Russlands Angriff auf die Ukraine Rückzug aus dem Norden – heftigere Angriffe im Osten? Das geschah am 38. Kriegstag

Die Ukraine bestätigt den Rückzug der russischen Truppen aus dem Norden des Landes. Und: Moskau bezeichnet die Gespräche mit Kiew als »wichtig«. Der Überblick.
Zerstörtes russisches Militärgerät bei Tschernihiw im Norden der Ukraine am 28. März

Zerstörtes russisches Militärgerät bei Tschernihiw im Norden der Ukraine am 28. März

Foto: ANDRZEJ LANGE / EPA

Wie Russland bereits angekündigt hatte, ziehen sich nun Putins Truppen aus dem Norden der Ukraine zurück – dies bestätigt inzwischen auch die Regierung in Kiew. Dabei soll es sich um einen raschen Rückzug handeln, bei dem Moskaus Militär offenbar viel Ausrüstung hinterlässt. Parallel zum offenbaren militärischen Debakel scheint Russland die Gespräche mit der Ukraine weiterführen zu wollen. Es ist Tag 38 des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Der Überblick:

Militärische Lage

Es soll sich um einen »schnellen Rückzug« handeln, sagte der ukrainische Präsidentenberater Michajlo Podoljak zu den Bewegungen des russischen Miltärs im Norden der Ukraine. Putins Truppen ziehen sich aktuell vor allem aus den Regionen rund um die Hauptstadt Kiew und Tschernihiw im Norden des Landes zurück. Deswegen hätten die ukrainischen Truppen »mehr als 30 Ortschaften« zurückerobern können, sagte Oleksij Arestowitsch, ein weiterer Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, in einem Video.

Die ukrainische Regierung meldete sogar, die Truppen hätten die Region um die Hauptstadt Kiew wieder vollständig unter ihre Kontrolle gebracht. »Irpin, Butscha, Hostomel und die gesamte Region Kiew wurden von den Invasoren befreit«, schrieb Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar auf Facebook.

Der Rückzug scheint für Russland jedoch nicht ohne Schäden zu verlaufen. Die russische Armee habe »eine große Zahl von Militärfahrzeugen ohne Treibstoff« zurückgelassen, sagte Arestowitsch weiter. Die Angaben können nicht überprüft werden, doch sie stimmen mit den Analysen mehrerer Experten überein. Der Militärexperte Michael Kofman schrieb in einem Tweet: »Es wird eine beträchtliche Menge an verlassener Ausrüstung im Raum Kiew erbeutet, die die russischen Streitkräfte wahrscheinlich zurückgelassen haben.«

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Kiew glaubt, hinter dem Rückzug stecke der Wille des Kremls, sich auf den Süden und den Osten der Ukraine fokussieren zu wollen. Russland habe eine »andere Taktik gewählt«, erklärte Podoljak im Messengerdienst Telegram. Tatsächlich meldete die Ukraine weitere Luftangriffe auf die Städte Mariupol, Charkiw und Tschernihiw. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte vor einer weiteren Eskalation um die seit Wochen von Russland belagerten Hafenstadt Mariupol. Auch Kofman erwartet, dass das russische Militär sich nun vor allem auf den Donbass im Osten der Ukraine konzentrieren wird.

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»Die nächste entscheidende Schlacht wird im Donbass stattfinden, wo sich russische Einheiten neu formieren und versuchen werden, die Truppen der Ukraine zurückzudrängen. Diese Front gilt es in den kommenden Wochen zu beobachten. Wie sich diese Schlacht entwickelt, wird wahrscheinlich Moskaus Überlegungen zu den Aussichten auf einen anhaltenden Krieg beeinflussen«, schrieb der Experte weiter in einem Twitter-Thread.

Humanitäre Lage

Nach dem Rückzug der russischen Armee aus dem Norden der Ukraine werden die Spuren des Konflikts immer deutlicher. Im Kiewer Vorort Butscha sind nach Behördenangaben fast 300 Menschen in Massengräbern beerdigt worden. Erst am Samstag waren dort mindestens 20 neue Leichen entdeckt worden. Die Opfer trugen zivile Kleidung, berichtet die Nachrichtenagentur AFP. Die Straßen der durch die Kämpfe stark zerstörten Kleinstadt seien mit Leichen übersät, sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk.

In einem Dorf nördlich von Kiew haben ukrainische Soldaten außerdem die Leiche des berühmten Fotografen Maks Levin gefunden. Eines seiner Bilder wurde vor wenigen Wochen auf dem SPIEGEL-Cover gedrückt.

Trotz des Krieges kehren Tausende Ukrainer offenbar aus dem Ausland zurück in ihre Heimat. Allein in dem Gebiet der westukrainischen Metropole Lwiw (Lemberg) hätten innerhalb von 24 Stunden 19.000 Menschen die Grenze überquert, schrieb der örtliche Militärchef Maxim Kosyzkyj bei Facebook.

Nach Einschätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind seit dem Beginn der russischen Invasion schon 4,02 Millionen Menschen ins Ausland geflohen. In Deutschland wurden am Samstag nach Angaben der Bundespolizei innerhalb eines Tages rund 5300 weitere Geflüchtete aus der Ukraine registriert. Wie das Bundesinnenministerium am Samstag auf Twitter mitteilte, hat die Polizei damit seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar nahezu 300.000 Kriegsflüchtlinge erfasst. Überwiegend handele es sich um Frauen, Kinder und alte Menschen.

Das sagt der Kreml

Nach einem angeblichen Angriff von Hubschraubern auf ein Öllager nahe der russischen Stadt Belgorod hat der Kreml ein Strafverfahren wegen eines Terroranschlags gegen das ukrainische Militär eingeleitet. Zwei mit schweren Angriffswaffen ausgestattete ukrainische Kampfhubschrauber seien am Freitag illegal in den russischen Luftraum eingedrungen und hätten dann mindestens vier Luftschläge gegen den Kraftstoffkomplex verübt. Die ukrainische Seite hatte die Attacke nicht zugegeben.

Trotz des mutmaßlich ukrainischen Angriffs zeigte sich Russland zu weiteren Gesprächen mit Kiews bereit. Die Gespräche mit der Ukraine seien bisher nicht einfach gewesen, aber das Wichtigste sei, dass sie fortgesetzt würden, zitierte die Nachrichtenagentur RIA Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Er sagte auch, dass Russland die Gespräche mit der Ukraine gerne im benachbarten Belarus fortsetzen würde, aber Kiew lehnte diese Idee ab. Russland und die Ukraine hatten im vergangenen Monat mehrere Gesprächsrunden in Belarus abgehalten, bevor sich ihre Delegationen letzte Woche in Istanbul trafen.

Bei landesweiten Protesten gegen den Militäreinsatz in der Ukraine sind nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten am Samstag in Russland fast 180 Menschen festgenommen worden. Bis zum Nachmittag habe es mindestens 178 Festnahmen in 15 Städten gegeben, teilte die Nichtregierungsorganisation OVD-Info mit.

Auf internationaler Ebene hat Moskau mit einem Ende der Zusammenarbeit auf der Internationalen Raumstation ISS gedroht, wenn die USA und andere westliche Staaten ihre Sanktionen gegen Russland nicht zurücknehmen.

So reagiert der Westen

Polen drängte auf eine weitere Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland. Bei einem Treffen mit EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in einem polnischen Aufnahmezentrum für Geflüchtete verwies der nationalkonservative Ministerpräsident Mateusz Morawiecki darauf, dass der Kurs des russischen Rubels inzwischen wieder das Niveau vor dem Angriff auf die Ukraine erreicht habe.

»Das bedeutet, dass alle wirtschaftlichen Maßnahmen – mikro- und makroökonomische, finanzielle, haushaltspolitische und monetäre – nicht so gegriffen haben, wie sich das einige Politiker gewünscht haben«, sagte Morawiecki. Die Europäische Union arbeitet nach den Worten von Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni an neuen Sanktionen gegen Russland. Der Energiesektor werde davon aber nicht betroffen sein.

Das sollten Sie lesen

  • Rumäniens Hinwendung zum Westen stieß dort lange auf wenig Gegenliebe. Doch jetzt verteidigt das Land die Nato-Außengrenze – und ist plötzlich ein bedeutender Bündnispartner. Aus Câmpia Turzii und Constanța berichtet unsere Reporterin Lina Verschwele .

  • Mehr als hundert Länder der Erde haben Streumunition geächtet – Russland und die Ukraine nicht. Auch aktuell kommt sie wohl zum Einsatz, die Opfer sind meist Kinder. Minenexpertin Eva Fischer erklärt im Interview mit Fiona Ehlers, warum .

  • Russlands Flotte kontrolliert die Gewässer vor der ukrainischen Küste. Die Feuerkraft mancher Schiffe bereitet Militärexperten Sorge. Die Ukraine hat vor allem eine Chance, sich zu wehren, analysiert Jörg Römer .

  • »Schon vor der Veröffentlichung wurde uns die Ausstrahlung verboten – doch wir wollten, dass die Russen den ukrainischen Präsidenten sprechen hören. Sogar im Kreml merkten einige dadurch, dass sie ihrer eigenen Propaganda geglaubt hatten«, schreibt der russische Journalist, der Selenskyj interviewte, in seiner SPIEGEL-Kolumne.

col/AFP/dpa/Reuters
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