Proteste im Osten Russlands "So einfach aufgeben werden wir nicht"

Demonstrant mit Mundschutz und Plakat mit der durchgestrichenen Aufschrift "Putinizm" (Putinismus) in Chabarowsk
Foto: Igor Volkov/ dpa"Lasst uns durch die Stadt spazieren und die Tauben auf dem Lenin-Platz füttern": In Chabarowsk im Fernen Osten Russlands ist das Vogelfüttern zum Code geworden, sich im Zentrum zu versammeln und zu protestieren. Offiziell sind Protestversammlungen in Russland ohne Genehmigung nicht erlaubt, schon gar nicht in Corona-Zeiten. Und doch versammeln sich jeden Abend aufs Neue Menschen. Hunderte sind es, an Samstagen sogar Zehntausende, die durch die 550.000-Einwohner-Stadt, acht Flugstunden von Moskau entfernt, ziehen. Bisher gab es nur wenige Festnahmen.

Demonstranten in Chabarowsk: Acht Flugstunden von Moskau entfernt
Foto: Dmitry Morgulis/ ITAR-TASS /imago imagesSie fordern die Freilassung "ihres" nun in Moskauer Haft sitzenden und abgesetzten Gouverneurs Sergej Furgal (Lesen Sie hier die Hintergründe). Doch längst geht es um mehr. Die Menschen sind wütend auf die "Macht" in Moskau, den "Putinismus", den Kreml, der ihnen ihren Regionalchef genommen hat.
Drei Chabarowsker erzählen, warum sie sich den Protesten angeschlossen haben - und was sie glauben, bewirken zu können:
Jekaterina Ischenko, 25 Jahre, Studentin
Als Jekaterina Ischenko das erste Mal ans Telefon geht, ist die 25-Jährige kaum zu verstehen. Autos hupen, "Freiheit für Furgal" rufen sie im Hintergrund. "Ich bin gerade auf der Demonstration." Drei Stunden später ein neuer Versuch, jetzt kann Ischenko in Ruhe sprechen. Sie ist vom ersten Tag an bei den Protesten dabei - nur unterbrochen von ihrem Urlaub: "Wenn ich nicht arbeiten muss, gehe ich protestieren", sagt die Studentin der Wirtschaft.
"Ich hoffe sehr, dass sie uns endlich hören. Als Politiker habe ich Furgal nie als jemanden gesehen, der sich Verbrechen schuldig gemacht haben könnte. Wenn das so ist, dann muss das ein Gericht in einem fairen und transparenten Prozess klären und eines hier bei uns. Es geht immerhin um angebliche Taten vor Jahren in der Region.
Ich mache mir natürlich keine Illusionen, dass nun alles gut wird, mir scheint, sie wissen im Kreml nicht, wie sie nun reagieren sollen. So einfach aufgeben werden wir nicht, wir haben noch viel Kraft für eine lange Zeit. Wir sind schließlich ein starkes Volk hier im Fernen Osten, haben unseren Willen.
Anfangs hat sich meine Mutter Sorgen gemacht, jetzt ruft sie an und sagt nur: 'Ah, du bist auf der Demo, alles klar, bis später.' Ich bin mehrmals schon von irgendwelchen Männern fotografiert worden. Ich sehe, dass es immer mehr Provokationen gibt, Konflikte unter uns geschürt werden sollen. Aber wir protestieren friedlich weiter. Andere Städte in Russland haben begonnen, sich uns anzuschließen, deshalb können wir uns nicht einfach zurückzuziehen.
Bei uns sitzen die Beamten und Politiker bequem in ihren Sesseln, bekommen viel Geld, kümmern sich um kaum etwas, lassen vielleicht irgendwelche Häuser renovieren, wobei dann Geld in irgendwelchen Taschen verschwindet. Furgal hat seinen Job als Gouverneur gemacht, hat mit den Menschen gesprochen, sich ihnen nicht überlegen gefühlt.
Den Übergangsgouverneur aus Moskau, der hier nun als Furgals Nachfolger eingesetzt wurde, ist für mich ein Vertreter der Kremlpartei Einiges Russland. Zwar ist er da nicht mehr Mitglied (er ist Mitglied in der rechtspopulistischen LDPR wie Furgal, die Partei sitzt in der Duma), aber so wirkt er auf mich. Und all diese Leute des Kremls machen doch, was sie wollen. Und wir haben einfach keine Wahl, werden ständig aufgefordert, dieselben Kandidaten zu wählen. Wladimir Putin ist schon so lange an der Macht, über 20 Jahre. Er hat nach seinen Verfassungsänderungen nun noch mehr Macht, kann noch zweimal antreten. Das ist nicht richtig, finde ich. Wir brauchen Veränderung in Russland."
Kirill Borodulin, 25 Jahre, Computerdesigner
"Alle reden hier über nichts anderes, auch auf der Arbeit. Ich war mehrmals bei den Protesten dabei, auch gleich am ersten Tag. Es war ja offensichtlich, wie ungerecht das alles ablief. Kaum war Furgal festgenommen, berichteten alle Staatssender ständig, dass er ein Mörder sei. Ich schließe nicht aus, dass es einige dunkle Flecken in seiner Biografie gibt. Nur wir fordern einen fairen Prozess hier in Chabarowsk. Mich stört, dass sie ihn einfach loswerden, weit wegsperren, wir ihn vergessen sollen.
Und den Übergangsgouverneur, den sie uns geschickt haben aus Moskau? Den kann man doch nicht ernst nehmen, er erzählt so viel Blödsinn.

Kirill Borodulin, 25, im Zentrum von Chabarowsk vor dem Sitz des Gouverneurs
Foto: privatFurgal dagegen hat in den zwei Jahren als Regionalchef mehr gemacht als seine Vorgänger in Jahrzehnten (von der Kremlpartei Einiges Russland). Ich habe für ihn gestimmt, wir brauchten Veränderung nach all den Jahren. Furgal hat für die Bewohner in abgelegenen Orten unserer Region verbilligte Flugtickets organisiert, sich um Waisenkinder gekümmert. Deshalb stehen wir hinter ihm. Er braucht unsere Unterstützung.
Das ist hier keine Opposition, das sind ganz normale Leute wie ich, Angestellte und Arbeiter, und ehrlich gesagt, jetzt muss ich mal schimpfen, fühlen wir uns verarscht von dem, was passiert. Man hat das Gefühl, alle hauen nach Moskau ab, dort ist es cool, dort fließt das Geld hin. Und hier, wo es eigentlich viel Geld gibt - es gibt viele Rohstoffe und Holz - wird gestohlen und den meisten ist es egal.
Die Polizei hält sich bisher weitgehend zurück, verhält sich überwiegend akkurat. Hier wird keiner geschlagen mit Schlagstöcken wie in anderen Städten.
Wie es weitergeht? Ich weiß es nicht. In Moskau haben sie nicht erwartet, dass wir so stark und lange reagieren, uns über die sozialen Medien wie Instagram organisieren. Alle schauen auf uns in Chabarowsk. Dass nun auch in anderen Regionen Menschen mit Schildern 'Ich/Wir sind Furgal' auf die Straße gehen, zeigt mir, dass die Menschen auch dort die Gesetzlosigkeit verstehen, dass sie ihnen nicht egal ist."
Olga, 33 Jahre, Besitzerin eines Schönheitssalons
"Ich bin gleich nach der Inhaftierung von Gouverneur Furgal auf die Straße gegangen. Mich empört, wie sie ihn festgenommen haben. Er wurde einfach wie ein Drogenhändler abgeführt und in einen Wagen geschubst. Die Menschen haben ihn hier gewählt - auch ich. Er war sehr bürgernah, nicht arrogant, hat sich interessiert für die Probleme der Menschen. Unter meinen engen Freunden gibt es viele, die soziale Projekte initiiert haben, und er hat sie immer unterstützt. Er wurde respektiert, war eine Autorität in der Stadt und in der Region.
Ich wollte zeigen, dass ich mit dieser Art nicht einverstanden bin. Wir wissen ja, dass es schon vorgekommen ist, dass sich jemand plötzlich im Untersuchungsgefängnis wiedergefunden hat und gestorben ist - und jetzt zu Corona-Zeiten, man weiß nie. Natürlich verstehe ich, dass sie in Moskau, nur weil wir 'Befreit Furgal' schreien, nicht denken: 'Oh ja, stimmt, lasst ihn frei und nach Chabarowsk als Gouverneur zurückkehren'. Ich wollte ein Zeichen setzen, Aufmerksamkeit erzeugen. Das ist uns gelungen.
Jetzt gehen die Proteste weiter, ich glaube, dass die Menschen versuchen, für die richtige Sache zu kämpfen. Das ist gut. Nur geht es jetzt nicht mehr nur darum, unseren Gouverneur zu verteidigen, sondern der eine schreit das eine, der andere das andere. Es geht nun gegen alle, gegen die Führung des Landes. Ich bin mir nicht so sicher, wer da wen für seine Interessen benutzt. Und ich mag nicht, wenn Menschen für etwas benutzt werden. Nicht, dass ich für Putins Verfassungsreform gestimmt hätte, ich habe nicht teilgenommen. Dass die Amtszeiten von Putin auf null gesetzt wurden, tja (lacht), ich möchte auch, dass mein Alter zurückgesetzt wird, wieder 13 Jahre alt sein. Wenn, dann hätten wir über jede Änderung einzeln abstimmen müssen, aber so war es die falsche Form."