Grundschulmassaker in Texas Als der Tod nach Uvalde kam

Uvalde ist das schlimmste US-Massaker seit fast zehn Jahren. Bei aller Trauer: Ändern dürfte sich nichts. Dafür sind die Waffenlobbyisten zu mächtig – und die Republikaner zu zynisch.
Von Marc Pitzke, New York
Trauer und Schock: Angehörige in Uvalde

Trauer und Schock: Angehörige in Uvalde

Foto: Marco Bello / REUTERS

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Die Szenen sind einem längst vertraut, wie ein Horrorfilm, den man schon viel zu oft gesehen hat. Trotzdem flimmern sie gerade erneut über die Bildschirme. Flüchtende Betroffene. Weinende Familien. Polizisten bei der grausigen Spurensicherung. Die TV-Helikopter dokumentieren alles gnadenlos.

Der jüngste Tatort: eine Grundschule in Uvalde, einem Ort im stillen Westen von Texas mit rund 25.000 Einwohnern, fast drei Viertel davon Latinos. Mindestens 19 Kinder und eine Lehrerin hat ein Mann dort am Dienstag erschossen. Die Bluttat schockiert, doch sie überrascht kaum. Im Land der politisch tolerierten Massaker sind selbst junge Schülerinnen und Schüler längst nicht mehr sicher.

Es ist das schlimmste Verbrechen dieser Art seit dem Grundschulmassaker von Sandy Hook im Dezember 2012, bei dem 20 Kinder und sechs Erwachsene starben. Und es ist schon jetzt, mit den vorläufigen Zahlen, tödlicher als 2018 die Highschool-Schießerei von Parkland in Florida, bei der 17 Menschen umkamen, 14 davon Teenager.

»Warum?« US-Präsident Joe Biden am Dienstagabend

»Warum?« US-Präsident Joe Biden am Dienstagabend

Foto: JIM LO SCALZO / POOL / EPA

»Schon wieder«, sagt Joe Biden, als er sich am späten Abend im Weißen Haus vor die TV-Kameras stellt, neben ihm First Lady Jill Biden, ganz in Schwarz. »Ich hatte gehofft, dass ich das nicht wieder tun müsste.« Der US-Präsident ist bewegt und empört zugleich, er seufzt und räuspert sich, ringt nach Worten, trotz des Teleprompters.

»Wann in Gottes Namen werden wir uns der Waffenlobby entgegensetzen?«, fragt er. Erst Stunden zuvor ist er von seiner Südostasienreise  zurückgekehrt – eine Reise, vor deren Beginn er die Hinterbliebenen eines anderen, rassistisch motivierten Schusswaffenattentats  in einem Supermarkt im Bundesstaat New York hatte trösten müssen.

»Genug ist genug«

Biden hat noch eine weitere persönliche Verbindung. Nach Sandy Hook war er als Vizepräsident von Barack Obama mit der Waffenproblematik betraut worden. Schon da blieb er erfolglos: Ein landesweites Verbot von Sturmgewehren scheiterte, auch dank des Widerstands texanischer Republikaner. Seitdem, sagt Biden nun, habe es an Schulen mehr als 900 Schusswaffenvorfälle gegeben. »Warum?«, fragt er. »Warum sind wir bereit, mit diesem Gemetzel zu leben?«

»Genug ist genug«, sagt auch Vizepräsidentin Kamala Harris in Washington. »Wir müssen als Nation die Courage haben zu handeln.«

Beklemmende Routine: Uniformierte Beamte in Uvalde

Beklemmende Routine: Uniformierte Beamte in Uvalde

Foto: MARCO BELLO / REUTERS

Dem unabhängigen Gun Violence Archive  zufolge ist dies bereits die 213. US-Massenschießerei in diesem Jahr – fast zehn pro Woche. 27 davon ereigneten sich an Schulen, nur sieben weniger als im gesamten vergangenen Jahr. Nach etwas anders berechneten Statistiken  des FBI hat sich die Zahl der US-Massenschießereien in den vier Jahren zwischen 2017 und 2021 verdoppelt. Allein von 2020 bis 2021 hätten sie um mehr als 50 Prozent zugenommen. Fast alle Täter waren Männer.

Doch schon verläuft das Ritual auch diesmal wieder mit beklemmender Business-as-usual-Routine. Man gibt sich entsetzt, zitiert Statistiken, eruiert die Lebensgeschichten der Opfer und des Täters. Doch wird sich etwas ändern? »Nichts wird unternommen werden«, sagt Charles Ramsey, der frühere Polizeichef von Philadelphia und Washington, abends auf CNN. »Absolut nichts.«

Zwei Gewehre zum 18. Geburtstag

Das zeigt sich nicht zuletzt am texanischen Gouverneur Greg Abbott, der die ersten Details des Amoklaufs bekannt gibt. Der erzkonservative Republikaner spricht monoton von einer »sinnlosen Tat«, einer »furchtbaren Tragödie, die im Staat Texas nicht geduldet werden kann«. Doch nicht mal ein Jahr zuvor hat Abbott ein neues Gesetz  unterzeichnet, das das Tragen von Schusswaffen in Texas erleichtert – ohne Waffenschein, ohne jegliches Training. Dieses Gesetz, warnte  die demokratische Kongressabgeordnete Veronica Escobar damals, »wird zu mehr Gewalt und Verlust führen«. Sie sollte recht behalten.

Die Gewalt kommt in Person eines Teenagers, den die Behörden als 18-Jährigen identifizieren, der auf eine nahe Highschool gegangen sei. Er habe eine schusssichere Weste getragen und zwei Waffen dabeigehabt, die er sich zum 18. Geburtstag gekauft habe. CNN meldete später zudem, er habe erst kürzlich ein Foto zweier halb automatischer Gewehre in sozialen Medien gepostet.

Verzweifelte Suche: Frau im Betreungszentrum in Uvalde

Verzweifelte Suche: Frau im Betreungszentrum in Uvalde

Foto: MARCO BELLO / REUTERS

Den amtlichen Angaben zufolge schoss er am Dienstag erst auf seine Großmutter in ihrem Haus und fuhr dann in Richtung der Robb Elementary School, einer Grundschule mit knapp 600 Schülern: Zweitklässler, Drittklässler, Viertklässler, zwischen sieben und zehn Jahren, die meisten Latinos. Nachdem er mit seinem Pick-up-Truck in einem Graben gelandet sei, sei er in die Schule eingedrungen. Dort erschoss er neben den Kindern auch die Lehrerin Eva Mireles, die in der »New York Times« von ihrer Tante identifiziert wurde: Sie habe im Tod noch versucht, die Schülerinnen und Schüler zu beschützen.

Bei einem Schusswechsel mit Polizisten sei der Angreifer schließlich selbst umgekommen. Seine Motive bleiben unklar.

Leere »thoughts and prayers«

»Seien Sie versichert«, sagt Polizeichef Pete Adorondo vor den versammelten Reportern, »der Eindringling ist verstorben.« Es ist kein Trost. Mehr als ein Dutzend Familien müssen nun ihre von einer zerfetzenden, großkalibrigen Waffe getöteten Kinder identifizieren, manche wussten in der Nacht noch nicht Bescheid. »Niemand sagt mir etwas«, sagte  der Vater einer Viertklässlerin dem örtlichen TV-Sender KSAT. »Ich versuche herauszufinden, wo mein Baby ist.«

Und doch belassen es viele Republikaner zunächst wie immer bei leeren »thoughts and prayers«, jener üblichen Trauer- und Andachtssymbolik. Er und seine Frau Heidi würden die betroffenen Kinder und ihre Familien »innig im Gebet aufrichten«, twittert der texanische Senator Ted Cruz, ein ebenso inniger Gegner von Waffenkontrollmaßnahmen.

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Demokraten dagegen zeigen sich hilflos. »Was machen wir hier eigentlich?«, ruft Senator Chris Murphy – in dessen Bundesstaat Connecticut sich das Sandy-Hook-Massaker ereignete – mit bebender Stimme im Senatsplenum in Washington. »So etwas passiert nur in diesem Land. Nirgendwo sonst, nur in den Vereinigten Staaten von Amerika! Und es ist eine bewusste Entscheidung. Es ist unsere Entscheidung, dass das so weitergeht.«

»Wie viele kleine Kinder müssen noch sterben, bevor wir endlich sagen, es reicht?«, fragt die Kommentatorin Ana Navarro-Cárdenas. »Es ist nicht länger eine Frage, ob du von einer Massenschießerei betroffen sein wirst«, sekundiert  der Autor Kevin Kruse. »Es ist nur eine Frage, wann und wie genau du von einer Massenschießerei betroffen sein wirst.«

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Waffengewalt gehört seit jeher zum amerikanischen Alltag. Doch die jüngste Eskalation und die lakonischen Reaktionen darauf wirken immer grotesker. US-Kindergärten veranstalten regelmäßige Lockdownübungen. Lehrer bewaffnen sich. Selbst die abgebrühtesten New Yorker U-Bahn-Passagiere schauen sich heutzutage ängstlich über die Schultern . »Ist Massensterben in Amerika akzeptabel geworden?«, fragte  die US-Nachrichtengenatur AP erst am Montag.

Eine rhetorische Frage. Zumal der US-Waffenhandel während der Coronapandemie floriert hat: Allein im März kauften die Amerikaner nach Recherchen  der »New York Times« rund zwei Millionen neue Schusswaffen – von illegalen Waffen ganz zu schweigen.

Am Donnerstag wäre an der Robb Elementary School das Schuljahr zu Ende gegangen, die Abschlussfeiern wurden nun gecancelt. Am selben Tag beginnt  zufälligerweise auch die Jahresversammlung und Waffenmesse der US-Waffenlobby NRA – im texanischen Houston. Unter den Hauptrednern: Senator Cruz und Gouverneur Abbott.

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