Proteste in Belgrad Corona wirkt in Serbien als Brandbeschleuniger

Bei den gewaltsamen Protesten in Belgrad geht es um viel mehr als Corona-Ausgangssperren. Es entlädt sich die Wut auf eine zunehmend autoritäre politische Klasse, die das Land immer weiter wegführt von der EU.
Eine Analyse von Jan Puhl
Proteste gegen die Regierung in Belgrad: Mit die heftigsten Ausschreitungen seit dem Sturz von Diktator und Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic

Proteste gegen die Regierung in Belgrad: Mit die heftigsten Ausschreitungen seit dem Sturz von Diktator und Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic

Foto: Oliver Bunic/ AFP

Nein, eine neue Ausgangssperre wegen der Corona-Pandemie werde es am Wochenende "sehr wahrscheinlich" doch nicht geben. Präsident Aleksandar Vucic hatte sich beeilt, am Mittwoch die Wut zu beschwichtigen, denn hinter ihm lag eine Nacht der Gewalt. Demonstranten hatten das Parlament in Belgrad gestürmt, Autoreifen angesteckt, Rauchkerzen gezündet. Die Polizei hatte unverhältnismäßig brutal zurückgeschlagen, es gab Dutzende Verletzte auf beiden Seiten.

Doch genützt hat Vucic sein Einlenken nicht. Schon am Mittwochabend waren die Menschen wieder auf den Straßen, es flogen Steine, Knaller und Tränengaskanister. Es sind wohl die heftigsten Ausschreitungen, seit die Serben vor 20 Jahren den Diktator und Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic stürzten.

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Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Und auch dessen Amtsnachfolger Vucic kann den Zorn der Massen - so scheint es - kaum beschwichtigen. Denn es geht nur vordergründig um das Coronavirus und wie die Regierung mit der Seuche umgeht. Neben der Seuche hat sich in Serbien ein tiefer Frust ausgebreitet über ein zunehmend autoritäres Regime der Vucic-Partei SNS, die das EU-Kandidatenland immer weiter nach Osten statt nach Westen führt und dazu noch korrupt ist. "Die Proteste gehen weiter. Der Schlüssel zum Verständnis ist, dass sie sich nicht gegen den Covid-Lockdown, sondern gegen den Machtmissbrauch der Regierung richten", schreibt Florian Bieber,  vom Zentrum für Südosteuropastudien in Graz.

Wie die meisten osteuropäischen Länder hatte Serbien im März schnell und konsequent auf den Corona-Ausbruch reagiert, die Grenzen zugemacht, Kontaktbeschränkungen und eine Maskenpflicht verhängt. Damit war das Balkanland relativ glimpflich davongekommen: 17.000 registrierte Fälle, etwa 300 Tote. Bis jetzt. Seit Kurzem zeigt die Infektionskurve steil nach oben.

Präsident Vucic: Schritt für Schritt in eine autoritäre Richtung

Präsident Vucic: Schritt für Schritt in eine autoritäre Richtung

Foto: MARKO DJURICA/ REUTERS

Am Dienstag allein waren 13 Menschen gestorben, ein trauriger Rekord, seit die Seuche das Land heimsucht. Und Vucic hatte für das kommende Wochenende in Belgrad und Nis neue Ausgangssperren verhängen wollen – es war eben jener Schritt, der den Unmut zum Explodieren brachte.

Zutiefst, so sagten es Oppositionspolitiker, misstrauen die Menschen der Regierung. Sie verschleiere die wahren Zustände im Land, Zeitungsberichte hatten nahegelegt, dass die Zahlen der Infizierten und der Todesopfer wesentlich höher sind als offiziell behauptet.

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Zudem werfen sie der Regierung vor, die Corona-Schutzmaßnahmen viel zu früh aufgehoben zu haben - nämlich schon im Juni: Klubs, Restaurants hatten wieder geöffnet, Fußballspiele stattgefunden. Die Regierungspartei SNS habe unbedingt Normalität erzeugen wollen, habe sich als Sieger über die Pandemie präsentieren wollen, um die Parlamentswahl durchzuziehen.

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Sie brachte ihr am 21. Juni einen triumphalen Sieg über die Opposition, die den Urnengang boykottiert hatte und zudem zutiefst zerstritten ist. Mit absoluter Mehrheit beherrscht die SNS nun die Narodna Skupstina. Das Ergebnis zementiert die Machtposition von Präsident Vucic.

Er hatte das politische System Serbiens schon zuvor Schritt für Schritt in eine autoritäre Richtung nach ungarischem Muster entwickelt:

  • Die SNS hatte alle wichtigen Positionen in Staat, Verwaltung, Justiz und staatlichen Unternehmen konsequent mit Getreuen besetzt.

  • Die Regierung hat sich - wie Viktor Orbán in Budapest - mit wichtigen Wirtschaftsbossen arrangiert. Es hält ihre Konzerne mit Staatsaufträgen gewogen.

  • Im Gegenzug berichten ihre Medien nur noch liebedienerisch über die Politik der SNS. Es gibt nur noch wenige unabhängige Onlineportale. In der Pressefreiheits-Rangliste von Reporter ohne Grenzen  belegt das EU-Kandidatenland Serbien derzeit einen miserablen 93. Platz von 180 Ländern weltweit.

Dabei hatte Vucic in Brüssel lange als geläutert gegolten. Einst war er Milosevics Propagandaminister gewesen, doch dann war aus dem Nationalisten ein Proeuropäer geworden, der sein Land in die EU hatte integrieren wollen. Allerdings hatte die es ihm auch nicht leicht gemacht. Fortschritte stellten sich nur langsam ein, die EU war von der Eurokrise, der Migrationsdebatte und dem Brexit absorbiert - ihre Erweiterungsmüdigkeit ist offensichtlich.

Also hatte sich Vucic anderen Gönnern zugewandt: China zum Beispiel. Überschwänglich hatte er sich bei der Regierung in Peking für die Hilfe im Kampf gegen das Coronavirus bedankt: "Großen Dank an meinen Bruder, Präsident Xi Jinping, die Kommunistische Partei Chinas und das chinesische Volk. Lang lebe unsere stählerne Freundschaft."

In ähnlich pathetischem Ton wandte Vucic sich am Donnerstag per Videobotschaft an seine Landsleute. "Liebe Bürger, ich verspreche euch, dass wir Frieden und Stabilität trotz der kriminellen Hooligan-Attacken, die uns alle schockiert haben, herstellen werden." Die Bürgerproteste denunziert er als Gewaltausbrüche von Rechtsradikalen und Verschwörungstheoretikern, für die "die Welt eine Scheibe sei". Seine Ansprache schloss er mit den Worten: "Serbien wird siegen".

Die Demonstranten haben keine zentrale Führung. Sie organisieren sich im Internet. In den sozialen Medien mehrten sich am Donnerstag Kommentare mit dem Tenor: Gestern war nicht das letzte Mal.

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