
Auf nach Nowgorod Das neue Russland braucht eine Flagge ohne Blut


Verhaftung einer Demonstrantin in Russland
Foto:IMAGO/Vyacheslav Prokofyev / IMAGO/ITAR-TASS
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Die Russen, die gegen den Krieg in der Ukraine protestieren, haben vor einer Woche damit begonnen, eine neue Heimat für sich zu erfinden. Es ist noch nicht klar, wo, wie und wann sie entstehen wird. Aber ein neues Symbol hat sie schon: eine Flagge mit drei Streifen – weiß, blau und wieder weiß. Schon wenige Tage nach der Invasion schrieben viele Russen in sozialen Medien, dass sich die weiß-blau-rote Trikolore diskreditiert habe und das neue Russland, das irgendwann nach Putin entstehen wird, eine neue Flagge brauche – ohne Blut darauf. Der rote Streifen solle daher durch einen zweiten weißen Streifen ersetzt werden: die Farbe des russischen Schnees und der Reue.

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL
Mikhail Zygar, geboren 1981, ist ein russischer Journalist und Autor. Von 2010 bis 2015 war er Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd. 2015 veröffentlichte er den Bestseller »Endspiel – die Metamorphosen des Wladimir Putin«. Er veröffentlichte zahlreiche weitere Bücher und startete »1917. Freie Geschichte«, ein Onlineprojekt über die Russische Revolution. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine startete er eine Onlinepetition gegen den Krieg, kurz darauf reiste er aus. Zygar befindet sich derzeit in Berlin.
Diese Idee begann sich vor unseren Augen zu entwickeln, im Internet. Innerhalb weniger Tage entwarfen Moskauer Pazifisten ein neues Nationalemblem – basierend auf Symbolen der spätmittelalterlichen Republik Nowgorod.
Dabei handelt es sich um einen Teil der russischen Geschichte, der erstaunlicherweise jahrhundertelang verheimlicht und beschönigt wurde: erst von den Zaren, dann von den Kommunisten und schließlich von Putin. Es schien zu seltsam und politisch schädlich zu sein, wenn man daran erinnerte, dass Russland nicht immer ein furchterregendes Reich war – und dass der Staat, der als ein Vorläufer des modernen Russlands gelten kann, die größte parlamentarische Republik im mittelalterlichen Europa war. Seine Hauptstadt war Nowgorod, eine der ältesten russischen Städte, sie liegt zwischen Moskau und Sankt Petersburg.

Eine mit roter Farbe bemalte russische Flagge bei Protesten in Bulgarien
Foto: Georgi Paleykov / NurPhoto / Getty ImagesIm 12. Jahrhundert wurde dort eine Wetsche, eine öffentliche Versammlung, gegründet (das war hundert Jahre vor der Entstehung des englischen Parlaments). Die Wetsche wählte einen Posadnik – einen Beamten, ähnlich dem Dogen von Venedig. Die Republik Nowgorod hatte viele Gemeinsamkeiten mit der Republik Venedig. Sie war ein riesiges Gebiet im Norden des heutigen europäischen Russlands, sie reichte von der Ostsee bis zum Uralgebirge, und war der größte Staat im Europa jener Zeit.
Die Republik Nowgorod koexistierte damals friedlich mit dem Fürstentum Kiew. Als in den Jahren 1237-1241 die Nachfahren von Dschingis Khan ihren Feldzug nach Westen begannen und fast alle russischen Fürstentümer unter mongolische Herrschaft gerieten, blieb die Republik Nowgorod ein unabhängiger Staat, der nie von der Goldenen Horde erobert wurde, im Gegensatz zu Moskau.
Moskau schlug Nowgorod viel grausamer nieder, als es die Türken 25 Jahre zuvor mit Konstantinopel getan hatten
Die Geschichte des demokratischen Nowgorod endete im 15. Jahrhundert, kurz nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken. Der letzte byzantinische Kaiser wurde damals getötet, und Fürst Iwan III. von Moskau nahm sich die Nichte des Kaisers zur Frau. Er sah sich als Nachfolger des Reiches und machte das Emblem der byzantinischen Kaiserdynastie Palaiologos zum neuen Symbol Moskaus. Noch heute ist der Doppeladler das Wappen von Putins Russland.
Protesting the war Russians have also taken up a new flag based on the colors of the old republic of Novgorod. A prosperous trading city in northwestern Russia, and closely tied to old Kyiv, it was crushed by rising Muscovy in 1478. pic.twitter.com/j06LnZ50mE
— Carl Bildt (@carlbildt) March 16, 2022
Bald darauf griff Iwan III. Nowgorod an. Seine kaiserlichen Ambitionen erforderten eine territoriale Expansion. Moskau schlug Nowgorod viel grausamer nieder, als es die Türken 25 Jahre zuvor mit Konstantinopel getan hatten. Dreieinhalb Jahrhunderte später schrieb Nikolai Karamsin, der Begründer der russischen Geschichtsschreibung, sein klassisches Werk »Geschichte des russischen Staates«. Als Hofhistoriker, der direkt für Zar Alexander I. arbeitete, schrieb er seine Geschichte natürlich im Interesse des Monarchen. Er musste beweisen, dass die Autokratie eine gottgegebene, natürliche, ewige Geschichte Russlands sei, sein einziger Weg und sein Schicksal. Zu dieser Zeit gab es den russischen Staat mit seiner Hauptstadt Moskau erst seit etwa 300 Jahren, kürzer, als die Republik Nowgorod existiert hatte. Karamsin strich die Republik Nowgorod einfach aus der Geschichte. Er erwähnte sie nur als Nebenzweig, als Sackgasse einer Entwicklung.
Alle nachfolgenden russischen Diktatoren taten genau dasselbe mit der ältesten Demokratie Europas. Sie versuchten, sie zu vergessen und aus dem Gedächtnis zu löschen.
Dass die heutigen Putin-Gegner versuchen, diese historische Tradition wiederzubeleben, ist sehr symbolträchtig. Es zeigt, dass sie glauben, dass die Lebensdauer von Putins Staat endlich ist. Neulich schrieben drei prominente russische Emigranten – der Tänzer Michail Baryschnikow, der Schriftsteller Boris Akunin und der Wirtschaftswissenschaftler Sergej Guriew, der ehemalige Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung – einen Appell an ihre Bewohner ihres Landes, das sie »Wahres Russland« nannten. Das zeigt, dass Putins Russland in den Augen von Tausenden von Russen, die in der ganzen Welt leben, nicht mehr wahr ist. Diese Russen weigern sich, sich als Geächtete zu betrachten. Sie sind sich sicher, dass eigentlich Putin der Geächtete ist und die russische Bevölkerung mit sich zieht. Es ist sein Regime, das von der Norm abweicht, während die eigentliche Norm die Russen in aller Welt sind, die ein freies Russland wollen. Und natürlich wollen sie Frieden und Freiheit für die Ukraine.
Putin meinte, dass die Ukraine ein künstliches Land sei
In meinem Buch »Endspiel – die Metamorphosen des Wladimir Putin« beschrieb ich eine Episode, als Wladimir Putin auf dem Nato-Gipfel in Bukarest 2008 versuchte, dem US-Präsidenten George W. Bush zu erklären, warum die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen werden sollte. Er sagte: »Die Ukraine ist kein richtiges Land.« Offenbar meinte er damit, dass die Ukraine ein künstliches Land sei, das erst vor hundert Jahren von Lenin erfunden wurde (wie er auch in seiner Rede zur Ankündigung des Kriegs erklärte), und dass die Ukraine ein gescheiterter Staat sei.

Polizisten verhaften einen Demonstranten in Sankt Petersburg
Foto: ANATOLY MALTSEV / EPADoch der Krieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar begann, bedeutet im Wesentlichen, dass Putins Russland ein gescheiterter Staat ist. Ein Staat, der einen solchen Krieg entfesselt, hat kein moralisches Recht mehr zu existieren. Nach Putin sollte ein neues, wahres Russland entstehen. Es muss sich deutlich von dem »falschen« Russland unterscheiden, das die russischen Zaren ihrem politischen Interesse folgend erfunden haben.
Aber natürlich sind die Russen, die im Exil leben, keine Verrückten. Sie sind in verschiedenen Ländern verstreut, sie sind heute eines der größten geteilten Völker der Welt. Und sie wissen, dass sie noch viele Jahrzehnte lang für Putin und gegenüber dem ukrainischen Volk verantwortlich sein werden.
Natürlich wäre es für uns Exilanten viel einfacher, wenn wir an einem Ort vereint wären. Wenn wir unsere eigene »BRD« hätten, im Gegensatz zu Putins »DDR«, die hinter einer Mauer isoliert ist, oder unser Südkorea im Gegensatz zu Nordkorea. Oder wenigstens Taiwan neben dem riesigen China. Kurioserweise schrieb der Schriftsteller Wassili Aksjonow, der 1980 aus der Sowjetunion emigrierte, den Roman »Die Insel Krim«, in dem er die Halbinsel Krim als ein mögliches russisches Taiwan beschrieb, als fantastische Alternative zu dem Monster namens Sowjetunion.
Die gegenwärtige Lage in Russland macht es erforderlich, dass sich die Vertreter aller russischen Auswanderungswellen zusammenschließen. Das zeigt sich am Beispiel des berühmten Balletttänzers Michail Baryschnikow, der 1974 aus der Sowjetunion in den Westen floh, und der sich nun mit den Auswanderern der Putin-Welle solidarisiert. In den letzten hundert Jahren haben die russischen Behörden immer wieder talentierte Menschen aus dem Land gejagt und vertrieben. Es ist an der Zeit für uns zu begreifen, dass es viele von uns gibt und dass wir selbst unsere Heimat sind: Wir sind unsere eigene Nowgoroder Republik der Zukunft.