Nawalny-Mitstreiterin Ljubow Sobol "Wir werden die Wahrheit niemals erfahren"

In Berlin liegt Alexej Nawalny weiter im Koma. Seine Mitstreiterin Ljubow Sobol ist überzeugt, dass der Kremlkritiker vor den anstehenden Regionalwahlen vergiftet wurde. Sie hofft auf gute Nachrichten aus der Charité.
Ein Interview von Christina Hebel, Moskau
Ljubow Sobol (l.), daneben Alexej Nawalny bei einer Kundgebung im Februar 2020 in Gedenken an den erschossenen Oppositionellen Boris Nemzow in Moskau

Ljubow Sobol (l.), daneben Alexej Nawalny bei einer Kundgebung im Februar 2020 in Gedenken an den erschossenen Oppositionellen Boris Nemzow in Moskau

Foto: Sergei Fadeichev / imago images

Ljubow Sobol entschuldigt sich, sie ist zu spät dran. Es ist ein stressiger Tag, stundenlang berichtet "Nawalny Live", der YouTube-Kanal des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, am Sonntag live aus dem Studio in einem Bürogebäude im Südosten von Moskau von den Protesten aus Belarus.

Sobol ist die Produzentin des YouTube-Kanals. Die 32-Jährige geht nun auch zu Zeiten auf Sendung, an denen eigentlich jemand anderes im Studio sitzen sollte: Nawalny selbst. Der Kremlkritiker liegt noch immer im Koma, die Ärzte der Berliner Charité suchen unter Hochdruck nach dem Grund für seinen Zusammenbruch.

Sobol lässt sich auf ein Sofa fallen, an einem Tisch sitzt ihre Tochter und spielt auf ihrem Handy. Sobol atmet einmal tief aus und ein, dann spricht sie über die letzten schweren Tage, über das, was mit Nawalny passiert ist, wer dafür verantwortlich sei und wie es weitergeht. Sie redet schnell, manchmal bricht sie ab, versucht die Fassung zu wahren.

Foto: Sergei Bobylev / ITAR-TASS / imago images

Ljubow Sobol, 32 Jahre. Oppositionspolitikerin und Mitstreiterin von Alexej Nawalny. Sie fing 2011 nach ihrem Jurastudium an der renommierten Staatlichen Universität Moskau MGU an, für Nawalny zu arbeiten, war auch für seinen Fonds zur Korruptionsbekämpfung tätig. Mittlerweile ist sie Produzentin von Nawalny Live, dem YouTube-Kanal des Oppositionellen mit über 1,9 Millionen Abonnenten, hat dazu auch eine eigene Sendung. 2014 und 2019 wollte Sobol für die Moskauer Stadtduma kandidieren, sie wurde von den Behörden nicht zugelassen.

SPIEGEL: Ljubow, welche Nachrichten haben Sie aus Berlin, was wissen Sie über den Zustand von Nawalny?

Ljubow Sobol: Leider gibt es im Moment keine guten Nachrichten. Alexej liegt weiter im Koma, sein Zustand ist stabil, aber sehr ernst. Ich bin im ständigen Kontakt mit seiner Frau Julia und mit Leonid Wolkow, unserem Kampagnenmanager, der auch in Berlin ist.

SPIEGEL: Ein Livestream mit Wolkow aus Berlin wurde kurzfristig abgesagt. Warum?

Sobol: Leonid ist mit Julia in der Charité bei Alexej, möchte bei ihr bleiben, hilft ihr auch moralisch. Deshalb kann er nicht live senden. Wir machen uns alle große Sorgen um Alexej. Am Montag soll es eine Erklärung der Ärzte geben.

Sanitäter in Berlin bringen die Spezialtrage zurück, mit der Nawalny aus Omsk nach Deutschland gebracht wurde

Sanitäter in Berlin bringen die Spezialtrage zurück, mit der Nawalny aus Omsk nach Deutschland gebracht wurde

Foto: Kay Nietfeld / dpa

SPIEGEL: Wieso glauben Sie, dass Nawalny vergiftet wurde?

Sobol: Er ist der Anführer der Opposition, für die russische Führung war er schon immer unbequem, unsere Aktivitäten hängen dem Kreml schon lange zum Hals raus. Ich glaube, Wladimir Putin hat entschieden, besser früher als später gegen Nawalny vorzugehen, nicht noch länger abzuwarten. Ich habe keine Zweifel daran, dass der Kreml und Putin hinter der Vergiftung stehen. Nawalny ist der Hauptgegner von Putin, ohne sein Wissen, ohne seine Anweisung geschieht so eine Operation nicht. Alle Entscheidungen, die Nawalny angehen, trifft Putin.

SPIEGEL: Aber warum ausgerechnet jetzt?

Sobol: Putin hat Angst, dass sich in Russland das wiederholt, was wir jetzt Belarus erleben. Über 150.000 Menschen haben sich wieder versammelt, sie sind nicht mehr bereit, das Lukaschenko-Regime so hinzunehmen. Das sind keine Menschen, die prorussisch oder prowestlich sind, das sind Menschen, die in einem normalen Land leben wollen. Putin sieht, wie bei uns die Proteststimmung in den Regionen zunimmt: Im Fernen Osten in Chabarowsk demonstrieren die Menschen zum Beispiel schon über eineinhalb Monate lang, in Baschkortostan protestierten sie am symbolträchtigen Berg Kuschtau gegen den Abbau von Kalkstein.

SPIEGEL: Welche Rolle spielen die Regionalwahlen im September?

Sobol: Eine große. Wahlen geben uns die Hoffnung, etwas verändern zu können. Wir rufen die Menschen auf, für den stärksten Gegenkandidaten zu stimmen, damit wir den Vertreter der Kremlpartei Einiges Russland verhindern können. Nawalny hat wiederholt erklärt, sollte es bei diesen Abstimmungen massenweise Manipulationen geben, werden die Menschen auf die Straße gehen. Eine andere Möglichkeit bleibt ihnen nicht, ihre Rechte zu verteidigen.

SPIEGEL: Nawalny hatte sich einige Tage im sibirischen Tomsk aufgehalten, bevor er dann auf dem Flug zurück nach Moskau zusammenbrach. Wer genau könnte Ihrer Meinung nach diese Operation gegen ihn ausgeführt haben? Es gibt Einschätzungen, dass es örtliche Geheimdienstler oder Beamte gewesen sein könnten.

Sobol: Dass in Sibirien regionale Sicherheitsbeamte selbst Initiative ergriffen haben, weil Funktionäre Angst vor unseren Veröffentlichungen über Korruption haben, kann ich mir nicht vorstellen. Die Gouverneure und Beamten in den Regionen stehen alle unter der maximalen Kontrolle des Kremls.

SPIEGEL: Wer käme dann für solch eine mögliche Tat infrage?

Sobol: Drei Gruppen: erstens die Geheimdienste, der FSB und der GRU, der schon hinter dem Anschlag auf den Ex-Doppelagenten Skripal stand. Zweitens der Putin-nahe Oligarch Jewgenij Prigoschin. Er verfügt laut Medienberichten über diese Möglichkeiten. Ich habe selbst erlebt, was das heißt: 2016 wurde ein Anschlag auf meinen Mann verübt, ihm wurde eine Spritze mit einer unbekannten Flüssigkeit ins Bein gerammt. Er verlor das Bewusstsein, er hat sich danach zum Glück wieder erholt. Ich bin mir sicher, dass Prigoschin dahintersteckte, da ich über das schlechte Essen seiner Cateringfirmen berichtet hatte, an dem Kinder in Kindergärten und Schulen erkrankt waren. Und drittens der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow. Doch Vergiftung ist nicht seine Handschrift, er lässt seine Feinde erschießen, wie wir es bei Boris Nemzow und kürzlich in Deutschland und Österreich gesehen haben.

SPIEGEL: Durch einen Bericht einer kremlnahen Zeitung wissen wir, wie umfangreich Nawalny in Tomsk überwacht wurde. Überrascht Sie, dass das so öffentlich gemacht wurde?

Sobol: Wir wurden schon immer von den Geheimdiensten überwacht. Es ist kein Geheimnis, dass wir hier in unserem Studio abgehört werden. Unsere Bankkarten und Telefone werden überwacht, deshalb kommunizieren wir über Telegram (Anm. d. Redaktion - Kommunikation wird verschlüsselt). Sie kontrollieren jede Bewegung von Nawalny, selbst wenn er mit seiner Frau ins Ausland in den Urlaub fährt, sind Begleiter dabei. Deshalb ist es für mich eine weitere Bestätigung dafür, dass ohne den Willen von Geheimdiensten so eine Vergiftung nicht geschehen hätte können. Wir wissen, dass Nawalny am Flughafen Tee getrunken hat. Flughäfen sind geschlossene Bereiche unter Kontrolle der Behörden, es wäre ein Leichtes, Personal dort auszutauschen. Sie wissen ja genau, wann wir wo hinfliegen.

SPIEGEL: Es sind bereits viele Informationen hier in Russland in Umlauf gebracht worden, woran Nawalny angeblich erkrankt sein soll. Von Gift ist dabei nie die Rede, dafür von Alkoholkonsum, einer Stoffwechselerkrankung, sein Blutzuckerspiegel sei abgefallen. Das erinnert an das Informationswirrwarr etwa nach dem Giftanschlag auf Skripal.

Sobol: Ja, das ist die typische Desinformation, unterschiedliche Versionen werden gestreut über regierungsnahe Telegramkanäle und Staatsmedien, koordiniert durch den Kreml. So soll abgelenkt werden von dem, um was es hier eigentlich geht: Das war ein Mordanschlag auf Nawalny, der einzig einem nützt – dem Kreml. Wäre der Pilot nicht in Omsk zwischengelandet, würde Alexej wohl nicht mehr leben… (sie holt tief Luft, macht eine Pause).

"Er war nie richtig krank, höchstens mal erkältet. Wir haben gescherzt, dass er wie ein Roboter sei."

SPIEGEL: Was können Sie zu den gestreuten Gründen sagen, warum er angeblich ins Koma gefallen sein soll?

Sobol: Das ist alles absoluter Blödsinn. Alle Mitarbeiter, die mit Nawalny in Sibirien unterwegs waren, sagen, er hat keinen Alkohol getrunken. Er war in ausgezeichneter Form, ist regelmäßig laufen gegangen, fünf, zehn Kilometer weit. Er hatte nie Probleme mit dem Zuckerspiegel oder dem Herzen. Er war nie richtig krank, höchstens mal erkältet. Wir haben mal gescherzt, dass er wie ein Roboter sei. Und dann soll er jetzt auf einmal ins Koma fallen?

Nawalny mit einigen Mitgliedern seines Teams 2017

Nawalny mit einigen Mitgliedern seines Teams 2017

Foto: Pavel Golovkin/ AP

SPIEGEL: Die Ärzte in der Klinik in Omsk

Sobol (unterbricht): ... sie hatten nichts zu sagen, im Büro des Chefarztes saßen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Sie haben alles in Omsk gemacht, um die Spuren dieses Verbrechens zu verdecken, so lange auf Zeit gespielt, bis das Gift wohl nicht mehr in Nawalnys Körper nachweisbar war. Dann erst konnte er ausgeflogen werden nach Berlin.

SPIEGEL: Nawalny wäre nicht der erste Kremlkritiker, der vergiftet wurde …

Sobol: … und er wurde es nicht zum ersten Mal. Bereits im Juli vergangenen Jahres, als er eine Arreststrafe absitzen musste, schwoll sein Gesicht plötzlich an.

SPIEGEL: Umso mehr die Frage, haben Sie über diese Gefahr einmal miteinander gesprochen?

Sobol: Nein, es ergibt keinen Sinn. Wir alle wissen, dass unsere demokratische Haltung ein enormes Risiko in diesem Land darstellt, und auch Öffentlichkeit uns keine hundertprozentige Sicherheit garantiert.

SPIEGEL: Sehen Sie eine Chance, dass aufgeklärt wird, was mit Nawalny geschehen ist?

Sobol: Ich glaube, wir werden die Wahrheit niemals erfahren. Wenn wir uns die Fälle anschauen, in denen Gegner Putins attackiert wurden, habe ich keine Hoffnung. Nicht nur, dass die Täter nicht ermittelt und gefasst wurden, auch die Auftraggeber wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Das war bei Nawalny letztes Jahr so, bei Pjotr Wersilow, der nach seiner Protestaktion auf dem Spielfeld beim Finale der Fußball-WM 2018 vergiftet und dann auch in Berlin behandelt wurde, nicht bei Kremlkritiker Wladimir Kara-Murza, der gleich zweimal 2015 und 2017 Ziel eines Giftanschlags wurde, beide Male überlebte. Auch im Fall meines Mannes wurde kein Strafverfahren eingeleitet, obwohl wir sieben Mal dagegen Beschwerde eingelegt haben.

SPIEGEL: Wie geht es nun ohne Nawalny erst einmal weiter?

Sobol: Wir setzen unsere Arbeit fort, bereiten die Wahlen mit unseren Kandidaten und neue Veröffentlichungen vor, senden live. So, wie wir es gemacht haben, als er in Haft saß. Seine Vergiftung wird uns nicht stoppen, er hätte das so gewollt.

SPIEGEL: Es sollen mehrere Staaten bereit sein, Nawalny politisches Asyl anzubieten. Glauben Sie es wäre richtig, dass Nawalny nach seiner hoffentlich baldigen Genesung im Ausland bleibt?

Sobol: Ich wünsche mir sehr, dass er das überleben und gesund wird. Diese Entscheidung wird er später mit seiner Familie treffen. Er war sich der Gefahr für sich und seine nahen Verwandten immer sehr bewusst. Ich weiß noch, wie ich ihn zum ersten Mal im März 2011 persönlich traf, als ich bei ihm anfing zu arbeiten. Ich sagte ihm, dass ich sehr froh sei, dass er nicht verhaftet und getötet worden sei. Ein Witz, aus heutiger Perspektive gesehen ein sehr bitterer (ihre Stimme bricht). Wir alle hier im Team wissen um das große Risiko unserer Arbeit. Aber es ist die Wahl, die wir getroffen haben.

Mitarbeit: Alexander Chernyshev
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