Krieg in Osteuropa Dramatische Lage in Mariupol, »sehr gute Nachrichten« aus Tschernobyl – das geschah in der Nacht

Wolodymyr Selenskyj berichtet vom massiven russischen Truppenaufmarsch. Moskau kündigt eine weitere Feuerpause in Mariupol an. Und: Sigmar Gabriel räumt Fehler im Zusammenhang mit Nord Stream 2 ein. Der Überblick.
Ein ukrainischer Soldat steht vor dem Sarkophag, der den explodierten Reaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl abdeckt (Aufnahme vom 16. April)

Ein ukrainischer Soldat steht vor dem Sarkophag, der den explodierten Reaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl abdeckt (Aufnahme vom 16. April)

Foto: Efrem Lukatsky / dpa

Was in den vergangenen Stunden geschah

Russland setzt seine Angriffe im Osten der Ukraine fort. Gruppierungen der »Volksrepublik« Luhansk haben eigenen Angaben zufolge die Kleinstadt Kreminna im Gebiet Luhansk vollständig eingenommen. Auf einem Video ist zu sehen, dass auf der Eingangstür der Stadtverwaltung eine russische Fahne hängt. In Kreminna lebten vor Kriegsbeginn etwa 18.000 Menschen. Davon sollen noch etwa 4000 in der Stadt ausharren. Laut der jüngsten Analyse des US-Kriegsforschungsinstituts ISW war der Vorstoß nach Kreminna die einzige russische Bodenoffensive binnen 24 Stunden, die »signifikante Fortschritte« gemacht habe.

Der ukrainische Präsident sagte über den russischen Truppenaufmarsch in seinem Land: »Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert.« Die russische Seite habe »fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben«, sagte Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft, die in der Nacht zu Mittwoch auf Telegram veröffentlicht wurde .

Die Lage in der südukrainischen Hafenstadt Mariupol könnte nicht schwieriger sein, sagte Selenskyj weiter. Das russische Militär blockiere alle Versuche, humanitäre Korridore zu organisieren und ukrainische Bürger zu retten. Ein Berater des Präsidenten erklärte, Russland habe das belagerte Stahlwerk Asowstal in Mariupol mit bunkerbrechenden Bomben angegriffen. »Die Welt sieht dem Mord an Kindern online zu und schweigt«, schrieb Berater Mykhailo Podolyak auf Twitter.

DER SPIEGEL

Aus der ukrainischen Großstadt Mykolajiw im Süden des Landes ist erneut Beschuss gemeldet worden. »Wieder Explosionen in Mykolajiw«, schrieb der Bürgermeister der Stadt, Olexander Senkewytsch, am frühen Mittwochmorgen auf Telegram. Er forderte die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt dazu auf, sich von Fenstern fernzuhalten und an sicheren Orten zu bleiben. Über Schäden und Opfer gab es zunächst keine Angaben.

Derweil gibt es positive Berichte aus Tschernobyl: Nach mehr als einem Monat Unterbrechung ist die direkte Kommunikation zwischen dem stillgelegten Kernkraftwerk und der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde wiederhergestellt. Das teilte der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, mit . Er berief sich dabei auf Informationen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde. Diese Entwicklung sei eine »sehr gute Nachricht«, sagt Grossi. Er werde noch in diesem Monat mit einem Expertenteam den Zustand des Kraftwerks vor Ort bewerten.

Die russischen Streitkräfte hatten Tschernobyl kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine besetzt. Am 31. März zogen sie sich aus der Anlage wieder zurück.

Das sagt Moskau

Das russische Verteidigungsministerium kündigte für Mittwoch eine Feuerpause in der Umgebung des belagerten Stahlwerks Asowstal in Mariupol an. Die dort verschanzten ukrainische Truppen sollten in dem Zeitraum ab 13 Uhr MESZ ihre Waffen niederlegen, heißt es in einer Mitteilung. Ein ähnliches Angebot am Dienstag sei von keinem einzigen ukrainischen Soldaten angenommen worden.

Internationale Reaktionen

Der ehemalige Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hat Fehler der früheren Bundesregierung im Zusammenhang mit der Gaspipeline Nord Stream 2 eingeräumt. »Es war ein Fehler, bei den Einwänden gegenüber Nord Stream 2 nicht auf die Osteuropäer zu hören. Das war auch mein Fehler«, sagte Gabriel der »Welt« . Viele und nicht nur die Deutschen seien davon ausgegangen, mit engen Handels- und vor allem Rohstoff-Beziehungen Russland in eine stabile europäische Ordnung einbinden zu können, sagte Gabriel. »Die Osteuropäer haben das immer als Illusion bezeichnet – und hatten recht.«

Man dürfe dennoch nicht die SPD und ihre Entspannungspolitik zum alleinigen »Sündenbock« für die starke Energieabhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas machen. »Mal abgesehen davon, dass die totale Entstaatlichung der Energieversorgung eher ein liberal-konservatives Glaubensbekenntnis war, ist die Russlandpolitik seit 2005 von einer Unions-Kanzlerin ebenso geführt worden, wie die Bundeswehr seit 2002 von Verteidigungsministern der Union ruiniert wurde«, sagte Gabriel.

Nach britischer Einschätzung nehmen die russischen Angriffe entlang der Demarkationslinie zum Donbass in der Ostukraine weiter zu. Die Ukraine wehre aber zahlreiche Vorstöße russischer Truppen ab, teilte das britische Verteidigungsministerium am Dienstagabend unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit. Russische Fortschritte würden unterdessen weiterhin durch das Gelände sowie logistische und technische Schwierigkeiten behindert. Dazu komme auch die Widerstandsfähigkeit der hoch motivierten ukrainischen Armee. Dass es Russland nicht gelungen sei, den Widerstand in Mariupol auszumerzen – sowie die wahllosen russischen Angriffe, die Zivilisten trafen – seien weitere Hinweise darauf, dass Moskau seine Ziele nicht so schnell wie erhofft erreiche.

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Humanitäre Lage

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geht nach aktuellen Berechnungen davon aus, dass mehr als fünf Millionen Menschen aus der Ukraine vor dem russischen Angriffskrieg ins Ausland geflohen sind. »Das sind fünf Millionen Einzelschicksale voller Verlust und Trauma«, sagte die stellvertretende Uno-Hochkommissarin des UNHCR, Kelly Clements, bei einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrats am Dienstag in New York. Hinzu kämen etwa 7,1 Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine ihr Heim verlassen hätten, ergänzte António Vitorino von der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

In der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw bringen sich Hunderte Menschen in den U-Bahn-Stationen vor den russischen Bombardements in Sicherheit. Dort betreibt die Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« (MSF – Médecins Sans Frontières) nach eigenen Angaben Sprechstunden.

Rund um die Uhr gebe es Bombenalarm, berichtete der Leiter des Einsatzes, Michel-Olivier Lacharité, an die Zentrale in Genf. Die U-Bahn-Schächte seien der sicherste Ort für die Menschen. »Es gibt drei U-Bahn-Linien in der Stadt, und praktisch alle Stationen werden genutzt.« In jeder Station hielten sich rund hundert Menschen auf, meist ältere und bedürftige. Nachts seien es bis zu dreimal so viele. Die Stadt hatte vor dem Krieg etwa 1,8 Millionen Einwohner. Etwa 350.000 Menschen seien noch vor Ort.

Mobile MSF-Kliniken hätten schon mehr als 500 Konsultationen durchgeführt. Die Helfer zögen wegen der Ausgangssperre nachts durch die Tunnel von einer Station zur nächsten, sagte Lacharité. Die meisten Menschen hätten Infektionen der Atemwege und Bluthochdruck. Je länger der Krieg dauere, desto größer werden die Gefahr angstbedingter Verhaltensstörungen.

Streit um Waffenlieferungen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat der Ukraine gestern zugesagt, direkte Rüstungslieferungen der deutschen Industrie zu finanzieren. Darunter seien wie bisher Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrgeräte, Munition »und auch das, was man in einem Artilleriegefecht einsetzen kann«. Scholz sprach jedoch nicht von einer direkten Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland – und löste damit neue Kritik aus.

»Die von Olaf Scholz angekündigte Unterstützung unserer Partnerländer bei den Waffenlieferungen in die Ukraine ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, aber er reicht nicht aus«, sagte Grünenpolitiker Anton Hofreiter dem Nachrichtenportal »t-online«. Auch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte Hofreiter, wirklich entscheidend sei, dass die Ukraine jetzt schnell auch schwerere Waffen bekomme.

Kritik an der Position des Kanzlers kam auch erneut von der Union. CDU/CSU-Vizefraktionschef Johann Wadephul kommentierte Scholz' Ankündigungen mit den Worten: »Zu wenig – zu spät.« Dies bleibe die »bittere Bilanz« auch nach den jüngsten Äußerungen des Kanzlers. Indem Deutschland weiterhin keine schweren Waffen liefere, lasse es »die Ukraine im Stich«, twitterte der CDU-Politiker.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk bemängelte ebenfalls einmal mehr, dass Deutschland keine schweren Waffen liefere. Die Bundeswehr wäre fähig, der Ukraine die Waffen zu liefern, die das Land benötige, sagte Melnyk am Dienstagabend im ZDF-»heute journal« und nannte den Marder-Schützenpanzer als Beispiel. Die Ukraine hoffe nach wie vor, dass diese Waffen so schnell wie möglich geschickt werden könnten.

Auch Wolodymyr Selenskyj forderte erneut mehr Waffenlieferungen an sein Land. »Wenn wir Zugang zu allen Waffen hätten, die wir brauchen, die unsere Partner haben und die mit den Waffen der Russischen Föderation vergleichbar sind, hätten wir diesen Krieg bereits beendet«, sagte der ukrainische Präsident in seiner Videoansprache. Es sei eine »moralische Pflicht« für jene Länder, die diese Waffen haben, diese zur Verfügung zu stellen. Damit könnten Tausende Leben von Ukrainerinnen und Ukrainern gerettet werden.

Während in Deutschland noch gestritten wird, erklärte Kanada, weitere schwere Artilleriewaffen an die Ukraine zu liefern. Details zu den Waffen und ihren Kosten sollen demnach in den kommenden Tagen vorgestellt werden, sagte Premierminister Justin Trudeau.

Was heute passiert

  • Außenministerin Annalena Baerbock reist heute nach Riga. Bis zum 22. April will sie Lettland, Estland und Litauen besuchen. Im Zentrum der Gespräche soll nach Angaben eines Sprechers des Auswärtigen Amts die Reaktion von EU, Nato und internationaler Gemeinschaft auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sein.

  • Vor der Weltbank-Frühjahrstagung ist für acht Uhr eine virtuelle Pressekonferenz mit Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze geplant. Dabei soll es unter anderem um die Folgen des Ukrainekriegs auf die Ernährungssicherheit gehen.

  • Der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak trifft sich in Washington mit seinem US-Kollegen Lloyd Austin. Thema unter anderem: die militärische Zusammenarbeit beider Länder. Nach dem Treffen ist eine Pressekonferenz geplant.

aar/bbr/dpa/Reuters
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