Krieg in der Ukraine Ukraine will russische Armee aus Dörfern treiben, Kreml wirbt angeblich Söldner an – das geschah in der Nacht

Die ukrainische Armee versucht, Einheiten des Gegners aus kleinen Orten nahe Kiew zu drängen. Spekulationen über den Stand der Nachschubversorgung bei der russischen Armee. Und: Weniger Menschen gelingt die Flucht. Der Überblick.
Ukrainische Feuerwehrleute löschen einen Brand in einem Lagerhaus nach einem Bombeneinschlag in Kiew

Ukrainische Feuerwehrleute löschen einen Brand in einem Lagerhaus nach einem Bombeneinschlag in Kiew

Foto: Vadim Ghirda / AP

Was in den vergangenen Stunden geschah

Aktuell laufen nach Angaben aus Kiew zahlreiche Militäraktionen, um Orte in der Nähe der Hauptstadt zurückzugewinnen. In anderen Teilen des Landes hält die Belagerung großer Städte durch die russische Armee aber an. Trotzdem gibt es erste Spekulationen, ob die Kräfte des Kremls ein Nachschubproblem plagen könnte. Die humanitäre Lage im Land bleibt katastrophal, zuletzt konnten weniger Menschen fliehen. Der Westen setzt weiter auf Sanktionen und Drohungen gegen Russland.

Militärische Lage

Ukrainischen Angaben zufolge sind Kampfeinsätze im Gange, um russische Einheiten aus den Dörfern rund um Kiew zurückzudrängen. Das sagte der Leiter der regionalen Militärverwaltung von Kiew, Olexander Pawljuk, am späten Donnerstagabend (Ortszeit) laut der Agentur Unian. Es gebe »Widerstand des Feindes« und dieser verlege seine Einheiten. Er könne aber keine Details nennen, bevor die Operationen nicht abgeschlossen seien, sagte Pawljuk weiter.

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Insgesamt sei die Situation in der Region Kiew schwierig, aber »kontrollierbar«. Am stärksten gefährdet seien weiter die Straße in die westliche Großstadt Schytomyr, die nah an der Kiewer Stadtgrenze liegenden Orte Butscha, Irpin und Hostomel nordwestlich der Hauptstadt und die weiter westlich von Kiew gelegene Stadt Makariw. Es habe auch Beschuss im Bezirk Wyschhorod nördlich der Hauptstadt gegeben.

Zerstörtes Haus in Irpin, nordwestlich von Kiew

Zerstörtes Haus in Irpin, nordwestlich von Kiew

Foto: ROMAN PILIPEY / EPA

Nach ukrainischen Angaben setzen im Norden des Landes russische Truppen eine Teilblockade und Angriffe auf die Stadt Tschernihiw fort. Das teilte der Generalstab des ukrainischen Militärs in seinem täglich auf Facebook veröffentlichten Bericht zur militärischen Lage in der Nacht zu Freitag mit. Der Beschuss erfolgt demnach durch Artillerie.

Die nahe der Grenzen zu Russland und Belarus gelegene Stadt Tschernihiw mit rund 300.000 Einwohnern ist seit Kriegsbeginn Ziel russischer Angriffe. Die humanitäre Lage dort gilt als katastrophal, viele Gebäude sind zerstört. Erst am Donnerstag meldeten lokale Behörden mehr als 50 Tote binnen 24 Stunden.

Auch im Gebiet des Kiewer Vororts Browary würden regelmäßig Stellungen der ukrainischen Armee unter Artilleriebeschuss genommen, heißt es in dem Generalstabsbericht weiter. Im Süden des Landes versuchten russische Einheiten weiterhin, das Luftverteidigungssystem entlang der Schwarzmeerküste aufzuspüren und zu zerstören. An anderen Orten konzentrierten sich die russischen Einheiten vor allem auf die Sicherung ihrer Geländegewinne und Vorbereitung weiterer Offensiven.

Das russische Militär greift in der Ukraine nach Angaben der US-Regierung derzeit vermehrt zivile Einrichtungen an. »Wir haben eine Zunahme der Angriffe auf zivile Infrastruktur und zivile Ziele festgestellt«, sagte ein hoher US-Verteidigungsbeamter am Donnerstag. Gleichzeitig beobachte man stellenweise schwindende Moral bei den russischen Soldaten. »Wir haben keinen Einblick in jede Einheit und jeden Standort. Aber wir haben sicherlich anekdotische Hinweise darauf, dass die Moral in einigen Einheiten nicht hoch ist«, sagte der Beamte.

Humanitäre Lage

Am Donnerstag konnten nach Angaben eines hochrangigen Mitarbeiters der ukrainischen Regierung nur 3810 Menschen aus belagerten Städten evakuiert werden. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Irina Wereschtschuk sagte, rund 2000 Menschen sei es gelungen, die eingekesselte Hafenstadt Mariupol zu verlassen. Am Mittwoch war nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj noch mehr als 60.000 Menschen die Flucht aus umkämpften Städten gelungen.

In Mariupol sind nach örtlichen Angaben etwa 80 Prozent der Wohnungen zerstört und davon rund 30 Prozent nicht wieder aufzubauen. »Täglich werden durchschnittlich 50 bis 100 Bomben auf die Stadt geworfen. Die Verwüstung ist enorm«, teilte der Rat der Stadt am Donnerstag bei Telegram mit.

Mariupol sei seit 16 Tagen blockiert, Tausende müssten vor russischem Beschuss Deckung suchen in Schutzräumen, hieß es. Bisher seien etwa 30.000 Zivilisten aus der Stadt geflohen. Die Angaben waren nicht unabhängig zu prüfen.

Nach Zählung der Vereinten Nationen sind seit Kriegsbeginn bis zum 15. März in der Ukraine 762 Zivilisten getötet worden. Darunter seien 52 Kinder, teilt der Leiter der Uno-Abteilung für politische Angelegenheiten mit. Die ukrainische Regierung geht von wesentlich höheren Zahlen aus.

Das sagt Kiew

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj richtete sich in seiner täglichen Videoansprache an die Menschen in Städten wie Mariupol, Charkiw im Osten und Tschernihiw im Norden, die von russischen Truppen belagert werden und teils schweren Schaden durch die Kämpfe genommen haben. Die Bewohnerinnen und Bewohner würden nicht im Stich gelassen, versicherte der Präsident. Von der Armee bis zur Kirche tue jeder alles für die Menschen. Selenskyj versprach ihnen: »Ihr werdet frei sein.«

Der Präsident sprach zudem über ausländische Kämpfer, die das russische Militär angeworben haben soll: »Wir haben Informationen darüber, dass die russischen Streitkräfte Söldner aus verschiedenen Ländern anwerben. Sie versuchen durch Täuschung, so viele junge Rekruten wie möglich in ihre Reihen zu bringen.« Selenskyj warnte davor, sich den Russen anzuschließen, und erklärte, es sei besser ein langes Leben zu führen, statt Geld zu nehmen.

Flüchtlinge nahe der Grenze zwischen der Ukraine und Moldau

Flüchtlinge nahe der Grenze zwischen der Ukraine und Moldau

Foto: DUMITRU DORU / EPA

Auch aus den USA kommt die Einschätzung, dass das russische Militär demnächst Nachschub in die Ukraine organisieren dürfte. Noch sei es zwar nicht so weit. Aber allein, dass Nachschub ein Thema sei, sei ein Zeichen für Sorge auf russischer Seite, sagte der Beamte. »Nach drei Wochen fangen sie an, über Nachschub von anderswo nachzudenken, einschließlich der Unterstützung durch Streitkräfte. Und nach zwei Wochen haben sie einen Aufruf für ausländische Kämpfer gestartet, was wir ebenfalls als interessante Entwicklung bezeichnet haben.«

Internationale Reaktionen

Die Europäische Union hat die »schweren Verstöße und Kriegsverbrechen« Russlands in der Ukraine scharf verurteilt. Gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur seien »schändlich, verwerflich und vollkommen inakzeptabel« und stellten schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht dar, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Die EU verurteile die fortgesetzten Angriffe der russischen Armee auf die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur in der Ukraine sowie die wochenlange Belagerung von Mariupol.

Russland habe nicht das Recht, einseitig ein anderes Land anzugreifen und trage daher die volle Verantwortung »für diese Akte militärischer Aggression und für all die Zerstörung und den Verlust an Menschenleben, die es verursacht«, so der EU-Außenbeauftragte. Die Täter dieser Kriegsverbrechen würden ebenso zur Verantwortung gezogen wie die verantwortlichen Regierungsvertreter und Armeeführer, sagte er.

Derweil drohen die USA China mit Konsequenzen, sollte das Land militärische Hilfen für Russland leisten. Regierungssprecherin Jen Psaki kündigte an, US-Präsident Joe Biden werde bei seinem am Freitag stattfindenden Telefonat mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping beurteilen, wo dieser stehe.

Auch Außenminister Antony Blinken sagte: »Präsident Biden wird morgen mit Präsident Xi sprechen und deutlich machen, dass China die Verantwortung für alle Maßnahmen tragen wird, die die russische Aggression unterstützen.« Die USA würden nicht zögern, China gegebenenfalls Kosten aufzuerlegen. China stehe in der Verantwortung, seinen Einfluss auf Putin geltend zu machen und die Einhaltung internationaler Regeln einzufordern, sagte Blinken. Es scheine aber, dass China das Gegenteil tue.

Wirtschaftliche Konsequenzen

  • Japan will weitere Sanktionen gegen 15 russische Einzelpersonen und neun Organisationen verhängen. Darunter soll auch der staatliche Waffenexporteur Rosoboronexport fallen.

  • Australien verhängt weitere Sanktionen gegen das russische Finanzministerium und elf weitere Banken und Regierungsorganisationen. »Mit der kürzlich erfolgten Einbeziehung der russischen Zentralbank hat Australien nun alle russischen Regierungsstellen ins Visier genommen, die für die Emission und Verwaltung der russischen Staatsschulden verantwortlich sind«, sagte Außenministerin Marise Payne.

  • Die Muttergesellschaft des Burger-King-Konzerns kann eigenen Angaben zufolge die Schnellrestaurants der Marke in Russland nicht schließen. Der unabhängige Betreiber weigere sich, diesen Schritt zu gehen, teilte der Chef von Restaurant Brands International, David Shear, auf der Unternehmenswebsite  mit. Zur Durchsetzung seiner Verträge mit dem Franchisenehmer Alexander Kolobov benötige das Unternehmen die Hilfe der russischen Regierung, aber das werde in absehbarer Zeit praktisch nicht passieren. (Lesen Sie hier mehr.)

Was heute passiert

  • US-Präsident Joe Biden wird mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping telefonieren. »Dies ist Teil der laufenden Bemühungen, eine offene Kommunikation zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China aufrechtzuerhalten«, heißt es in der Mitteilung des Weißen Hauses.

jok/cop/dpa/Reuters/AFP
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