Proteste gegen den Kreml in Chabarowsk Betriebsunfall im fernen Osten

Proteste in Chabarowsk
Foto: Dmitry Morgulis/ imago images/ITAR-TASSWas derzeit in Russlands fernem Osten geschieht, das ist für Wladimir Putins Staat geradezu spektakulär. Zehntausende Menschen sind in der Großstadt Chabarowsk auf die Straße gegangen, um ihren Unmut über die Politik des Kreml und die Festnahme ihres Gouverneurs auszudrücken. Und die Polizei hindert sie nicht daran.
"Danke, Polizei!", rufen deshalb die Demonstranten, die jeden Abend auf die Straße gehen. In der Hauptstadt Moskau dagegen, gut sieben Flugstunden weiter westlich, wird noch die kleinste ungenehmigte Kundgebung sofort gewaltsam aufgelöst.
Die seltsam milde Reaktion zeugt nicht von Schwäche der Führung, sie zeugt von Ratlosigkeit. Der Kreml hat mit der Festnahme des Regionalpolitikers Sergej Furgal in Chabarowsk unerwartet heftigen Protest ausgelöst, und dieser Protest unterscheidet sich von herkömmlichen Kundgebungen in Ausmaß und Richtung. 30.000 Chabarowsker waren nach Schätzung der Zeitung "Kommersant" am vergangenen Wochenende auf der Straße, das wäre jeder zwanzigste Einwohner der Stadt. Und sie unterstützten nicht einen rabiaten Kremlgegner, sondern einen betont Putin-treuen Gouverneur, der zur parlamentarischen, also geduldeten Opposition gehört.
Chabarowsk zeigt: In Wladimir Putins Herrschaftssystem, dieser gut geölten und längst eingespielten Maschinerie, ist ein Betriebsunfall der neuen Art passiert, und wie man den Schaden repariert, ist dem Kreml unklar.
Vorwurf: Auftragsmord
Die Vorgeschichte dieses Unfalls ist schnell erzählt: 2018 hatte der Geschäftsmann Furgal auch für sich selbst überraschend die Gouverneurswahl gegen den vom Kreml bevorzugten Kandidaten gewonnen. Statt für die Kremlpartei "Einiges Russland" war er für die LDPR-Partei des Nationalisten Wladimir Schirinowski angetreten. Die Einwohner waren so zufrieden mit ihm (und so unzufrieden mit der Kremlpartei), dass Furgals LDPR 2019 auch noch die Wahlen zum Regionalparlament haushoch gewann.
Am 9. Juli dieses Jahres setzte der Kreml Furgals Erfolgsgeschichte ein Ende. Vor laufender Kamera wurde der Gouverneur festgenommen und nach Moskau in U-Haft gebracht. Der Vorwurf: Seine angebliche Beteiligung an Auftragsmorden vor rund 15 Jahren. Für viele Chabarowsker klang das wie ein Witz. Nicht, weil sie Furgal für ein Unschuldslamm halten, sondern weil die Vorwürfe schon so lange zurückliegen.

Sergej Furgal wird am 10. Juli 2020 aus einem Gerichtssaal geführt
Foto: Alexander Zemlianichenko/ DPADie Festnahme und ihre Folgen legen drei tiefere Probleme offen.
Erstens: der unaufhaltsame Abstieg der Kreml-Partei. Seit Jahren zieht "Einiges Russland" den Unmut über die Regierungspolitik auf sich - so sehr, dass es am Ende völlig gleichgültig ist, für wen ein Gegenkandidat antritt. Auch ein Kandidat der Putin-treuen LDPR zieht Proteststimmen auf sich. Die parlamentarische Opposition hat damit unverhofften Aufwind.
Zweitens: die Entfremdung des fernen Ostens von Moskau. Die Pazifikküste gilt seit Langem als aufmüpfige Region. Nicht nur in Chabarowsk, auch im benachbarten Wladiwostok drohte 2018 der Kremlkandidat zu verlieren, Moskau konnte das nur mit Mühe verhindern. Die Region fühlt sich durch hohe Flugpreise vom Rest Russlands abgeschnitten, durch Fischfangquoten eingeschränkt und von Moskau bevormundet.
Drittens: die "Machtvertikale" kommt schnell ins Wackeln. Damit ist im russischen Politsprech das Durchregieren von ganz oben bis ganz unten gemeint. Chabarowsk hat gezeigt: Wenn erst mal ein eigensinniger Gouverneur an der Spitze einer Region steht, dann wissen die Beamten unter ihm nicht mehr, wonach sie sich richten sollen. Warum sollten sie das Wahlergebnis zugunsten der Kremlpartei beeinflussen, wenn ihr Chef nicht dazu gehört? Ist die "Machtvertikale" aber einmal beschädigt, bröckelt das System.
Wie ratlos der Kreml derzeit ist, das zeigten die Fernsehnachrichten und Talkshows am Wochenende. Die Massenproteste in Chabarowsk wurden gar nicht gezeigt, nur von Furgals Festnahme war die Rede.
Loyalität schützt nicht mehr
Und wie es in Chabarowsk weiter geht, das ist am Ende auch eine Frage von Putins Herrschaftssystem und seiner Zukunft. Es beruhte bisher auf der säuberlichen Trennung der Opposition in einen erlaubten, loyalen Flügel und einen verbotenen, weil prinzipiell feindlich gesinnten Rest.
Furgal gehörte zur ersten Gruppe. Die LDPR-Partei funktioniert im Grunde eher wie ein Business Franchise, ihr Zweck ist nicht, die Machtfrage zu stellen, sondern das Kaufen und Verkaufen von Ämtern unter einer einheitlichen Marke zu erleichtern. Loyalität zum Kreml ist Teil des Geschäftsmodells.
Nun aber zeigt der Fall Furgal, dass selbst zur Schau getragene Loyalität nicht gegen Verhaftung schützt. Wer zu welcher Opposition gehört, zur erlaubten oder zur verbotenen, das entscheidet am Ende der Kreml, nicht der Einzelne.