Gestoppter Abschiebeflug nach Ruanda Protokoll des Scheiterns

In letzter Minute gestoppt: Abschiebeflug nach Ruanda
Foto: Hannah McKay / REUTERS
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Als eine Boing 767 auf dem Rollfeld des Luftwaffenstützpunktes Boscombe in Großbritannien die Triebwerke warmlaufen lässt, sitzt Ismael Bakina in seinem Hostel in Kigali. Bald ist es so weit, der Flieger wird über Nacht neue Gäste zu ihm bringen. Klar, freiwillig kommen sie nicht, aber die abgeschobenen Asylbewerber sollen es trotzdem schön haben im Hope Hostel, dessen Manager er ist. Auf den Nachttischen stehen Kosmetikprodukte, über die weißen Bettdecken sind dekorative Stoffbänder drapiert, die langen Tafeln im Speiseraum haben frische rote Tischdecken bekommen.
Hinter der Rezeption hängen zwei große Uhren, darüber Schilder: »London Time« und »Paris Time«. Die linke Uhr, London Time, zeigt fast 20 Uhr, als die Nachrichten eintreffen. Der Flug wurde gestrichen, Ismael Bakinas Gäste kommen doch nicht. Ein Urteil im fernen Straßburg verhindert ihre Ankunft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Abschiebung von sieben Asylbewerbern aus dem Vereinigten Königreich nach Ruanda gestoppt. Gegen Mitternacht verlässt Bakina das Hope Hostel, fährt nach Hause. Es ist kein guter Tag für ihn.
Am Montag, einen Tag zuvor, sieht die Welt noch ganz anders aus. Ismail Bakina hat seinen besten Anzug angezogen, er wirkt äußerst zufrieden, fast aufgeregt. Mit durchgestrecktem Rücken steht er vor der versammelten internationalen Presse, er gestikuliert viel, spricht von Zweibettzimmern und Raucherbereichen. Neben Bakina passt ein Vertreter der ruandischen Regierung auf, dass er nichts Falsches sagt. »Wir sind bereit«, sagt der Manager und lächelt. Der Aufpasser schaut zufrieden.

Hier war alles bereit für die Asylbewerber aus Großbritannien: das Hope Hostel in Kigali
Foto: Simon Wohlfahrt / AFP
Ismael Bakina, der Manager des Hope Hostels, hier im Mai 2022
Foto: Simon Wohlfahrt / AFP72.000 Ruanda-Francs, umgerechnet 70 US-Dollar, koste eine Übernachtung mit Vollpension, erzählt Bakina den Journalisten. Mehr als 100 Asylbewerber kann er aufnehmen, seine Herberge ist von der ruandischen Regierung komplett gebucht. Dann werden die TV-Teams durch das Haus geführt, auch DER SPIEGEL ist dabei. Durch den Speisesaal, durch die hergerichteten Zweibettzimmer, durch den Garten, sogar in den extra eingerichteten Befragungsraum, wo die Geflüchteten ihren Asylantrag stellen sollen, wider Willen.
Denn keinen der Asylbewerber zieht es freiwillig nach Ruanda, im Gegenteil. Sie waren vorgesehen als Opfer eines zynischen Deals, geschlossen zwischen der britischen und der ruandischen Regierung. Migrantinnen und Migranten, die den Ärmelkanal in Schlauchbooten durchqueren, sollen erst gar keine Chance auf Asyl in Großbritannien bekommen. Stattdessen sollen sie, so der Plan, postwendend nach Ruanda abgeschoben werden und dort Asyl beantragen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Die Chronologie der vergangenen Tage war gut durchdacht, sogar eine britische PR-Firma hat im Hintergrund mitgewirkt. Am Dienstagnachmittag, wenige Stunden vor dem geplanten Abschiebeflug, lädt die ruandische Regierung ins Außenministerium ein. Der Beginn verzögert sich ein wenig, die Medienvertreter müssen noch einen Covid-Schnelltest machen, es wird auf den letzten Journalisten gewartet. Jeder Artikel, jeder Fernsehbeitrag zählt, der Flüchtlingsdeal wird hier in Kigali nicht versteckt. Im Gegenteil.

Da waren sie noch siegessicher: Pressekonferenz im ruandischen Außenministerium am Dienstag
Foto: Cyril Ndegeya / Anadolu Agency / Getty ImagesNach den Fragen der ruandischen Journalistinnen und Journalisten nickt Regierungssprecherin Yolande Makolo freundlich, es sind Fragen wie »Wie können die Asylbewerber reguläre Bewohner Ruandas werden?« oder »Welche Freizeitbeschäftigungen werden ihnen geboten?« Die Presse in Ruanda ist nicht frei, wer kritisch berichtet, riskiert schwere Konsequenzen. Die Fragen der britischen Kolleginnen und Kollegen klingen da schon anders: »Der Deal stößt weltweit auf Kritik. Stört Sie das nicht?« oder: »Die Kirche von England kritisiert das Abkommen scharf. Was sagen Sie als christliche Nation dazu?«
Doch auch das bringt die Regierungssprecherin nicht aus dem Konzept, natürlich hat sie Gegenwind erwartet. »Wir haben aufrichtige Beweggründe«, antwortet Yolande Makolo. Ruanda sei eine Nation, die Geflüchteten schon immer ein sicheres Zuhause geboten habe. Bei der Pressekonferenz wird deutlich: Die Regierung ist mit sich im Reinen, das Abkommen mit dem Vereinigten Königreich ist ihre große Chance, ein Adelsschlag für eine Nation mit zwielichtiger Menschenrechtslage. Sollen die Journalisten aus England doch ihre kritischen Fragen stellen.
Dabei ist zu diesem Zeitpunkt der Deal schon in sich zusammengesackt wie ein Soufflé. In den Tagen zuvor wurden aus mehr als 100 Asylbewerbern knapp 30, dann 11, am Dienstagnachmittag waren laut Medienberichten gerade einmal sieben übrig. Die anderen hatten die britischen Behörden wieder von der Passagierliste gestrichen, wegen rechtlicher Bedenken. Aus London kamen trotzdem kämpferische Signale: Selbst wenn nur ein Passagier an Bord sei, man werde fliegen. Immerhin hatten zwei Gerichte in England zuvor einstweilige Verfügungen der Asylbewerber abgelehnt.
»Einige haben ein falsches Bild von Ruanda«
»Wir werden uns gut um die Migranten kümmern«, sagt die Regierungssprecherin also am Dienstagnachmittag. »Einige haben ein falsches Bild von Ruanda«, ergänzt sie. Noch im vergangenen Jahr hatte die britische Regierung Ruanda wegen Menschenrechtsverletzungen gerügt, schließlich werden im kleinen ostafrikanischen Land Kritiker weggesperrt, mutmaßlich gefoltert, manche verschwinden ganz von der Bildfläche.
Jetzt plötzlich ist Ruanda »Freund und Partner«, so sagt es die britische Innenministerin Priti Patel, Ruanda sei »ein sicheres Land, das Rechtsstaatlichkeit gewährleistet«. Das muss sie auch sagen, denn sonst dürfte ihre Regierung keine Asylbewerber dorthin schicken.
Yolande Makolo ist sichtlich zufrieden, dass an diesem Dienstag so viele Journalisten aus aller Welt nach Kigali gekommen sind. Die meisten Weißen sitzen in den vorderen Reihen, sie werden von den ruandischen Medien ausgiebig gefilmt. Die Botschaft ist klar: Unser Land wird ernstgenommen im Rest der Welt.

Straßenszene in Kigali
Foto: Jean Bizimana / REUTERS
Ruanda gibt sich gerne als afrikanisches Vorzeigeland, doch Präsident Paul Kagame regiert autokratisch
Foto: Victoria Jones / dpaDann, gegen 20 Uhr Londoner Zeit, platzt die schöne Illusion. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine einstweilige Verfügung erlassen, ein Iraker an Bord darf nicht abgeschoben werden. Knapp eine Stunde später ist klar: Der gesamte Flieger bleibt am Boden.
Das Urteil ist eine Blamage für die ruandische Regierung, die wenige Stunden zuvor noch so siegessicher wirkte. Am Ende hat wohl auch eine juristische Analyse des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR den Ausschlag gegeben. Das Asylsystem in Ruanda sei mangelhaft, heißt es dort, internationale Standards würden teilweise nicht eingehalten. Die Uno-Juristen berichten von Ereignissen aus dem Jahr 2018, damals protestierten Hunderte Geflüchtete gegen gekürzte Essensrationen. Am Ende waren 12 von ihnen tot, erschossen von ruandischen Sicherheitskräften. 66 weitere wurden verhaftet, einige sitzen bis heute im Knast.

Nadia studiert inzwischen in Kigali, sie möchte auf den Bildern lieber nicht erkannt werden
Foto: Iba Ikuzwe / DER SPIEGELNadia kann sich noch gut an die Tage im Februar 2018 erinnern. Das Welternährungsprogramm hatte gerade die Essensrationen um 25 Prozent gekürzt, die Geflüchteten vor allem aus der Demokratischen Republik Kongo litten Hunger. Sie zogen vor das UNHCR-Büro, darunter mehrere Mitglieder von Nadias Familie. Erst flogen Tränengaskanister, dann scharfe Munition. Ein Verwandter von ihr sei noch immer im Gefängnis, erzählt sie, ein weiterer habe sein Bein verloren. »Ich habe seither große Angst vor der ruandischen Polizei«, sagt die Kongolesin.
Nadia sitzt auf den Stufen vor dem Hörsaal ihrer Universität in Kigali, sie rückt die Brille mit dem durchsichtigen Rand zurecht, schaut sich kurz um. Die Studentin spricht leise, wenn sie von den Ereignissen vor vier Jahren erzählt. Denn sie hat seither Glück gehabt, das will sie nicht aufs Spiel setzen. Die 20-Jährige hat ein Stipendium bekommen, als eine von fünf Geflüchteten aus ihrem Camp. Es war ihr Ticket raus aus dem Elend. »Ich kann nicht in Worte fassen, wie glücklich ich war, als ich den Bescheid in den Händen hielt«, sagt sie.
Ihre Familie wohnt noch immer im Lager, seit nunmehr sieben Jahren. Sie waren damals vor den Kämpfen im Osten des Kongos geflohen, heute hausen sie zu zehnt in einer kleinen Hütte. Im Camp fehle es an allem, sagt die Studentin. Viele Frauen würden sich prostituieren, um überhaupt etwas zu essen zu bekommen.
Vor ein paar Tagen kamen bei Nadia die Erinnerungen an 2018 wieder hoch. Ihrer Familie wurde ein Zettel ausgehändigt, die 20-Jährige musste ihn mehrmals lesen, um die Tragweite zu begreifen. Das Bargeld für Essensrationen soll gekürzt werden, um die Hälfte, so steht es geschrieben. »Wir können uns dann nur noch eine Mahlzeit am Tag leisten«, sagt die Studentin.
Ein kleines Tortendiagramm des UNHCR zeigt den Ernst der Lage. Es illustriert, wie viel Prozent der benötigten Geldmittel für die Flüchtlingslager in Ruanda gesichert sind. Nicht einmal ein Fünftel des Kreises ist ausgefüllt, in der Mitte steht in großen schwarzen Buchstaben »18 Prozent«. Wenn sich das nicht bald ändert, gibt es noch weniger Essen für die Geflüchteten, noch mehr Verzweiflung in den Lagern.
Es gibt noch eine weitere Statistik des UNHCR, darin sind die einzelnen Geldgeber aufgelistet. In früheren Jahren tauchte das Vereinigte Königreich mal ganz oben in dieser Liste auf, 2020 hat Großbritannien noch 135 Millionen Euro an das Flüchtlingshilfswerk überwiesen. Doch Boris Johnson hat inzwischen andere Prioritäten, im vergangenen Jahr ist nicht einmal die Hälfte dieser Summe geflossen. In den ersten Monaten dieses Jahres sieht es nicht besser aus.
Großbritannien hat Ruanda 120 Millionen Pfund fest zugesagt – und das ist nur die Anzahlung
Ein paar Kilometer von Nadias Universität entfernt, vor dem Hope Hostel, macht ein französischer Fernsehreporter am Mittwochvormittag einen Aufsager. Er erzählt, dass die Asylbewerber nun doch nicht kommen, dass der Flug in letzter Minute gestoppt wurde. Zwei ruandische Sicherheitskräfte stehen daneben, sie sehen nicht sehr glücklich aus. Ismael Bakina, der Hotelmanager, reagiert nicht mehr auf WhatsApp-Nachrichten. Die Regierungssprecherin schickt unterdessen eine trotzige Kurzmitteilung: »Ruanda fühlt sich weiterhin dazu verpflichtet, das Abkommen mit Großbritannien umzusetzen.«
Die Regierung von Boris Johnson hat Ruanda 120 Millionen Pfund fest zugesagt, und das ist nur die Anzahlung für den Deal. Hinzu kommt eine Pauschale pro Asylbewerber. Der gestrichene Abschiebeflug am Dienstag hat laut Medienberichten 500.000 Pfund gekostet. Großbritannien lässt es sich ordentlich was kosten, die Flüchtlinge nach Afrika zu verfrachten. Nadia sagt: »Das zeigt doch: Die haben genug Geld. Das Schicksal von uns Flüchtlingen ist ihnen einfach egal.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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