»Wachsender Antisemitismus« Moskaus Ex-Oberrabbiner ruft Juden zur Flucht aus Russland auf

Pinchas Goldschmidt kritisierte Putins Krieg gegen die Ukraine, im Sommer verließ er Russland. Nun sorgt sich der Rabbiner um die Sicherheit der jüdischen Gemeinde – auch mit Blick auf die russische Geschichte.
Pinchas Goldschmidt (im Mai 2022)

Pinchas Goldschmidt (im Mai 2022)

Foto: Matthias Schrader / AP

Seit mehr als zehn Monaten führt Russland einen Krieg in der benachbarten Ukraine. Zunächst führte Kremlchef Wladimir Putin an, gegen die angebliche faschistische Regierung in Kiew vorgehen zu müssen. Von den Alibigründen ist nur noch wenig zu hören, die Invasion stockt.

Nun hat der einstige Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt die Jüdinnen und Juden in Russland zur Flucht aufgerufen. »Wir sehen einen wachsenden Antisemitismus, während Russland zu einer neuen Art von Sowjetunion zurückkehrt und Schritt für Schritt der Eiserne Vorhang wieder fällt«, sagte Goldschmidt dem britischen »Guardian« . »Deshalb glaube ich, dass die beste Option für russische Juden darin besteht zu gehen.«

»Die Regierung versuchte, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde umzulenken«

»Wenn wir auf die russische Geschichte zurückblicken, sah man, wann immer das politische System in Gefahr war, dass die Regierung versuchte, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde umzulenken«, sagte Goldschmidt. »Wir haben das in zaristischen Zeiten und am Ende des stalinistischen Regimes gesehen.«

Goldschmidt ist Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz und war bis zum Sommer Oberrabbiner in Moskau. Er hatte im Juli sein Amt abgelegt und Russland verlassen, nachdem er sich geweigert hatte, die russische Invasion in der Ukraine zu unterstützen.

»Auf die Gemeindevorsteher wurde Druck ausgeübt, den Krieg zu unterstützen, und ich weigerte mich, dies zu tun«, sagt er heute. »Ich bin zurückgetreten, weil es wegen der repressiven Maßnahmen gegen Dissidenten ein Problem für die Gemeinde wäre, als Oberrabbiner von Moskau weiterzumachen.«

Goldschmidt ist nicht der Einzige, der floh. Viele russische Jüdinnen und Juden sind in der Folge des Ukrainekrieges nach Israel ausgewandert. Im Juli dann schloss die russische Regierung die russische Niederlassung der Jewish Agency, einer gemeinnützigen Organisation, die die Einwanderung nach Israel fördert. Goldschmidt schätzt, dass seit Beginn des Krieges ein Viertel bis ein Drittel der jüdischen Russinnen und Russen abgereist seien oder dies planten, obwohl es nur noch wenige Flüge ab Moskau gebe und sich der Preis für einen Flug nach Tel Aviv auf etwa das Vierfache erhöht habe.

Russlands Juden sind in den vergangenen 100 Jahren zu Zehntausenden ausgewandert, zuerst nach Europa und Amerika und in jüngerer Zeit nach Israel. Laut der Volkszählung von 1926 lebten in der damaligen Sowjetunion 2.672.000 Juden, davon 59 Prozent in der Ukraine. Heute leben noch etwa 165.000 Juden in der Russischen Föderation, bei einer Gesamtbevölkerung von 145 Millionen. Einen großen Anteil an der Reduzierung hat neben antisemitischen Tendenzen in der Region jedoch nicht zuletzt auch der geplante Massenmord der Nationalsozialisten in den Jahren bis 1945.

mrc
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