Krieg in der Ukraine Selenskyj spricht von 41 befreiten Orten – und 170.000 minenverseuchten Quadratkilometern

Kontrollierte Sprengung von Minen in Lyman (Donzek-Region)
Foto: YASUYOSHI CHIBA / AFPWas in den vergangenen Stunden geschah
Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region Cherson sind ukrainische Soldaten am Donnerstag nach eigener Darstellung bereits in den ersten Vorort der südukrainischen Stadt eingerückt. Wie der ukrainische Gouverneur des Gebietes Mykolajiw, Witalij Kim, berichtete, sei der Ort Tschornobajiwka unter ukrainischer Kontrolle. Nähere Angaben wollte er nicht machen: »Wir schweigen weiterhin, denn all dies ist Sache des Militärs.«
Der komplette russische Abzug aus Cherson wird ukrainischen Angaben zufolge mindestens eine Woche dauern. Die Regierung in Moskau habe 40.000 Soldaten in der Region stationiert, sagte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow der Nachrichtenagentur Reuters. Geheimdienstinformationen zufolge halten sich dabei auch weiter Streitkräfte in der Stadt auf. »Es ist nicht so einfach, diese Truppen aus Cherson in ein oder zwei Tagen abzuziehen«, sagte Resnikow: »Das dauert mindestens eine Woche.«
Das sagt Kiew
Die Ukraine erwartet ein Abflauen der Kämpfe im Winter. »Der Winter wird jede Aktivität auf dem Schlachtfeld für alle Beteiligten verlangsamen«, sagte Verteidigungsminister Resnikow. »Das ist für alle Seiten von Vorteil. Man wird sich ausruhen können.« Sein Land werde gestärkt aus dieser Pause hervorgehen – angesichts von Tausenden von Soldaten, die gegenwärtig in Großbritannien ausgebildet werden. »Wir werden diese Zeit mit einem bestmöglichen Ergebnis für unsere Streitkräfte nutzen«, sagt Resnikow.

Oleksij Resnikow (im September)
Foto: Boris Roessler / dpaIm Zuge des fortlaufenden Abzugs russischer Truppen aus der Region Cherson haben ukrainische Truppen nach Darstellung von Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits 41 Ortschaften befreit. »Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die im Rahmen der laufenden Verteidigungsoperation an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren, beträgt bereits Dutzende«, sagte er am Donnerstagabend in seiner täglichen Videobotschaft.
Gleichzeitig warnte er vor den Gefahren in den von den Besatzern aufgegebenen Gebieten. »Die erste und grundlegende Aufgabe ist die Minenräumung«, sagte Selenskyj. Die Besatzer ließen zudem Tausende Blindgänger und Munition zurück. »Ich habe Schätzungen gehört, dass die Räumung der Ukraine von russischen Minen Jahrzehnte dauern wird.« Nach seinen Erkenntnissen seien noch rund 170.000 Quadratkilometer des Landes minenverseucht.

Minensuche in der Region Donezk (Anfang Oktober)
Foto: YASUYOSHI CHIBA / AFPSelenskyj wies darauf hin, dass die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte »durch Monate brutalen Kampfes« erreicht worden seien. »Es ist nicht der Feind, der geht – es sind die Ukrainer, die die Besatzer verjagen«, sagte Selenskyj. »Und wir müssen den ganzen Weg gehen – auf dem Schlachtfeld und in der Diplomatie – damit überall in unserem Land, entlang unserer gesamten international anerkannten Grenze, unsere Flaggen – ukrainische Flaggen – zu sehen sind. Und keine feindlichen Trikoloren mehr.«
Internationale Reaktionen
Die USA liefern der Ukraine im Zuge neuer Militärhilfen im Umfang von 400 Millionen Dollar (rund 398 Millionen Euro) erstmals das mobile Luftabwehrsystem Avenger. Das US-Verteidigungsministerium kündigte am Donnerstag die Lieferung von vier Avenger-Systemen und dazugehörigen Raketen vom Typ Stinger an.
Die USA liefern Kiew außerdem Raketen für die Luftabwehrsysteme vom Typ Hawk, die Spanien der Ukraine zugesagt hat, Munition für Raketenwerfer vom Typ Himars, Artilleriemunition, Granatwerfer und mehr als 20 Millionen Schuss Munition für kleinere Waffen.
Eine Pentagon-Sprecherin sagte, angesichts von Russlands »brutalen Luftangriffen auf zivile und kritische Infrastruktur in der Ukraine« seien zusätzliche Luftabwehrfähigkeiten von größter Bedeutung. Mit dem neuen Hilfspaket steigen die US-Militärhilfen für die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen das Land Ende Februar auf mehr als 18,6 Milliarden Dollar.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) rechnet in der Folge der Zwischenwahlen in den USA nicht mit einer Einschränkung der Hilfen für die Ukraine. In der ZDF-Sendung »maybrit illner« sagte Lindner, er sehe »keine Anzeichen, dass die Vereinigten Staaten ihre Politik in Bezug auf die Ukraine verändern«. Er sei im regelmäßigen Austausch mit seiner US-Amtskollegin. Die USA sähen »die besondere Bedeutung dieses Krieges in geopolitischer Hinsicht«. Da gehe es vor allem um Mitmenschlichkeit, aber eben auch um die europäische Sicherheitsarchitektur und die Werte der liberalen Demokratien.
Wirtschaftliche Konsequenzen
Die deutsche Wirtschaft will als Lehre aus dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine künftig einseitige Abhängigkeiten vermeiden. Das sagte Industriepräsident Siegfried Russwurm vor einer Asien-Pazifik-Konferenz am Sonntag und Montag in Singapur, zu der auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Kanzler Olaf Scholz (SPD) erwartet werden.
»Die Diversifizierung von Lieferketten und Bezugsquellen sowie die Rolle der Wirtschaft bei der Bewältigung der Klimakrise stehen im Mittelpunkt der Debatten auf der Asien-Pazifik-Konferenz«, so Russwurm. »Eine diversifizierte Wirtschaft reduziert das Risiko für Unternehmen und Volkswirtschaften insbesondere in Krisensituationen. Diskussionen zum Umgang mit wirtschaftlichen Abhängigkeiten und zum Aufbau von Resilienz bleiben notwendig – vor allem, aber nicht nur, hinsichtlich Chinas.«
Was heute passiert
Die Europäische Kommission präsentiert am Vormittag ihre Vorhersagen zu wirtschaftlichen Entwicklungen in der EU. Es wird erwartet, dass die Brüsseler Behörde ihre Prognose vom Sommer weiter nach unten korrigiert. Insbesondere die Energiekrise in Folge des russischen Krieges gegen die Ukraine macht Unternehmen und Verbrauchern zu schaffen. EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni hatte Anfang der Woche gesagt, dass er einen wirtschaftlichen Abschwung zumindest in den Wintermonaten erwarte.