Rachefeldzug nach Freispruch in Missbrauchsskandal Schottlands Regierungspartei zerlegt sich

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon ist in einen brutalen Konflikt mit ihrem Vorgänger verwickelt – kurz vor der Parlamentswahl. Der Fall wird zur Gefahr für die Unabhängigkeitsbewegung.
Aus London berichtet Julia Smirnova
Da verstanden sie sich noch gut: Nicola Sturgeon und Alex Salmond

Da verstanden sie sich noch gut: Nicola Sturgeon und Alex Salmond

Foto: Andrew Milligan / dpa

Einst waren sie unzertrennliche Partner in der schottischen Politik: Alex Salmond und Nicola Sturgeon. Bei Wahlauftritten, im Parlament, in der Regierung kämpften sie Seite an Seite. Sie einte ein Traum: Die beiden wollten Schottland in die Unabhängigkeit führen.

Er war jahrelang der schottische Regierungschef, sie war seine Stellvertreterin. Nachdem Salmond nach der Niederlage beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 zurückgetreten war, übernahm Sturgeon als »First Minister« und neue Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei SNP.

Nun, nur rund zwei Monate vor der Parlamentswahl, liefern sie sich einen erbitterten Kampf, der auch über die nächsten Schritte der Unabhängigkeitsbewegung entscheiden wird.

Öffentliches Ringen um die Wahrheit

Vor einem Jahr saß Salmond auf der Anklagebank. Neun Frauen hatten ihm sexuelle Belästigung und versuchte Vergewaltigung vorgeworfen, im März 2020 wurde er jedoch vom Gericht freigesprochen. Am Freitag trat er im schottischen Parlament selbst als Ankläger auf. Er warf der politischen Führung  in Schottland »Versagen« vor, für die keine Person bis jetzt die Verantwortung übernommen habe.

Seine Anschuldigungen zielen auf Sturgeon und ihr Umfeld, und sie wiegen schwer. Salmond ist überzeugt, es habe einen »absichtlichen, andauernden, heimtückischen und abgestimmten Versuch seitens einer Reihe von Personen in der schottischen Regierung und der SNP« gegeben. Ziel sei es gewesen, seinen Ruf zu schaden und ihn sogar ins Gefängnis zu bringen. Er beschuldigt unter anderem Sturgeons Mann und den SNP-Geschäftsführer Peter Murell sowie ihre engste Vertraute Leslie Evans.

Sturgeon besteht darauf, dass diese Vorwürfe nicht begründet oder bewiesen seien. Salmond versuche, eine »Parallelrealität« zu schaffen, sagte sie am Mittwoch bei einem Pressebriefing. Nächste Woche soll sie selbst vor dem Parlament aussagen.

Erst Festnahme, dann Entschädigung

Der Skandal begann mit Beschwerden von zwei schottischen Beamtinnen, die Salmond im Januar 2018 sexuelle Belästigung vorgeworfen hatten. Die Regierung in Edinburgh begann danach eine interne Untersuchung, bei der einiges schiefgelaufen ist.

Unter anderem stellte sich raus, dass die Beamtin, die die Untersuchung leitete, davor Kontakt zu den Klägerinnen gehabt hatte. Das hätte nicht passieren dürften und stellte ihre Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit in Frage. Salmond zog vor Gericht und bekam 2019 von der schottischen Regierung eine Entschädigung von einer halben Million Pfund.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Affäre um ihn ausgeweitet. Die Polizei ermittelte gegen Salmond, im Januar 2019 wurde er vorübergehend festgenommen. Es kam zu einem Prozess, der im Freispruch endete. Danach machte Salmond deutlich, dass er sich rächen wird.

»Sturgeon muss ernsthafte Fragen beantworten«

Nun führt das schottische Parlament zwei separate Untersuchungen:

  • Eine betrifft das misslungene Vorgehen der schottischen Regierung.

  • Die zweite soll feststellen, ob Nicola Sturgeon selbst gegen die Regeln des sogenannten »Ministerial Code« verstoßen hat, indem sie das Parlament darüber in die Irre führte, wann genau sie über die Vorwürfe gegen Salmond erfuhr.

Im April 2018 war Salmond bei ihr Zuhause und erzählte über die Anschuldigungen. Bei diesem Treffen wurde kein Protokoll geführt. Später stellte sich raus, dass Sturgeon zu diesem Zeitpunkt schon über die Vorwürfe informiert gewesen sein soll. Wenige Tage davor hatte sie mit einem Ex-Mitarbeiter Salmonds darüber gesprochen. Sturgeon behauptet, dieses Treffen einfach vergessen zu haben.

Nicola Sturgeon will Schottland in die Unabhängigkeit führen

Nicola Sturgeon will Schottland in die Unabhängigkeit führen

Foto: RUSSELL CHEYNE/ REUTERS

»Sturgeon muss ernsthafte Fragen beantworten. Sie kennt sich immer sehr gut mit Details aus, deshalb klingt es unglaubwürdig, wenn sie sagt, sie habe etwas Wesentliches vergessen«, sagt Gerry Hassan, Autor mehrerer Bücher über schottische Politik. Er sieht durchaus die Möglichkeit, dass Sturgeon zurücktreten muss, falls die Untersuchung feststellt, sie habe gegen die Verhaltensregeln für Regierungsmitglieder verstoßen.

»Salmond hat keine Hemmungen mehr«

Doch auch Salmonds Vorgehen wirft Fragen auf. Er wirkt so, als würde er sich um jeden Preis rächen wollen. Für ihn gibt es jetzt keine Chance mehr, zurück in die Politik zu gehen, so schwer ist sein Ruf beschädigt. »Salmond hat keine Hemmungen mehr«, sagt Gerry Hassan. »Das macht ihn so gefährlich.«

Alex Salmond will offenbar Rache

Alex Salmond will offenbar Rache

Foto: Andy Buchanan / dpa

Bis jetzt gibt es keine plausible Erklärung, warum Sturgeon mit anderen Beamten und Beamtinnen ein Komplott gegen ihren ehemaligen Mentor geschmiedet haben soll. Doch in jedem Fall bringt der Skandal Fehler der schottischen Regierung und der Partei SNP ans Licht. Und er spielt der britischen Regierung in die Hände.

Der Brexit und die Coronavirus-Pandemie haben dazugeführt, dass sich nun mehr Schotten Unabhängigkeit von London wünschen – die Umfragen zeigen schon seit Monaten eine knappe Mehrheit für die Befürworter der Abspaltung. Der Wunsch nach einem eigenen Staat war bis jetzt oft damit begründet, dass in Edinburgh die Qualität von Institutionen viel besser als London sei.

Der Konflikt zwischen Salmond und Sturgeon wirft jetzt jedoch einen Schatten auf den Zustand der schottischen Demokratie. So dramatisch ist die Affäre, dass der Konservative Abgeordnete Liam Fox die Möglichkeit nutzte, um Schottland als »Westentaschendiktatur« zu bezeichnen.

Die Auswirkung des Skandals auf die schottische Parlamentswahl im Mai ist momentan noch nicht abzusehen. Die Umfragen zeigen weiterhin eine große Mehrheit für die SNP, doch die Popularität von Sturgeon hat bereits unter der Affäre gelitten.

Bis jetzt hoffte die schottische Regierungschefin auf eine so große Mehrheit, dass sie von der britischen Regierung ein zweites Unabhängigkeitsreferendum verlangen kann. Doch dieses Vorhaben könnte jetzt um Jahre zurückgeworfen werden. Das wäre ein Schlag für die Unabhängigkeitsbewegung und das Ende von Sturgeons Karriere.

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