Krieg in Osteuropa Wachsende Sorge vor Chemiewaffeneinsatz, Berichte über Vergewaltigungen – das geschah in der Nacht

Haben russische Streitkräfte eine unbekannte chemische Substanz über Mariupol abgeworfen? In Charkiw wurden mehrere Zivilisten getötet. Und: Die Meldungen über Vergewaltigungen in der Ukraine nehmen zu. Der Überblick.
Einsatzkräfte versuchen in Charkiw, ein Feuer zu löschen – es brach nach russischen Angriffen aus

Einsatzkräfte versuchen in Charkiw, ein Feuer zu löschen – es brach nach russischen Angriffen aus

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Felipe Dana / dpa

Wachsende Sorge vor Chemiewaffeneinsatz

Seit Wochen ist die ukrainische Stadt Mariupol heftig umkämpft – und inzwischen fast völlig zerstört. Berichten zufolge spitzt sich die Lage dort nun weiter zu: Westliche Militärexperten beobachten Geländegewinne der russischen Truppen im Häuserkampf. Zudem teilte das in Mariupol kämpfende ukrainische Regiment Asow am Montagabend mit, russische Streitkräfte hätten mit einer Drohne eine unbekannte chemische Substanz über der Stadt abgeworfen.

Der ehemalige Asow-Kommandeur Andryj Bilezkyj berichtete auf Telegram von drei Personen mit Vergiftungserscheinungen, darunter Atembeschwerden und Bewegungsstörungen. Auch die ukrainische Abgeordnete Iwanna Klympusch erklärte auf Twitter , Russland habe in Mariupol eine »unbekannte Substanz« eingesetzt und die Menschen litten an Atemnot. »Wahrscheinlich Chemiewaffen!«, schrieb sie.

Eine Bestätigung dafür aus anderen ukrainischen Militärquellen oder von weiteren offiziellen Stellen gibt es bisher nicht.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in seiner nächtlichen Videoansprache, russische Streitkräfte könnten chemische Waffen einsetzen. Er sagte aber nicht, dass dies bereits geschehen sei. Man nehme die Drohungen Russlands »sehr ernst«, sagte Selenskyj. Ein möglicher Chemiewaffenangriff sollte für ausländische Staaten Anlass sein, noch härter auf die russische Aggression zu reagieren.

Die westlichen Staaten haben Moskau vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt, falls es in dem vor fast sieben Wochen begonnenen Krieg Chemiewaffen oder andere Massenvernichtungswaffen einsetzen sollte. Nach den Berichten aus Mariupol schrieb die britische Außenministerin Liz Truss auf Twitter , man arbeite mit Partnern daran, Details zu verifizieren. Jeder Einsatz solcher Waffen wäre eine Eskalation, für die man den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Führung zur Verantwortung ziehen werde.

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Selenskyj sagte in seiner Videoansprache auch, dass der Ukraine die schweren Waffen fehlten, um Mariupol zu befreien. »Wenn wir Flugzeuge und genug schwere gepanzerte Fahrzeuge und die nötige Artillerie hätten, könnten wir es schaffen.« Er sei zwar sicher, dass die Ukraine irgendwann die Waffen bekommen werde, die sie brauche. »Aber nicht nur Zeit geht verloren, sondern auch das Leben von Ukrainern.« Dafür seien diejenigen verantwortlich, die nicht jetzt die Waffen lieferten.

DER SPIEGEL

Kampfhandlungen

In Charkiw sind ukrainischen Angaben zufolge mindestens acht Zivilisten durch russischen Artilleriebeschuss getötet worden. Weitere 19 Personen seien verletzt worden, teilte Gouverneur Oleh Synjehubow am Montag via Telegram mit. Unter den Todesopfern war demnach ein 13-jähriges Kind und unter den Verletzten waren zwei Kinder zwischen vier und neun Jahren.

In den 24 Stunden zuvor waren in dem Gebiet ukrainischen Angaben zufolge elf Menschen getötet worden, darunter ein siebenjähriges Kind.

Die Behörden in Charkiw warnen die Bevölkerung zudem vor Landminen, die auf die Stadt abgeworfen worden seien. Am Montag sperrten die Sicherheitskräfte ein Gebiet im Osten von Charkiw ab, um eine Reihe kleiner, in Wohnstraßen verstreuter Sprengsätze zu beseitigen. Der Leiter der ukrainischen Minenräumungseinheit, Oberstleutnant Nikolaj Owtscharuk, sagte, es handele sich um PTM-1M-Minen aus Plastik, die mit Zeitzündern detonierten und von den sowjetischen Streitkräften in Afghanistan weithin eingesetzt wurden. Streuminen wie die PTM-1M-Minen sind nach dem Ottawa-Abkommen über Antipersonenminen wegen der Gefahr für die Zivilbevölkerung verboten.

Berichte über zahlreiche Vergewaltigungen in der Ukraine

Einer Uno-Vertreterin zufolge gibt es immer mehr Berichte über Vergewaltigungen in der Ukraine. »Wir hören immer häufiger von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt«, sagte die Direktorin von Uno-Frauen, Sima Sami Bahous, dem Sicherheitsrat. Die Massenvertreibungen, der Einsatz von Wehrpflichtigen und Söldnern sowie die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung »lassen alle Alarmglocken schrillen«.

Die Präsidentin der Menschenrechtsgruppe La Strada Ukraine, Kateryna Tscherepacha, sagte dem Rat, über die Hotline ihrer Organisation seien neun Anrufe mit entsprechenden Vorwürfen gegen russische Soldaten eingegangen. Dies sei nur die Spitze des Eisbergs: Gewalt und Vergewaltigung würden »von den russischen Invasoren in der Ukraine als Kriegswaffe eingesetzt«. Russlands Uno-Botschafter Dmitri Poljanski sagte dagegen, sein Land führe keinen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Ukraine und ihre Verbündeten wollten »die russischen Soldaten als Sadisten und Vergewaltiger darstellen«.

Eine Mitarbeiterin der britischen BBC war in einem kleinen Ort 70 Kilometer westlich von Kiew und sprach dort mit mehreren Frauen , die eigenen Angaben zufolge von russischen Soldaten und deren Verbündeten vergewaltigt worden waren.

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Die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denisowa, berichtete ebenfalls von zahlreichen Vergewaltigungen im Land. Etwa 25 Mädchen und Frauen im Alter zwischen 14 und 24 Jahren seien »systematisch vergewaltigt« worden, während sie im Keller eines Hauses in Butscha festgehalten wurden. »Neun von ihnen sind schwanger«, sagte Denisowa. »Russische Soldaten sagten ihnen, sie würden sie bis zu dem Punkt vergewaltigen, an dem sie keinen sexuellen Kontakt mehr mit Männern haben wollten – um zu verhindern, dass sie ukrainische Kinder bekommen.«

Das sagt Moskau

Der russische Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin fordert, russischen Kritikern des Militäreinsatzes in der Ukraine die Staatsbürgerschaft zu entziehen. »Die große Mehrheit unserer Bürger unterstützt den besonderen Militäreinsatz in der Ukraine, sie verstehen seine Notwendigkeit für die Sicherheit unseres Landes und unserer Nation«, schrieb Wolodin am Montag bei Telegram. Es gebe jedoch auch »Verräter«, denen bislang nicht die Staatsbürgerschaft entzogen werden könne. »Aber vielleicht wäre das gut«, fügte er hinzu.

Als Beispiel nannte Wolodin den Fall der Journalistin Marina Owsjannikowa, die Mitte März während einer Livesendung im russischen Staatsfernsehen ein Schild mit der Aufschrift »Nein zum Krieg« in die Kamera gehalten hatte. Ein Interview mit der Journalistin können Sie hier nachlesen .

Wirtschaftliche Konsequenzen

Der russische Krieg gegen die Ukraine könnte die globale Wirtschaft nach Angaben der Welthandelsorganisation (WTO) in diesem Jahr bis zu 1,3 Prozentpunkte Wachstum kosten. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2022 nach Modellrechnungen nur noch um 3,1 bis 3,7 Prozent wachsen, erklärte die WTO in einer Analyse über die Folgen des Krieges für den Handel . Als Grund führt die Organisation höhere Lebensmittel- und Energiepreise und fallende Exporte Russlands und der Ukraine an.

Im Oktober war die WTO noch von einem Wachstum des Welthandels in diesem Jahr um 4,7 Prozent ausgegangen. Dies könne nach neuen Berechnungen fast halbiert werden, so die WTO. Es gehe nicht nur um russische und ukrainische Exporte von Energie, Getreide und Sonnenblumenprodukten. Russland sei einer der Hauptlieferanten von Palladium und Rhodium für die Herstellung von Katalysatoren für Autos; die Ukraine versorge die Halbleiterindustrie mit Neon.

»Europa wird die wirtschaftlichen Auswirkungen als Hauptabnehmer russischer und ukrainischer Exporte am stärksten zu spüren bekommen«, so die WTO.

Was heute passiert

  • Russlands Präsident will heute Fragen von Journalistinnen und Journalisten beantworten: Putin stellt sich bei einem Besuch des geplanten Weltraumbahnhofs Wostotschny im Osten des Landes Medienvertretern. Davor will er dort auch mit seinem belarussischen Amtskollegen und Verbündeten Alexander Lukaschenko über Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew um ein Ende des Krieges in der Ukraine sprechen.

  • Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht heute Polen. Er wird sich in Warschau mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda treffen. Im Mittelpunkt ihrer Gespräche wird der russische Angriffskrieg in der Ukraine stehen. Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender treffen außerdem ukrainische Flüchtlinge und ehrenamtliche Helfer.

aar/dpa/Reuters/AFP
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