Mikhail Zygar

Gewalt in Russland Was würden russische Soldaten in einem Vorort Moskaus tun?

Mikhail Zygar
Eine Kolumne von Mikhail Zygar
Die Eskalation roher Gewalt in Butscha ist keine Überraschung: Auch in Russland selbst geht der Sicherheitsapparat brutal gegen Bürger vor. Weil er es qua Position kann – und von Putins Regime gedeckt wird.
Russische Polizisten führen in Sankt Petersburg einen Demonstranten ab

Russische Polizisten führen in Sankt Petersburg einen Demonstranten ab

Foto: Anatoly Maltsev / EPA

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Warum haben sich die russischen Soldaten in Butscha so sinnlos brutal aufgeführt? Meine russischen Freunde und ich waren zunächst schockiert, am Boden zerstört. Einige von uns konnten nicht schlafen, essen oder gar sprechen. Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass so etwas passiert.

Doch dann fragten wir uns: Was würde passieren, wenn dieselben Soldaten morgen nicht in den Vororten von Kiew, sondern in einem gehobenen Vorort von Moskau stünden? Wahrscheinlich würden sie sich auch so verhalten.

Tatsache ist, dass sich in Russland in den vergangenen Jahren die Überzeugung entwickelt hat, dass Menschen mit Waffen ein Recht auf Gewalt haben – und dass ihnen nichts passieren wird.

Viele Jahre lang habe ich auf die Frage, ob es gefährlich sei, ein unabhängiger Journalist in Russland zu sein, geantwortet: Es sei nicht gefährlicher als Klempner zu sein. Ich habe stets den Punkt gemacht, dass in Russland alle Menschen vor der Gesetzlosigkeit gleich sind. Die russischen Strafverfolgungsbehörden – die Polizei, die Bundespolizei, die Gerichte und der Strafvollzug – sind zur größten kriminellen und sogar terroristischen Gruppe des Landes geworden. Und jeder Bürger des Landes wusste: Du bist sicher, bis du zufällig von der Polizei angehalten wirst. Dann stehst du am Abgrund, so oder so.

Die Polizei hat eine Vorgabe, wie viele Verbrechen sie aufklären muss. Um diese Ziele zu erfüllen und eine Prämie zu erhalten, schieben Polizisten einem zum Beispiel oft Drogen unter. Man kann auch aus jedem anderen erfundenen Grund belangt werden – und das Gericht stellt sich immer auf die Seite der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Anklage. Wenn du plötzlich wegen irgendeiner Sache von der Polizei kassiert wirst, bedeutet das, dass du von den Pforten der Hölle verschluckt wirst.

Russische Sicherheitskräfte in Moskau, 6. März 2022

Russische Sicherheitskräfte in Moskau, 6. März 2022

Foto: YURI KOCHETKOV / EPA

In den vergangenen Jahren haben russische Medien immer wieder erschreckende Details darüber veröffentlicht, wie Polizeibeamte im ganzen Land mit Inhaftierten umgehen. Einer der schlimmsten Fälle: In Kaliningrad wurde ein Mann mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt, ein Heizungsrohr platzte, heißes Wasser schoss in den Raum, und der Häftling wurde bei lebendigem Leib gekocht – er starb an seinen Verbrennungen.

Aber die Polizeiwachen sind nur der erste Höllenkreis. Als Nächstes kommt die Untersuchungshaft SIZO, dann das Strafvollzugssystem. Ganz Russland weiß, dass dort Menschen gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt und getötet werden. Unabhängige Journalisten haben eine Reihe von Medien gegründet, die sich auf das Thema Gewalt in Gefängnissen spezialisiert haben.

»MediaZona« ist eine Nachrichtenseite, die mit der Unterstützung von Pussy Riot erstellt wurde. Sie berichtet seit mehreren Jahren über die unmenschlichen Folterungen, die regelmäßig in russischen Gefängnissen stattfinden. In den vergangenen Monaten hat Gulagu.net Hunderte grausame Videos von Folterungen Gefangener veröffentlicht, die von Gefängniswärtern selbst gefilmt wurden.

Aber es geht hier nicht nur um die Arbeit der unabhängigen Medien – die Gewalt, die im russischen Strafverfolgungssystem herrscht, ist allen bekannt, von ganz unten bis ganz oben. Sie wird gewissermaßen als Norm angesehen. Keiner kämpft dagegen an. Die Behörden verschließen die Augen davor. Auch die Gesellschaft schenkt ihr keine Beachtung.

Diese Gewalt ist so weitverbreitet, dass im vergangenen Jahr in Russland die Komödie »Reiß es ab und wirf es weg« veröffentlicht wurde – über eine Wärterin in einem Frauengefängnis, die Insassinnen brutal verprügelt. Noch einmal: Es war kein schweres Sozialdrama, sondern eine Komödie.

Im Sommer 2020, als die Protestbewegung Black Lives Matter in den USA nach dem Mord an George Floyd aufkam, wiesen viele darauf hin, dass solche Morde durch Polizisten in Russland Standard sind. Aber sie lösen keine Empörung aus, weil sie sich nicht gegen Schwarze, Asiaten oder andere Minderheiten richten – sie richten sich gegen alle.

Angriff auf Pussy-Riot-Aktivistinnen in Sotchi, Russland

Angriff auf Pussy-Riot-Aktivistinnen in Sotchi, Russland

Foto: Morry Gash/ AP/dpa

Was ist geschehen, warum hat sich die Gesellschaft an die Vorstellung gewöhnt, dass Vertreter der Behörden ein Recht auf Gewalt haben? Und was geht in den Köpfen von Zehntausenden von Menschen vor, die zur Polizei oder anderen Sicherheitsbehörden gehen – warum werden sie zu Sadisten, die anfangen, zu foltern und zu schikanieren?

In den Dreißigerjahren war in der Sowjetunion grausame Folter allgegenwärtig – damals prügelten die Tschekisten, also die Geheimpolizei, jeden noch so unglaublichen Beweis aus den Angeklagten heraus. In den letzten Jahren der Sowjetunion war mehr von Folter in der Armee die Rede – ältere Soldaten misshandelten oft neue Rekruten. Auf diese Weise setzten sie die Tradition fort: Wir wurden geschlagen, als wir in die Armee eintraten, also werden auch wir schlagen.

Doch im heutigen Russland ist Gewalt nicht nur allgegenwärtig, sondern oft gänzlich sinnlos geworden: Warum schlagen Polizisten, Mitarbeiter von Haftanstalten und Gefängnissen ihre Opfer? Einfach, weil sie es können.

Das ist ein sehr interessantes psychologisches Phänomen. In seiner Untersuchung brachte Philip Zimbardo, der Autor des berühmten Stanford-Experiments, Freiwillige dazu, die die Aufpasser spielten, sich so gut in ihre Rolle hineinzuversetzen, dass sie begannen, diejenigen zu schlagen, die die Rolle der Gefangenen spielten.

Das russische Experiment bietet natürlich einen noch umfassenderen Rahmen für die Analyse: Die Stichprobe ist viel größer als die von Zimbardo. Das Fehlen eines funktionierenden Justizsystems (die Zahl der Freisprüche liegt unter einem Prozent) erzeugt in der Gesellschaft ein unglaublich hässliches Gefühl: die völlige Ohnmacht des Bürgers gegenüber dem Staatsapparat. Die Strafverfolgungsbehörden, die Sicherheitskräfte und die bewaffneten Personen identifizieren sich dagegen voll und ganz mit dem Staat und haben das Gefühl völliger Unantastbarkeit.

In meinem Buch »Die Metamorphosen des Wladimir Putin« habe ich beschrieben, wie sich Putins Einstellung zu seinen Wählern verändert. Bis 2012 glaubten die Kreml-Ideologen, dass sich das Regime auf die Mittelschicht, Kleinunternehmer und Menschen mit höherer Bildung stützen sollte, die in den Nullerjahren – während der Ära der hohen Ölpreise – einen besseren Lebensstandard erreicht hatten. Es war jedoch diese Mittelschicht, die sich gegen Putin auflehnte und 2012 bei Massenkundgebungen im ganzen Land auf die Straße ging.

Dann änderte sich die Strategie des Kreml – ein neues Team von Ideologen erklärte, die wahre Stütze des Regimes sei die Arbeiterklasse: die weniger gebildeten und weniger wohlhabenden Menschen.

Und dann begann die staatliche Propaganda, »traditionelle Werte«, Rassismus, Homophobie und Nostalgie für die Sowjetunion einzusetzen – Dinge, die ihrer Ansicht nach in das Weltbild des »einfachen Mannes«, des Durchschnittsrussen, passen könnten. Doch inzwischen hat sich auch diese Doktrin überholt.

Das Rückgrat von Putins Regime sind heute die Bürokratie und der Repressionsapparat, die Sicherheitsdienste und die Bewaffneten, die jeden Protest des Volkes unterdrücken können. Die Straflosigkeit, die sie genießen, ist das wichtigste Instrument der Regierung, um die Gesellschaft in Angst zu halten.

In dieser Situation ist es sehr schwierig, die Frage zu beantworten, warum die Russen den Krieg in der Ukraine offenbar unterstützen. Denn wir wissen ja nicht, was die Russen wirklich denken. Und wir wissen nicht, wie viel Prozent der Russen sich mit dem ungestraften Aggressor identifizieren, der aus ihrer Sicht ein Recht hat, zu foltern und zu töten – und welcher Teil der Bevölkerung einfach daran gewöhnt ist, sich als machtlose Opfer zu betrachten.

Die Umfragen, die in der Regel sowohl in Russlands staatlichen als auch in den ausländischen Medien zitiert werden, sagen nichts aus. Tatsache ist, dass fast alle traditionellen Meinungsumfragen auf die altmodische Art und Weise durchgeführt werden: indem in den Städten die Menschen am Festnetztelefon angerufen werden.

Dadurch wird die Stichprobe bewusst verkleinert: Denn die meisten jungen Menschen haben kein Festnetztelefon, sie benutzen nur Mobiltelefone. Menschen, die in ihrer Wohnung das Telefon klingeln hören, können sich sicher sein, dass der Anrufer ihre Adresse und Passdaten kennt – sie fühlen sich fast wie bei einem polizeilichen Verhör und wissen, dass auf jedes falsche Wort ein Schlag folgen kann.

Der moralische Verfall des russischen Staats und derjenigen, die sich als seine Repräsentanten verstehen, kann auch für Russland selbst schlimme Folgen haben. So Gott will, wird der Krieg in der Ukraine eines Tages enden – aber dann werden die Soldaten, Stützen des Regimes, die es gewohnt sind, ungestraft zu töten und zu plündern, nach Russland zurückkehren. Sie könnten das ganze Land in ein riesiges Butscha verwandeln.

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