Krieg in Osteuropa Tote im Donbass, Kremlkritiker Chodorkowski drängt Westen zu Lieferung schwerer Waffen – das geschah in der Nacht

Russland soll Wohngebiete in Donezk und Luhansk angegriffen haben. Der Ex-Oligarch Chodorkowski wirft dem Westen Fehleinschätzungen vor. Und: Die ukrainisch-orthodoxe Kirche sagt sich von Moskau los. Der Überblick.
Prorussische Kämpfer sind mit einem gepanzerten Fahrzeug in Popasna in der Region Luhansk unterwegs

Prorussische Kämpfer sind mit einem gepanzerten Fahrzeug in Popasna in der Region Luhansk unterwegs

Foto: Alexander Ermochenko / REUTERS

Was in den vergangenen Stunden geschah

Die Ukraine hat Russland für den Tod von Zivilisten in dem von Regierungstruppen kontrollierten Teil der Region Donezk im Osten des Landes verantwortlich gemacht. »Heute haben Russen fünf Bürger des Donbass getötet und vier weitere verwundet«, schrieb der Gouverneur des Gebiets, Pawlo Kirilenko, bei Telegram. Die ukrainische Armee berichtete ebenfalls von heftigen Angriffen per Artillerie, Panzer, Mörser und aus der Luft auf zivile Infrastruktur und friedliche Wohngebiete. »Die Okkupanten feuerten auf 49 Orte in den Regionen Donezk und Luhansk.«

Das ukrainische Militär habe dem Angreifer dort Verluste beigebracht, teilte die Armee mit. Die Angaben sind nicht unabhängig zu prüfen. Laut der Regierung konnten einige Dutzend Bewohner aus beschossenen Orten aus dem von Kiew kontrollierten Teil des Donbass herausgebracht werden. Ukrainische Medien berichteten zudem von Angriffen im Raum Charkiw.

Der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, sprach von einer schwierigen Lage in der heftig umkämpften Stadt Sjewjerodonezk. Zwar habe man genug Mittel, um die Verteidigung zu halten, sagte er. Es könne aber sein, dass sich das ukrainische Militär aus taktischen Gründen zurückziehe. Russische Soldaten seien in der Stadt.

Wegen des russischen Angriffskriegs hat die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats ihre »völlige Selbstständigkeit und Unabhängigkeit« von Moskau erklärt. Was den Konflikt angehe, sei man uneins mit der Position des Moskauer Patriarchen Kirill, teilte die Kirche mit. Man verurteile den Krieg und appelliere an die Ukraine und Russland, den Verhandlungsprozess fortzusetzen und das Blutvergießen zu stoppen, hieß es. Kirill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, steht im Ukrainekrieg fest hinter dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Das sagt Kiew

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Lage im umkämpften Donbass angesichts russischer Angriffe als sehr schwierig bezeichnet. Moskau setze dort ein Maximum an Artillerie und Reserven ein, sagte Selenskyj am Freitag in seiner abendlichen Videoansprache. Es gebe Raketen- und Luftangriffe. Die ukrainische Armee verteidige das Land mit allen derzeit verfügbaren Ressourcen. »Wir tun alles, um die Armee zu stärken«, so der Präsident.

»Wenn die Okkupanten denken, dass Lyman und Sjewjerodonezk ihnen gehören werden, irren sie sich. Der Donbass wird ukrainisch sein.« Wenn Russland Zerstörung und Leid bringe, werde die Ukraine jeden Ort wiederherstellen. Dort werde nur die ukrainische Fahne wehen.

Eine Panzerhaubitze prorussischer Truppen bei Sjewjerodonezk (Aufnahme vom 24. Mai 2022)

Eine Panzerhaubitze prorussischer Truppen bei Sjewjerodonezk (Aufnahme vom 24. Mai 2022)

Foto: Alexander Ermochenko / REUTERS

Internationale und oppositionelle Reaktionen

Finnland drängt auf eine zügige Lösung des Streits um seine geplante Nato-Mitgliedschaft. Es sei sehr wichtig, dass die Vorbehalte der Türkei gegen einen Beitritt Finnlands zu dem Militärbündnis vor dem Nato-Gipfel Ende Juni beseitigt seien, sagt Außenminister Pekka Haavisto vor Journalisten nach einem Treffen mit seinem US-Kollegen Antony Blinken.

DER SPIEGEL

Der Kremlkritiker und frühere Chef des russischen staatlichen Ölkonzerns Yukos Michail Chodorkowski drängt den Westen zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. »Wenn den Ukrainern die Waffen, die sie anfordern, nicht geliefert werden, wird es bald wieder zu Kämpfen um Kiew kommen«, sagte der 58-Jährige der »Bild« . Er denke, westliche Politiker hätten vor allem Angst vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. »Sie glauben, sich nicht in einem Krieg zu befinden. Deswegen glauben sie auch, dass die Lieferung bestimmter Waffen zu einer Eskalation führen oder sie zu einer Kriegspartei machen könnte.«

Chodorkowski bezeichnete dies als »sehr dumme Haltung«, da westliche Politiker und Länder aus Putins Sicht bereits im Krieg mit Russland seien. Auf die Frage, ob der Krieg Putins Regierung stärken oder schwächen werde, antwortete er: »Das hängt davon ab, wie dieser Krieg enden wird. Wenn Putin den Krieg nicht gewinnt, wird das Regime geschwächt sein.«

Wirtschaftliche Reaktionen

Die Ratingagentur S&P drückt ihre Bewertung für die Kreditwürdigkeit der Ukraine weiter nach unten. Die Bonitätsnote wurde wegen der Auswirkungen des Krieges von »B-/B« auf »CCC+/C« herabgestuft. »Erhebliche Schäden an der ukrainischen Wirtschaft und der Fähigkeit zur Steuererhebung haben die Abhängigkeit der Staatsschulden von internationaler finanzieller Unterstützung erhöht«, teilte die Agentur mit. S&P erwarte, dass das reale Bruttoinlandsprodukt der Ukraine um 40 Prozent schrumpfen werde, wenn der Konflikt bis zur zweiten Hälfte des Jahres 2022 andauere.

Der ukrainische Staatskonzern Naftogaz und der staatliche Netzbetreiber haben an Deutschland appelliert, russische Erdgaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 einzustellen oder zumindest spürbar zu drosseln. Die Leitung durch die Ostsee sei unter anderem erlaubt worden, um die Gasversorgung Europas zu sichern, sagte Konzernchef Serhij Makohon im ukrainischen Fernsehen. »Aber wir sehen, dass Russland diese Prinzipien völlig verletzt.«

Humanitäre Lage

Für den Schulunterricht der nach Deutschland geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine werden einer Studie zufolge viele Tausend neue Lehrerstellen benötigt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die der »Welt am Sonntag«  vorliegt.

Rund 242.000 geflüchtete Minderjährige aus der Ukraine wurden bis zum 5. Mai in Deutschland registriert. Das entspricht mindestens 3,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine. »Geht man von den aktuellen Betreuungsrelationen an den Schulen aus, wären bei einem Anteil von 3,5 Prozent 13.500 zusätzliche Lehrkräfte in Vollzeitäquivalenten notwendig«, sagte Studienautor Wido Geis-Thöne.

Steige der Anteil auf fünf Prozent, seien es schon 19.400 Lehrkräfte. Werde eine für Willkommensklassen sinnvolle Klassenstärke von 15 Schülern zugrunde gelegt, wären es laut Studie bei 3,5 Prozent 20.200 und bei fünf Prozent 28.900 Lehrkräfte in Vollzeit.

Um kurzfristig für Entlastung zu sorgen, haben mehrere Bundesländer Aufrufe gestartet, um bereits pensionierte Lehrkräfte zurückzugewinnen. Mit einigen Hundert konnten seit Beginn des Krieges neue Verträge abgeschlossen werden, wie eine Umfrage der Zeitung unter den Bildungsministerien der Bundesländer zeigt.

Was heute passiert

  • In Stuttgart wird der 102. Deutscher Katholikentag fortgesetzt. Auf dem Programm steht am Vormittag eine Podiumsdiskussion zum Thema »Die Ukraine – Europas klaffende Wunde«. Mit dabei sind der Militärexperte Carlo Masala und der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei Manfred Weber.

  • In München beginnt um 13 Uhr eine Kundgebung gegen den Krieg in der Ukraine. Angemeldet sind 500 Teilnehmende.

bbr/dpa/Reuters
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