Krieg in der Ukraine Selenskyj spricht von 50 bis 100 Toten am Tag, Baltikum stoppt Stromimporte – das geschah in der Nacht

Der ukrainische Präsident hat sich zu Opferzahlen an der Ostfront geäußert. Und: Österreich friert Vermögen von Oligarchen ein. Der Überblick.
Ein Friedhof in Charkiw

Ein Friedhof in Charkiw

Foto: Dimitar Dilkoff / AFP

Was in den vergangenen Stunden geschah

Der von Moskau eingesetzte Bürgermeister der südukrainischen Stadt Enerhodar ist bei einer Explosion verwundet worden. Er habe die Bestätigung, dass der prorussische Bürgermeister Andrej »Schewtschik und seine Leibwächter bei der Explosion verletzt wurden«, erklärte Dmytro Orlow, der gewählte ukrainische Bürgermeister von Enerhodar. Sie befänden sich »mit unterschiedlich schweren Verletzungen« im Krankenhaus. Sonst sei niemand verletzt worden.

Enerhodar liegt in der Nähe von Saporischschja und ist Standort des größten Atomkraftwerks Europas. Russische Truppen hatten dort Ende Februar die Kontrolle übernommen. Das auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Dnipro gelegene Saporischschja wird nach wie vor von der Ukraine gehalten.

Das sagt Kiew

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte bei einer Pressekonferenz mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda, jeden Tag würden an der Front im Osten des Landes 50 bis 100 Ukrainer sterben. Er bezog sich dabei offenbar auf Soldaten und nicht auf Zivilisten.

Wolodymyr Selenskyj

Wolodymyr Selenskyj

Foto: Efrem Lukatsky / dpa

Das sagt Moskau

Russland ist nach den Worten seines Chefunterhändlers Wladimir Medinsky zur Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der Ukraine bereit. »Wir für unseren Teil sind bereit, den Dialog fortzusetzen«, sagte Medinsky im Interview mit dem belarussischen Staatsfernsehen. Der Ball liege im Feld der Ukraine, auf deren Betreiben die Gespräche ausgesetzt worden seien. »Russland hat nie Verhandlungen abgelehnt«, so Medinsky.

Gespräche zwischen ukrainischen und russischen Unterhändlern hatten nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar zunächst regelmäßig stattgefunden – persönlich oder per Videokonferenz. Die Außenminister beider Länder hatten sich im März zu Gesprächen in der Türkei getroffen, die ergebnislos blieben. Es folgte ein Treffen von Delegationen in Istanbul, das ebenfalls keine Fortschritte brachte.

Humanitäre Lage

Bundesjustizminister Marco Buschmann und der CDU-Außenexperte und Europa-Abgeordnete Michael Gahler zeigen sich besorgt über die Kriegsgefangenen von Mariupol. »Die massiven Verstöße Russlands gegen das Völkerrecht sind völlig inakzeptabel – sie erfüllen uns aber auch mit großer Sorge mit Blick auf die Bevölkerung der Ukraine und die nun in Gefangenschaft geratenen Soldaten«, sagte Buschmann der »Rheinischen Post«. Aus Sicht von Gahler besteht die Befürchtung von Schauprozessen, obwohl Russland kein Recht habe, die Gefangenen von Mariupol anders zu behandeln als alle anderen ukrainischen Kriegsgefangenen.

Internationale Reaktionen

Der polnische Präsident Duda hat der Ukraine die volle Unterstützung bei ihrem Streben nach einer EU-Mitgliedschaft zugesichert. Bei einer Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in Kiew sagte Duda am Sonntag, diejenigen, die »ihr Blut vergossen haben«, um zu Europa zu gehören, müssten respektiert werden, »auch wenn die Situation kompliziert ist, auch wenn es Zweifel gibt«.

Zugleich schloss Duda im Umgang mit Moskau eine Rückkehr zur Tagesordnung aus. »Nach Butscha, Borodjanka, Mariupol kann es mit Russland kein business as usual mehr geben«, sagte Duda am Sonntag mit Verweis auf die russischen Truppen vorgeworfenen massenhaften Tötungen von Zivilisten und Kriegsverbrechen.

DER SPIEGEL

In den Kiewer Vororten Butscha und Borodjanka waren nach dem Abzug der russischen Armee Hunderte Leichen von Zivilisten entdeckt worden. Die südukrainische Hafenstadt Mariupol besteht nach dreimonatiger Belagerung und unaufhörlichem Bombardement nur noch aus Ruinen. Nach Angaben der ukrainischen Behörden wurden dort mindestens 20.000 Zivilisten getötet.

Duda war der erste ausländische Staatschef, der seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar eine Rede im ukrainischen Parlament hielt. Mehrere Male wurde sie durch stehende Ovationen unterbrochen.

Wirtschaftliche Konsequenzen

Die baltischen Staaten haben wegen des Ukrainekriegs die Stromimporte aus Russland beendet. »Dies ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg zur Energieunabhängigkeit«, sagte der litauische Energieminister Dainius Kreivys am Sonntag der Nachrichtenagentur AFP. »Indem wir uns weigern, russische Energieressourcen zu importieren, weigern wir uns, den Aggressor zu finanzieren«, erklärte der Minister weiter.

Am Freitag hatte die Energiebörse Nord Pool eine Mitteilung an den russischen Energieversorger InterRao geschickt, dass dieser aufgrund internationaler Sanktionen vom Handel in den baltischen Staaten ausgeschlossen sei. Lettland importierte seinen letzten russischen Strom Anfang Mai, während Litauen und Estland am Sonntag den Strombezug einstellten. Russischer Strom machte im vergangenen Jahr noch 17 Prozent der Stromimporte Litauens aus.

Seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben sich Hunderte von Fachkräften aus Russland für einen Umzug nach Deutschland entschieden. »Im April wurden in Moskau rund 350 Visa zum Zweck der Erwerbstätigkeit an russische Staatsangehörige erteilt«, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. In Sankt Petersburg stellte das deutsche Generalkonsulat den Angaben zufolge im gleichen Zeitraum 190 Arbeitsvisa aus. Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa war die Mehrheit der ausreisenden Fachkräfte bereits in Russland für ein deutsches Unternehmen tätig.

In Österreich sind im Zusammenhang mit EU-Sanktionen bislang 254 Millionen Euro von russischen Oligarchen eingefroren worden. Die Gelder waren auf 97 Konten geparkt, wie das Kanzleramt am Sonntag in Wien berichtete.

Die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst fand zudem fünf Einträge im Grundbuch, die laut dem Kanzleramt offenbar dazu dienten, Vermögen zu verschleiern. Die Untersuchung von Verdachtsfällen werde durch internationale Firmenkonstrukte, Treuhandgesellschaften und Strohmänner erheblich erschwert, hieß es.

Was heute passiert

  • Russlands Präsident Wladimir Putin trifft sich in Sotschi mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Dabei soll es um Fragen der weiteren Zusammenarbeit gehen, wie die Agentur Interfax in der Nacht zum Montag mitteilte. Zentrales Thema sei die Integrationszusammenarbeit der beiden Länder in einem Unionsstaat. Weiterhin könnten Industriekooperationen und eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raketenwissenschaft Teil des Gesprächs sein wie auch der Umschlag belarussischer Waren in russischen Häfen sowie der Bau eines belarussischen Hafens in der Nähe von St. Petersburg.

  • In Kiew wird das Urteil im ersten Prozess gegen einen russischen Soldaten wegen Kriegsverbrechen erwartet. Dem 21-jährigen Wadim Schischimarin droht wegen der Tötung eines unbewaffneten Zivilisten eine lebenslange Haftstrafe. Vor Gericht gestand er und bat um Vergebung. Sein Anwalt forderte einen Freispruch.

jok/Reuters/dpa
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