Verfassungsreform in Russland Tausend Jahre Putin

Wladimir Putin: Seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht
Foto:Alexey Druzhinin/ Sputnik/ REUTERS
Wenn etwas in die Verfassung gehört, dann Gott, davon ist Irina überzeugt. "Sein Name wird unsere Konstitution insgesamt segnen", sagt die 55-Jährige. Südwestlich vom Zentrum Moskaus, in der Nähe der Mosfilmowskaja Straße, befindet sich Irina mit ihrer Enkelin auf dem Weg zum Gottesdienst in einer der unzähligen orthodoxen Kirchen der Hauptstadt. "Wichtig und vernünftig" seien die Verfassungsänderungen des russischen Präsidenten, sagt sie. "Die sozialen Änderungen werden es ermöglichen, unser Land zu bewahren." Sie meint damit die Rentenanpassungen und den Mindestlohn, die Bestandteil der neuen Verfassung werden sollen - neben Gott und einigem mehr.
So hat es Wladimir Putin angekündigt. So wird es ab Dienstag in den entscheidenden Lesungen von den Parlamentskammern in dieser Woche entschieden werden. Die Verfassungsreform, vom Präsidenten im Januar verkündet, geht in die finale Phase. Am 18. März will der Staatschef das Gesetzespaket unterzeichnen. Es ist jener Tag, an dem er vor sechs Jahren die ukrainische Schwarzmeerhalbinsel Krim annektieren ließ.

Präsident Putin mit den Mitgliedern seiner Arbeitsgruppe zur Verfassung
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Die Wahl des Datums zeigt, welche Bedeutung die Reform hat, die der Kreml innerhalb weniger Wochen dem Land verordnet hat. Putin bereitet die Zeit nach Ende seiner Präsidentschaft 2024 vor, so viel ist klar. Nur wo sein Platz dann sein wird, nicht: ob im Staatsrat, der in der Verfassung verankert wird? Oder doch in einem anderen Amt?
Schon wird darüber spekuliert, dass Putin doch erneut Präsident werden könnte. Eigentlich schließt das die jetzige Verfassung aus. Aber wer weiß, womöglich könnte der Kreml argumentieren, nach der Reform sei alles neu in Russland - man befände sich in einer Art Reset-Zustand. Putin jedenfalls sagte, dass er sein Amt nicht als Job empfinde, "sondern als Schicksal". Womit er seine Rolle noch einmal überhöhte.
Eine Flut an Vorschlägen
Wie und wo er diese Rolle nach 2024 ausfüllen wird, darüber wird höchstens in liberalen und kritischen Medien sowie im Internet diskutiert. Zu unübersichtlich scheinen die Änderungen, zu abstrakt allein die Verfassung aus dem Jahr 1993 unter Jelzin. Rund 900 Vorschläge sollen bei Putins zuständiger Arbeitsgruppe eingegangen sein. Lieber sprechen die Menschen so wie Irina über die sozialen Punkte, die Putin in das Paket strategisch einbinden ließ: Maßnahmen, gegen die niemand etwas haben kann.
Es wirkt so, als habe sich selbst die Opposition mit all dem abgefunden. Protestiert wurde kaum gegen die Verfassungsänderungen. "Dass Putin ewig an der Macht bleiben wird, ist ja nicht überraschend - deshalb nichts, was die Menschen allein auf die Straßen treibt", drückte es einer der Organisatoren des Marsches für den ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow Ende Februar aus.
Putins Verfassungsreform ist längst nicht nur eine machtpolitische Maßnahme, die:
unter anderem Zuständigkeiten zwischen Parlament, Regierung und Präsidenten etwas verschiebt,
Putin als ehemaligen Präsidenten einen lebenslangen Sitz im Föderationsrat und damit Immunität garantiert
und als gesetzlichen Verstoß einstuft, russisches Territorium aufzugeben, womit auch die Kritik an der Krim-Annexion gemeint sein dürfte.
Putins Gesetzespaket ist auch zu einem ideologischen Projekt geworden. Es führt ein Sammelsurium konservativer und patriotischer Elemente in die Verfassung ein, und das nicht gerade auf elegante und logische Weise.
So soll es im dritten Abschnitt der Verfassung "Föderaler Aufbau" heißen, dass die Russische Föderation durch eine "tausendjährige Geschichte vereint" sei, die das "Andenken der Vorfahren" wahre, "die uns Ideale, den Glauben an Gott sowie Kontinuität in der Entwicklung des russischen Staates hinterlassen haben". Dass Gott nur am Rande erwähnt wird, dazu in einem historischen Kontext, hat vor allem damit zu tun, dass die Änderung der Präambel der Verfassung sehr aufwendig gewesen wäre. Eigentlich ist dies aber die Stelle, an der es um Grundsätzliches geht. Nun wird auf die Vorfahren in der Präambel und im dritten Abschnitt verwiesen, zudem die Geschichte als großes Kontinuum dargestellt, so als hätte es zum Beispiel den Kampf zwischen den Anhängern des Zaren und den Bolschewiken nicht gegeben.
Welchen Gott denn Putin genau meine, wollte Kreml-Sprecher Dimitrij Peskow nicht sagen. "Ich glaube, das wird rechtzeitig geklärt", ist seine ausweichende Antwort.
Ehe, Kinder und Geschichte
Auch wenn die Verfassung die Trennung von Staat und Kirche vorsieht, präsentieren sich die orthodoxe Kirche und Patriarch Kirill gern als Allianz mit dem Kreml, vor allem, wenn es um die Verteidigung konservativer Werte im Land geht. Die finden sich in Putins 24 Seiten umfassenden Änderungen durchaus wieder:
Die Ehe wird in Artikel 72 als "Vereinigung von Mann und Frau" beschrieben, gleichgeschlechtliche Bündnisse damit ausgeschlossen. "Solange ich Präsident bin, werden wir nicht Elternteil 1 und Elternteil 2 haben, wir werden 'Papa' und 'Mama' haben", hatte Putin angekündigt. Russland hat bereits ein Gesetz, das die "Homosexuellenpropaganda" bei Minderjährigen untersagt.
Die Kinder sollen "zur wichtigen Priorität der Regierungspolitik Russlands" erklärt werden.
Hinzu kommt kurz vor dem 75. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland die Verankerung des "Schutzes der historischen Wahrheit". Was darunter zu verstehen ist, hatte Putin mit seiner Interpretation des Hitler-Stalin-Pakts deutlich gemacht.
Am 22. April sollen die Russen abstimmen
Der Politologe Alexej Makarkin sieht in diesen Maßnahmen den Versuch Putins, seine Anhänger im konservativen und patriotischen Lager anzusprechen. "Mit den Änderungen soll Loyalität gegenüber den traditionellen Werten demonstriert, womöglich die Wahlbeteiligung bei der Abstimmung erhöht werden", sagte der Experte der Zeitung RBK. Die ist für den 22. April angesetzt, der wurde zum arbeitsfreien Tag erklärt. Dann sollen die Russen über das Gesetzespaket befinden. Es reicht zur Annahme die einfache Mehrheit. Putin aber will so seine Verfassungsreform legitimieren, er braucht also eine vorzeigbare Beteiligung. Bisher ist das Interesse laut einer Lewada-Umfrage gering.
Mit seinen Ergänzungen hat der Präsident zudem manchen vor den Kopf gestoßen, etwa dem Mufti von Tatarstan. Der kritisierte, wieso Russisch allein als "die Sprache des staatsbildenden Volkes" festgeschrieben werde.
Der Machtapparat hat noch einiges zu tun, will er die Wahlbeteiligung erhöhen. Die gläubige Irina wird abstimmen - sie und ihre fünf Kinder, wie sie betont. Dass sie über alle Änderungen zusammen mit "Ja" oder "Nein" votieren soll statt über jeden einzelnen Punkt, stört sie nicht. Das sei technisch nicht denkbar, sagte die Leiterin der Wahlkommission Ella Pamfilowa und wies damit Kritik zurück.
Sie verglich die Abstimmung gar mit einem Mittagessen. Das wird in Russland oft in den Restaurants als "Komplekt" angeboten, einem festgelegten Tagesmenü zum günstigen Preis. Da sei es auch besser, dieses zu bestellen, als ganz zu verzichten, nur weil man eine der Speisen nicht mag. Man müsse ja nicht alles aufessen.