichtet würden, hätten wir jetzt diese Diskussion über den Sturz von Sklavenhändlerstatuen nicht. Man hätte sie schon längst entfernt. Ich bin nicht so alt, und als ich in Birmingham zur Schule gegangen bin, haben wir im Geschichtsunterricht kaum etwas über Europa hinaus gelernt.

SPIEGEL: Hat sich seither etwas geändert?

Andrews: Die Lehrpläne wurden leicht angepasst, sind aber sehr stark auf Großbritannien  und Europa  fokussiert. Leider wissen viele Menschen immer noch nicht, welche Rolle Gewalt im Empire gespielt hat, weil das in der Schule wenig diskutiert wird.

SPIEGEL: Warum ist es so schwierig, darüber zu sprechen?

Andrews: Weil das Erbe des Empire immer noch unter uns ist. Die Idee der Überlegenheit der Weißen, die Idee, dass Weiße im Namen des Fortschritts braune und schwarze Menschen missbrauchen können, hat sich nicht so wahnsinnig stark verändert. Es gibt die globale Ungleichheit, und die Länder in Afrika  gehören zu den ärmsten auf der ganzen Welt. Es ist kein Zufall, dass die Welt mit diesen Hierarchien immer noch auf den Ideen der weißen Vorherrschaft fußt, die zu den Denkern der Aufklärung führt. Wenn wir die Debatte darüber führen, dass es nicht in Ordnung ist, billige Arbeit in Afrika oder die Ressourcen dieser Länder zu nutzen, um etwa Smartphones für die reiche Welt zu produzieren, müssen wir auch über das Erbe der Sklaverei und des Kolonialismus  reden.

SPIEGEL: Sie haben in Birmingham vor drei Jahren den ersten Black-Studies-Studiengang in Großbritannien mit aufgebaut, der sich vor allem mit schwarzen Denkern und Aktivisten auseinandersetzt. Hat sich die Lage an den Universitäten seitdem verändert?

Andrews: Das Black-Studies-Programm hat in unserem Bereich etwas verändert, aber nicht daran, wie die Geschichte an anderen Fakultäten der Universität unterrichtet wird. Ich glaube, bei den Studierenden konnten wir viel bewegen, und einige Universitäten haben auch ihre Programme angepasst. Aber ich bin mir nicht sicher, dass die Eliteunis wie Oxford  und Cambridge  großes Interesse daran haben.

SPIEGEL: Noch mehr Kontroversen als der Sturz der Colton-Statue hat das Graffito auf dem Churchill-Denkmal am Parliament Square ausgelöst, das sagte, er sei ein Rassist gewesen.

Andrews: Churchill  ist sehr wichtig für den Mythos, den die Briten über sich selbst haben. Einige sagen: Vielleicht war er ein Rassist, aber er hat den Krieg gewonnen. Die einfache Version ist: Churchill war wunderbar, und die Nazis waren schrecklich. Dabei halten wir die Nazis für antimoderne Bösewichte, die aus dem Nichts aufgetaucht sind, und vergessen, wie verbreitet zur gleichen Zeit in Großbritannien Eugenik war, Churchill hat sie auch unterstützt.

SPIEGEL: Wie typisch waren Churchills heute kontroverse Ansichten für seine Zeit?

Andrews: Die Eugenik war sehr populär, aber es geht nicht nur darum. Auch seine Zeitgenossen waren der Meinung, dass er Rassist war. Leo Amery, Churchills Minister für Indien, hat Churchill in Tagebüchern wegen dessen Meinungen über Inder mit Hitler  verglichen. Sogar Premierminister Boris Johnson  erwähnt in seiner Churchill-Biografie, dass junge progressive Tory-Abgeordnete wegen Churchills extremen Eugenik-Ideen misstrauisch waren. Und zur gleichen Zeit gab es auch antirassistische und antikoloniale Ideen. Zu sagen, das waren andere Zeiten, hilft nicht.

SPIEGEL: Für viele Menschen ist Churchill aber jemand, der maßgeblich dazu beitrug, Europa vor den Nazis zu retten. Gibt es eine Form der Erinnerung, die beiden Seiten gerecht wird?

Andrews: Man muss Churchill nicht vergessen, aber man muss ihn nicht unbedingt ins Zentrum der Erinnerung rücken. Er ist unter anderem verantwortlich für die Hungersnot in Bengalen, bei der bis zu drei Millionen Menschen gestorben sind. Aus meiner Sicht sollte das jemanden disqualifizieren, wenn darüber entschieden wird, ob Denkmäler errichtet werden. Wenn man sagt, dass Churchill den Krieg gewonnen hat, wird oft übersehen, dass es ein Weltkrieg  war, dass auch Menschen in den Kolonien gekämpft haben, dass auch meine karibische Familie in diesem Krieg gekämpft und ihn mitgewonnen hat. Die britische Sicht auf die Rolle des Landes in Europa ist oft sehr eng, und es würde guttun, wenn man am gegenwärtigen Bild von Churchill rüttelt.

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