Steilvorlage für Russland US-Journalist sieht USA hinter Nord-Stream-Sabotage

Aufsteigendes Gas über dem Pipelineleck in der Ostsee (Foto vom 27. September 2022)
Foto: Danish Defence / AFPDie Hintergründe des Anschlags auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee im vergangenen Herbst sind weiter unklar. Die Debatte über mutmaßliche Auftraggeber der Tat wird nun von einem Bericht des umstrittenen US-Journalisten Seymour Hersh neu angeheizt. Der 85-jährige Pulitzerpreisträger schreibt in seinem eigenen Blog unter Berufung auf eine einzelne anonyme Quelle, dass Taucher der US-Navy die Pipeline durch Sprengsätze zerstört hätten – angeblich in Zusammenarbeit mit Norwegen und im Auftrag des US-Präsidenten Joe Biden. Laut Hersh sei die nicht näher benannte Quelle direkt mit den Planungen vertraut gewesen.
Das Weiße Haus hat den Bericht bereits dementiert, konkrete Belege für seine Behauptung brachte Hersh nicht hervor. »Das ist völlig falsch und eine vollkommene Erfindung«, erklärte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson. Auch Norwegen hat den Blogbeitrag scharf zurückgewiesen.
In russischen Führungskreisen wird der Beitrag indes bereits propagandistisch für eine US-amerikanische Verstrickung gewertet. »Biden schreibt sich in die Geschichte als Terrorist ein«, schrieb der Vorsitzende des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, in seinem Telegram-Kanal. Er gilt als Hardliner und loyaler Unterstützer von Kremlchef Wladimir Putin. Zuvor hatten bereits kremltreue Medien Hershs Bericht aufgegriffen.

Duma-Sprecher Wolodin: »Entschädigungen an die von dem Terroranschlag betroffenen Länder«
Foto: Anton Novoderezhkin / ITAR-TASS / IMAGODer Blogbeitrag wurde zudem vom in Russland festsitzenden NSA-Whistleblower Edward Snowden und der Linke-Abgeordneten Sarah Wagenknecht auf Twitter verbreitet.
Zunehmende Zweifel an Hershs Glaubwürdigkeit
Der Journalist Hersh, der zeitweise für die »New York Times« arbeitete, wurde 1969 durch die Aufdeckung des My-Lai-Massakers durch US-Truppen im Vietnamkrieg berühmt. 2004 berichtete er als Erster über die Behandlung irakischer Kriegsgefangener durch die US-Armee in Abu Ghuraib.
Doch in den vergangenen Jahren hatte Hershs Glaubwürdigkeit stark gelitten, da er mehrfach durch fragwürdige Recherchen aufgefallen war, nicht immer lieferte er triftige Belege für seine Behauptungen.
Ebenfalls mit Verweis auf wenige, anonyme Quellen hatte Hersh etwa 2013 in der »London Review of Books« geschrieben: Ein Angriff mit dem Giftgas Sarin in der syrischen Hauptstadt Damaskus im Sommer 2013 sei in Wirklichkeit ein Täuschungsmanöver mit dem Zweck gewesen, den USA einen Grund zum Eingreifen in den Konflikt zu verschaffen. Hershs Darstellung enthielt jedoch etliche Lücken – und wurde später unter anderem vom britischen »Guardian « als falsch entlarvt.
In einem Text, der 2017 in der »Welt am Sonntag« erschien, behauptete Hersh mit ähnlich schwacher Quellenlage: Ein syrischer Chemiewaffenangriff mit Sarin auf Rebellen im Ort Chan Scheichun – der später von der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen in einem offiziellen Bericht bestätigt wurde – sei in Wahrheit gar keiner gewesen. Auch dafür war Hersh stark kritisiert worden, unter anderem von der Investigativplattform Bellingcat .
Alternative Theorien zu Bin Laden und Skripal
2015 behauptete Hersh, abermals mit Verweis auf anonyme Quellen und erneut in der »London Review of Books«: Die Regierung von Barack Obama habe die Tötung des Qaida-Anführers Osama Bin Laden in Pakistan als spontan durchgeführte Geheimmission des US-Militärs und damit als Heldengeschichte inszeniert. Dabei hätten pakistanische Generäle schon lange über Bin Ladens Aufenthaltsort Bescheid gewusst und ihn gar unter Hausarrest gehalten. Das Weiße Haus dementierte auch damals.
Und 2018 sagte Hersh gegenüber dem »Independent «, die Vergiftung des russischen Ex-Agenten Sergej Skripal mit dem Nervengift Nowitschok erinnere eher an eine Tat des organisierten Verbrechens als an einen staatlichen Akteur. Die britische Regierung machte dagegen den russischen Geheimdienst GRU für den Anschlag verantwortlich. Zwei als Täter verdächtigte Männer gaben dem russischen Fernsehen ein berühmt gewordenes Interview, in dem sie versicherten, als Touristen nur die Kathedrale im Tatort Salisbury besucht zu haben. Später wurden sie als Geheimdienstmitarbeiter enttarnt.
Wolodin fordert Entschädigungen
Der russischen Propaganda spielt der neuerliche Hersh-Bericht zu den Ostsee-Pipelines indes in die Karten. Auf Grundlage der »Fakten« solle man Biden vor Gericht stellen und »Entschädigungen an die von dem Terroranschlag betroffenen Länder zahlen«, so Duma-Sprecher Wolodin weiter. Er zog zudem Parallelen zwischen Biden und dem früheren US-Präsidenten Harry S. Truman, der im Zweiten Weltkrieg den Abwurf von Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki angeordnet hatte.
Auch Kremlsprecher Dmitrij Peskow hatte laut der Nachrichtenagentur Reuters gesagt, Hershs Bericht verdiene mehr Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu Wolodin äußerte er sich jedoch diplomatischer. »Die Welt muss die Wahrheit darüber herausfinden, wer diesen Sabotageakt durchgeführt hat«, so Peskow. Er forderte eine internationale Untersuchung mit russischer Beteiligung. Die westlichen Partner lehnen das ab.
Moskau wird selbst verdächtigt
Moskau vertritt seit Bekanntwerden des Vorfalls vom 26. September 2022 die These einer Pipeline-Sabotage durch die USA. Die russische Führung steht indes selbst im Verdacht, für die massiven Schäden an den von Russland nach Deutschland führenden Pipelines verantwortlich zu sein. Klar ist nach Angaben der schwedischen Staatsanwaltschaft bislang nur, dass die Schäden durch Sabotage entstanden seien.
Russland hatte Nord Stream 1 zum Zeitpunkt der Explosionen wegen angeblicher technischer Probleme bereits abgeschaltet. Die laut Moskau trotz Beschädigung weiter einsatzfähige Leitung Nord Stream 2 hat bis heute keine Zulassung von deutschen Behörden erhalten.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es in einer Bildunterschrift, über einem »Pipelineleck in der Nordsee« steige Gas auf. Tatsächlich befinden sich die Lecks in den Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee. Wir haben die Stelle korrigiert.
In einer früheren Version dieses Textes hatte es zudem geheißen, die britische Polizei habe nach dem Anschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal mehrere mutmaßliche russische Geheimdienstmitarbeiter festgenommen. Dies ist nicht korrekt. Wir haben die entsprechende Formulierung entfernt.