Krieg in Osteuropa Warnung vor Chemiewaffeneinsatz, Selenskyj ruft zum Kampf auf – das geschah in der Nacht

Feuerwehrleute sind am Montag an dem zerstörten Einkaufszentrum Retroville in Kiew im Einsatz: Laut Bürgermeister Klitschko starben in der Stadt seit Kriegsbeginn 65 Zivilisten durch Luftangriffe
Foto: ARIS MESSINIS / AFPWas in den vergangenen Stunden geschah
Die russische Armee hat am Montag zahlreiche Städte in der Ukraine angegriffen. Meldungen über Luftangriffe gab es unter anderem aus der Hauptstadt Kiew, aus der zweitgrößten Stadt Charkiw im Osten, den Hafenstädten Mariupol und Odessa sowie aus Mykolajiw im Süden.
Nach Angaben des Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko, sind dort seit Kriegsbeginn vor knapp einem Monat »65 friedliche Einwohner« bei Luftangriffen getötet worden.
In der seit Wochen von russischen Truppen belagerten Stadt Mariupol sind nach Angaben der Militärverwaltung mittlerweile »mehr als 80 Prozent der Infrastruktur beschädigt oder zerstört«. Die humanitäre Lage dort ist laut der Uno »äußerst ernst«, mit »einem kritischen und potenziell lebensbedrohlichen Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten«. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nannte »das, was in Mariupol geschieht, ein schweres Kriegsverbrechen«.
Der Bürgermeister von Boryspil rief derweil die Zivilbevölkerung zum Verlassen der Stadt auf – offenbar in Erwartung russischer Angriffe. Der Appell zur Evakuierung erfolge aus militärtaktischen Gründen, sagte Wolodymyr Borissenko. »Die Erfahrung aus anderen Orten, um die gekämpft wird, hat gezeigt, dass die Arbeit der Streitkräfte einfacher ist, wenn weniger Zivilbevölkerung in der Stadt ist.« Boryspil hat knapp 60.000 Einwohner und liegt etwa 30 Kilometer südöstlich von Kiew.
Am Montag konnten nach Angaben von Vizeministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk insgesamt 8057 Bürgerinnen und Bürger über sieben Fluchtkorridore in Sicherheit gebracht werden. Darunter seien allein 3007 Menschen aus Mariupol gewesen.
Außerdem stoppte die ukrainische Spionageabwehr eigenen Angaben zufolge ein mögliches Attentat auf Präsident Wolodymyr Selenskyj: Eine Gruppe von russischen Saboteuren, angeführt von einem Geheimdienstler, sei in der Stadt Uschgorod im Dreiländereck zwischen der Ukraine, der Slowakei und Ungarn festgenommen worden, berichtete die Agentur Unian. Zum Auftrag der etwa 25 Männer gehörten neben dem Anschlag auf Selenskyj in Kiew auch die Ausführung einer Reihe von Sabotageakten im Regierungsviertel sowie in anderen Landesteilen der Ukraine. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Das sagt Kiew
Der ukrainische Präsident will über alle in Verhandlungen mit Russland erzielten Vereinbarungen landesweit per Volksabstimmung entscheiden lassen. Das kündigte Selenskyj am Montagabend im Fernsehen an. Er erteilte zugleich Ultimaten aus Russland eine grundsätzliche Absage. »Die Ukraine kann keine Ultimaten der Russischen Föderation erfüllen«, sagte er. »Man muss uns alle vernichten. Dann wird ihr Ultimatum automatisch erfüllt.« Selenskyj erklärte auch, er bestehe auf einem persönlichen Gespräch mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Der Kreml hatte einen solchen Vorschlag zuletzt zurückgewiesen.

Dieses Videostandbild wurde vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten zur Verfügung gestellt
Foto: Uncredited / dpaSelenskyi meldete sich auch erneut in einer Videobotschaft zu Wort : Dabei rief er seine Landsleute zum Widerstand gegen Russlands Truppen und zum Durchhalten auf. »Um unser Volk zu retten. Kämpft. Kämpft und helft!« In seiner Ansprache an das »große Volk der großen Ukraine« bezeichnete Selenskyj die russischen Militärs als »Sklaven ihrer Propaganda, die ihr Bewusstsein verändert hat«. Er drohte zudem allen russischen Militärs, die sich an wehrlosen ukrainischen Zivilisten vergriffen: Auf sie warte der Trauerflor.
Internationale Reaktionen
Das US-Verteidigungsministerium geht davon aus, dass die russischen Truppen in der Ukraine vorsätzlich zivile Ziele ins Visier nehmen. »Wir sehen weiterhin wahllose Angriffe auf Zivilisten, von denen wir glauben, dass sie in vielen Fällen vorsätzlich sind«, sagte Ministeriumssprecher John Kirby. Deutlich sei, dass die Angriffe zu einer wachsenden Zahl ziviler Opfer führten. »Dafür gibt es keine Rechtfertigung.«
US-Präsident Joe Biden bekräftigte in der Nacht zu Dienstag zudem Vorwürfe, Kremlchef Putin erwäge den Einsatz von Chemiewaffen in der Ukraine: Russland beharre auf dem erfundenen Vorwurf, die Ukraine verfüge über biologische und chemische Waffen, sagte Biden. Das sei ein klares Zeichen dafür, dass Putin selbst den Einsatz solcher Waffen in Betracht ziehe.
Eines der Instrumente, die Putin aber am ehesten einsetzen werde, seien Cyberangriffe, erklärte Biden weiter. Er forderte Firmen in den USA auf, ihre Schutzmaßnahmen zu stärken.
EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski warf Russland vor, absichtlich die Produktionsketten von Lebensmitteln in der Ukraine zu vernichten. Ziel sei es, Menschen in den Hunger zu treiben, sagte der polnische Politiker am Montagabend in Brüssel. »Das ist Teil der imperialen Politik Russlands – offensichtlich eine Methode zur Eroberung. Man nutzt eben auch ganz bewusst dieses Mittel des Hungers.« Die Ukraine ist einer der weltweit größten Produzenten von Getreide.
Wie es heute weitergeht
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments kommt heute nach Berlin: Roberta Metsola wird gegen 11 Uhr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffen und später dann auch Außenministerin Annalena Baerbock und Bundeskanzler Olaf Scholz. Metsolas größtes Anliegen, so berichtet es SPIEGEL-Korrespondent Markus Becker, ist dabei der Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine. Baerbock hat die Zahl gestern mit acht Millionen prognostiziert.