Sexuelle Gewalt im Krieg »Wenn Kommandeure das Vergewaltigen nicht stoppen, dann ist es eine Strategie«

Frauen werden vor den Augen ihrer Männer vergewaltigt, Kinder vor ihren Eltern: Clare Hutchinson, ehemalige Nato-Repräsentantin, erklärt, wie die Welt auf die sexuelle Gewalt gegen ukrainische Zivilisten reagieren sollte.
Ein Interview von Nicola Abé
Demonstranten, viele von ihnen aus der Ukraine, protestieren in Berlin nach dem Bekanntwerden der Gräueltaten russischer Soldaten in Butscha

Demonstranten, viele von ihnen aus der Ukraine, protestieren in Berlin nach dem Bekanntwerden der Gräueltaten russischer Soldaten in Butscha

Foto: Sean Gallup / Getty Images
Globale Gesellschaft

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Auf einer Landstraße, rund 20 Kilometer außerhalb der ukrainischen Hauptstadt Kiew, liegen neben Autoreifen unter einer braunen Decke die Leichen von mehreren Frauen und einem Mann. Sie sind nackt, ihre Körper teilweise verbrannt. Der Fotograf Mikhail Palinchak dokumentierte die Szene, nachdem die russischen Soldaten aus den Gebieten um Kiew abgezogen waren .

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Fast täglich werden derzeit neue, brutale Gewalttaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung aufgedeckt, häufen sich auch die Berichte über Vergewaltigungen. Die NGO Human Rights Watch  warnte bereits am 3. April, Russland setze sexuelle Gewalt im Krieg gegen die Ukraine als Waffe ein.

Einwohner von Butscha laufen am 6. April durch ihre von Russen zerstörte Stadt

Einwohner von Butscha laufen am 6. April durch ihre von Russen zerstörte Stadt

Foto: Roman Pilipey / epa

Die ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Lyudmyla Denisova berichtete der BBC  unter anderem von einem Keller in Butscha, in dem 25 Mädchen und Frauen im Alter zwischen 14 und 25 Jahren festgehalten und von Gruppen russischer Soldaten vergewaltigt worden seien. Neun von ihnen seien nun schwanger. Leichen von Kindern wurden nackt und mit den Händen hinter dem Rücken gefesselt aufgefunden; sie waren zuvor offenbar vergewaltigt worden, so ein Bericht des  »Time Magazine«.  Am Dienstag gaben ukrainische und Uno-Repräsentantinnen bekannt, dass sich unter den mutmaßlichen Opfern auch Jungen und erwachsene Männer befänden. Die bisher bekannten Fälle seien nur »die Spitze des Eisbergs«. 

Zur Person
Foto: NATO

Clare Hutchinson, geboren 1967 in Newcastle upon Tyne, ist Sicherheitsexpertin und Geschäftsführerin der von ihr gegründeten Firma TOLMEC. Sie berät unter anderem die kanadischen und schwedischen Streitkräfte. Hutchinson arbeitete bis vergangenen August für die Nato als Zuständige für Frauen, Frieden und Sicherheit. Zuvor war sie mehr als zehn Jahre lang für die Vereinten Nationen als Gender-Beraterin tätig und maßgeblich beteiligt an der Entwicklung der Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit der Uno-Abteilung für Friedenssicherung in New York, im Kosovo und im Libanon.

SPIEGEL: Frau Hutchinson, Sie arbeiten seit 20 Jahren zum Thema Vergewaltigungen in Kriegen, zuletzt für die Nato als Zuständige für Frauen, Frieden und Sicherheit. Hat Sie das Ausmaß der sexuellen Gewalt in der Ukraine überrascht?

Hutchinson: Es bricht mir das Herz, denn das alles ist nicht neu. Sexuelle Gewalt in Konflikten ist seit jeher ein Element des Krieges, und wir als internationale Gemeinschaft nehmen es noch immer nicht ernst genug. Außerdem dachten wir, in Europa hätten wir das überwunden – die Vergewaltigungscamps im Jugoslawienkrieg haben uns schockiert. Nun passiert es wieder hier bei uns, auf europäischem Boden, und wir sind schockiert. Aber Schock ist keine Antwort. Wir müssen handeln.

SPIEGEL: Warum vergewaltigen Soldaten im Krieg?

Hutchinson: Die Funktion von sexueller Gewalt im Krieg ist die Zerstörung nicht nur des Opfers, sondern auch der Familie, der Gesellschaft und der Nation. Sie zielt darauf ab, die Gemeinschaft über diese Körper kaputtzumachen. Wir wissen von Fällen in der Ukraine, in denen Frauen vor den Augen ihrer Familien vergewaltigt wurden. Die bleibenden Folgen für das Opfer und die Familie sind verheerend. Deshalb ist es ein so abscheuliches Verbrechen. Das Trauma einer Vergewaltigung ist nicht immer so offensichtlich wie eine körperliche Wunde. Aber wenn Frauen vergewaltigt wurden, kann es auch passieren, dass sie von ihren Gemeinschaften, sogar Familien, gemieden werden. Die Auswirkungen bleiben für immer.

SPIEGEL: Wir wissen, dass viele unerfahrene Wehrpflichtige auf der russischen Seite im Einsatz sind, dass sie auch plündern. Spielt da nicht schlicht die Gelegenheit eine Rolle?

Hutchinson: Vergewaltigungen im Krieg können aus Opportunismus heraus geschehen oder als Ritus, um die Gruppenzusammengehörigkeit der Soldaten zu stärken. In einigen afrikanischen Konflikten kam es auch vor, dass die Soldaten nicht bezahlt wurden, sondern stattdessen offenbar vergewaltigen durften. Sind die russischen Soldaten opportunistisch? Vergewaltigen und morden sie, weil für sie der Krieg nicht läuft wie geplant, aus Wut und Frust? Ja, bestimmt auch.

SPIEGEL: Aber?

Hutchinson: Aber wir sollten nicht in die Falle tappen und sagen: das passiert halt so, das sind Männer, das ist Krieg. Es wird in jedem Krieg vergewaltigt, ja. Aber nicht auf diese kontinuierliche Weise, wie das jetzt offenbar in der Ukraine geschieht. Es geht hier eben nicht um ein paar Soldaten, die übergriffig werden, weil sie keinen Sex hatten. Es geht um das abscheuliche Zerstören von etwas, von jemandem.

Ukrainische Geflüchtete in einem Bus, der sie Ende März nach Polen evakuierte

Ukrainische Geflüchtete in einem Bus, der sie Ende März nach Polen evakuierte

Foto: Angelos Tzortzinis / AFP

SPIEGEL: Wir wissen aus anderen Kriegen, etwa dem in Äthiopien, dass sexuelle Gewalt offenbar richtiggehend geplant wurde. Mutmaßlich wurden HIV-infizierte Soldaten aus Eritrea geschickt, um Frauen in Tigray zu infizieren. Im Vergleich dazu erscheint die sexuelle Gewalt in der Ukraine weniger systematisch.

Hutchinson: Sicherlich kann die mangelnde Disziplin und Professionalität der russischen Streitkräfte eine Rolle spielen. Vermutlich werden wir nie einen Befehl finden, der niedergeschrieben wurde. Aber wenn Kommandeure das Vergewaltigen nicht stoppen, dann ist es mit Sicherheit eine Strategie. Die russische Führung trägt die Verantwortung. Wenn die Kommandeure nicht signalisierten: dieses Verhalten wird nicht toleriert, dann machen sie klar, dass Vergewaltigen ein Element dieses Krieges ist, dass es im Rahmen der Taktik der verbrannten Erde akzeptiert ist.

SPIEGEL: Gerade erst hat der russische Präsident Wladimir Putin – der die Kriegsverbrechen seiner Soldaten zurückweist – ein Bataillon geehrt, welches im Kiewer Vorort Butscha mutmaßlich Gräueltaten verübt hat.

Hutchinson: Exakt das sind die Beweise, die auch für strafrechtliche Untersuchungen relevant sein werden. Wenn die Befehlskette die Taten belohnt, dann ist Gewalt gegen Zivilisten, ist sexuelle Gewalt eine Waffe, und zwar eine nachhaltige und langfristige. Und ich bin davon überzeugt, dass man zu dem Ergebnis kommen wird, dass sexuelle Gewalt in diesem Krieg Teil einer Strategie ist, die darauf abzielt, Angst und Terror in der Zivilbevölkerung zu verbreiten und die Gesellschaft zu zersetzen.

SPIEGEL: Vor dem Angriff im Februar verspottete Putin die Ukraine mit einer Vergewaltigungsanspielung , das Zitat stammt aus einem Punksong aus der Sowjetzeit: »Meine Schönheit, ob es dir gefällt oder nicht, es ist deine Pflicht.« Kürzlich sprach Außenminister Sergej Lawrow auf die Ukraine bezogen von einem Mutterleib, der »immer noch ein Reptil gebären kann «. Ermutigt diese sexualisierte und misogyne Sprache Soldaten zu Gewalttaten?

Hutchinson: Wenn über die Nation als eine Frau gesprochen wird, eine dreckige Frau, eine Frau außer Kontrolle, eine Frau, die ihre Beine für den Westen breit macht – diese Art der Rhetorik eben –, dann wird ein Narrativ aufgebaut, in welches sich Vergewaltigung als Kontrollmechanismus, als Ausüben von Macht einfügt.

Ein Spezialist dokumentiert mögliche Kriegsverbrechen in Butscha bei Kiew

Ein Spezialist dokumentiert mögliche Kriegsverbrechen in Butscha bei Kiew

Foto: Ron Haviv / VII / Redux/ laif

SPIEGEL: Vergewaltigung wurde zwar schon 1919 erstmals als Kriegsverbrechen gewertet. Der erste Prozess dazu wurde aber erst 1998 gegen einen ruandischen Politiker geführt. Die Vereinten Nationen verfolgten solche Verbrechen erstmals im Rahmen des Uno-Kriegsverbrechertribunals zum früheren Jugoslawien . Wie kann man sicherstellen, dass die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden?

Hutchinson: Die Vereinten Nationen haben bereits ihre Teams mit Spezialisten in die Ukraine geschickt, um Beweise zu sammeln. Sie führen Interviews mit den Überlebenden durch. Das Problem ist, dass es oft jahrelang dauert, bis die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, dass die Überlebenden lange auf Gerechtigkeit warten müssen. Wir als internationale Gemeinschaft müssen sicherstellen, dass sexuelle Gewalt nicht vergessen und unter den Teppich gekehrt wird. Diese Traumata werden über Generationen weitergegeben.

SPIEGEL: Sie persönlich haben Jahre damit verbracht, die Strategien für Frauen, Frieden und Sicherheit sowohl der Uno als auch der Nato zu entwickeln. Doch den Frauen in der Ukraine nützt das nun nichts.

Hutchinson: Es ist frustrierend für mich. Wir haben Resolution über Resolution verabschiedet, die unter anderem den Schutz von Frauen – und übrigens auch Männern – vor sexueller Gewalt in Konflikten und die Verpflichtung zum Schutz der Zivilbevölkerung festschreiben. Diese Resolutionen sind bindend. Aber wir sehen noch immer Vergewaltigungen im Krieg. Wir werden uns vielleicht überlegen müssen, wie wir die Uno reformieren und die gesamte Weltordnung neu gestalten sollten, um Menschen besser zu schützen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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