Macrons Russlandpolitik Er will Putin nicht erniedrigen

Macron bei seiner letzten Kiew-Reise Anfang Februar vor Kriegsbeginn
Foto: Efrem Lukatsky / picture alliance/dpa/APDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Mehr als drei Monate dauert es, bis sich zum ersten Mal seit Kriegsbeginn eine hochrangige Regierungsvertreterin Frankreichs in der Ukraine blicken lässt: Am Montag endlich ist Catherine Colonna in das kriegsgebeutelte Land gereist, und der Zufall will, dass der Besuch der neuen Außenministerin aus Paris mit dem tragischen Tod eines jungen französischen Journalisten in der Region Luhansk zusammenfällt. Der Fernsehreporter soll durch russischen Beschuss getötet worden sein.

Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna besucht ein Massengrab im Kiewer Vorort Butscha (am 30. Mai)
Foto: DIMITAR DILKOFF / AFPDer Zufall kann so zynisch sein: An diesem Tag hat er den Krieg plötzlich ganz nah an Frankreich herangerückt. Sonst wird er dort zwar intensiv, aber doch wie ein weit entfernter Konflikt verfolgt, der »an den Toren Europas« spielt, wie es in den Pariser Medien immer heißt. Nicht: in Europa.
Distanz abbauen, Nähe zeigen – Zweifel zerstreuen. Das genau ist es, was Catherine Colonna tun will. »Frankreich ist an Ihrer Seite, gemeinsam mit seinen Freunden und Verbündeten«, versichert die Ministerin den Ukrainern, als sie den Kiewer Vorort Butscha besucht, wo die russische Armee im März ihr blutiges Massaker an Zivilisten verübt hat. Colonna verweist darauf, dass Frankreich als erstes Land Ermittler zur Aufklärung der mutmaßlichen Kriegsverbrechen nach Butscha entsandt hat. Außerdem hat sie Feuerwehrfahrzeuge und Krankenwagen als Gastgeschenke dabei; Waffen liefert Frankreich ja schon. Später trifft sie in Kiew den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum Gespräch.
Frankreich versucht eine diffizile geopolitische Gratwanderung
Das muss von französischer Seite für den Moment genügen. Denn Selenskyjs Amtskollege Emmanuel Macron lässt, ebenso wie der deutsche Kanzler Olaf Scholz, in Kiew weiter auf sich warten. Genau wie Scholz steht der französische Präsident auf dem Standpunkt, er werde Selenskyj erst besuchen, wenn er damit konkret dem Frieden diene. Abgesehen davon ist Frankreich seit Wochen so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass es dort – anders als an Scholz in Deutschland – wenig Kritik an Macrons Ukrainekurs gibt.

Macron und Scholz ließen sich vor einem Brandenburger Tor in Ukraine-Farben ablichten, wollten aber bisher nicht nach Kiew reisen
Foto: John Macdougall / AFPMit jeder Woche, die der Krieg andauert, wird dennoch immer klarer: Auch Frankreich versucht in dem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eine diffizile geopolitische Gratwanderung – wohlwollend ausgedrückt. Weniger wohlwollend betrachtet wirkt die französische Haltung wie ein Zaudern gegenüber dem russischen Aggressor, wie ein Versuch der Beschwichtigung des Kremlherrschers Wladimir Putin. Diese Ambivalenz wiederum nährt bei den Ukrainern ebenso wie bei manchen osteuropäischen Partnern des deutsch-französischen EU-Führungsduos die Zweifel, die Ministerin Colonna zu zerstreuen sucht.
Es ist Macron selbst, der für Argwohn sorgt. In dem Krieg dürfe »Russland nicht siegen«, aber auch keine »Erniedrigung« erfahren, also keine demütigende Niederlage, sagte der Staatschef Anfang Mai bei einer Rede vor dem Europäischen Parlament. Dieser Wille, Moskau zu schonen, erinnert an Scholz' Position und hebt sich deutlich ab von der US-amerikanischen Strategie, die gerade darauf aus ist, dass Putin mittels einer schweren Niederlage abgestraft wird.
Macron hofft offensichtlich, eine Einigung vermitteln zu können
Im Gegensatz zu US-Präsident Joe Biden und vielen osteuropäischen Staatenlenkern will Macron Putin auch diplomatisch nicht isolieren. Im Winter hatte der französische Präsident noch gehofft, den Krieg durch seine innenpolitisch erprobte Taktik des stundenlangen Müderedens von Gesprächspartnern abwenden zu können. Macron telefonierte ständig mit Putin, wohl auch in der Hoffnung, Pariser Pläne für eine »neue europäische Sicherheitsarchitektur« unter Einschluss Russlands zu retten. Seit Putins Überfall auf die Ukraine Ende Februar sind Macrons Kontakte zum russischen Präsidenten zwar seltener. Doch auch nachdem Frankreich wie Russland mehrere Dutzend Diplomaten der jeweiligen Gegenseite ausgewiesen haben, soll der Gesprächsfaden auf höchster Ebene nicht abreißen. Genau wie Scholz hofft Macron offensichtlich, eine Einigung zwischen Putin und Selenskyj vermitteln zu können – wie auch immer die dann aussehen könnte.

Macron und Putin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz im Kreml am 7. Februar
Foto: POOL / REUTERSErst am Wochenende telefonierten Macron und Scholz gemeinsam 80 Minuten lang mit Putin. Sie drängten auf einen Waffenstillstand und zu »ernsthaften direkten Verhandlungen« mit Selenskyj. Putin habe versichert, angesichts der angespannten Lebensmittelversorgung in manchen Erdteilen, »den Getreideexport aus der Ukraine, insbesondere auf dem Seeweg, ermöglichen zu wollen«, teilte das deutsche Kanzleramt später mit. Der Kreml allerdings stellte nach dem Gespräch klar, dass Putin dem deutsch-französischen Duo keine so weitreichenden Zusagen gemacht hatte und im Übrigen die Schuld an der heraufziehenden Hungerkrise in den westlichen Sanktionen gegen Russland sehe.
Manche EU-Staatenlenker halten Macrons gutes Zureden für sinnlos, wenn nicht für kontraproduktiv. Nicht alle gehen dabei so weit wie der rechte polnische Premierminister Mateusz Morawiecki, der Macron in herzlicher Abneigung verbunden ist: »Präsident Macron, wie oft haben Sie mit Putin verhandelt? Und was haben Sie erreicht?«, ätzte Morawiecki im Frühjahr. »Würden Sie auch mit Hitler, Stalin und Pol Pot verhandeln?«

Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba am Montag in Kiew
Foto: SERGEY DOLZHENKO / EPAImmerhin: Obgleich Macron mit Putin spricht, liefert sein Land Waffen, damit sich die Ukraine verteidigen kann. In welchem Ausmaß genau, hält Paris geheim. Bekannt ist, dass Frankreich Panzerabwehrraketen vom Typ Milan liefert, sowie Caesar-Artilleriesysteme, an denen ukrainische Soldaten in Frankreich ausgebildet werden. Das wird in Kiew auch honoriert: »Frankreich stellt hier echte Hilfe, die umso wichtiger ist, als es in Paris keine Diskrepanz gegeben hat zwischen den politischen Zusicherungen und ihrer Umsetzung«, sagt die ukrainische Vize-Premierministerin Olha Stefanyschyna. Das darf als Seitenhieb auf Deutschland verstanden werden.
»Jedes Zögern wäre ein Zeichen von Schwäche«

Macron am Montag beim EU-Gipfel in Brüssel
Foto: EMMANUEL DUNAND / AFPMacron machte in der Rede, in der er auch vor Russlands Demütigung warnte, denn erst einmal den Vorschlag, eine »europäische politische Gemeinschaft« zu schaffen, eine Art EU-Wartezimmer, in das die Ukraine zunächst hineintreten solle. Das kam bei Selenskyj und seiner Regierung nicht gut an. Später versuchte Macron mit mehr oder weniger Erfolg, dem ukrainischen Präsidenten jene Idee der »europäische politische Gemeinschaft« am Telefon zu erklären. »Wir verstehen nicht, worum es dabei gehen soll«, sagt Vize-Premier Stefanyschyna im SPIEGEL-Interview. »Alles, worum wir jetzt bitten, ist der Status eines Beitrittskandidaten. Dagegen gibt es keine Argumente. Jedes Zögern wäre ein Zeichen von Schwäche.«
Ein Vorwurf, der Macron missfallen muss – ihm, der stets für ein maximal starkes Europa eintritt. Doch im eigenen Land muss der französische Präsident Kritik an seinem Schlängelkurs seiner Ukrainepolitik nicht fürchten: Frankreich steckt noch immer voll im Wahlkampf, Mitte Juni wird die Nationalversammlung neu gewählt. Hauptthema der politischen Auseinandersetzung sind die steigenden Lebenshaltungskosten im Land. Die wichtigsten Oppositionskräfte, angeführt vom linksradikalen Jean-Luc Mélenchon und der ultrarechten Marine Le Pen, pflegen wiederum Sympathien für Putins Russland. Aus ihrer Sicht ist Macron eher zu nah am Kurs der USA als zu rücksichtsvoll mit Putin.