Spenden in der Pandemie Welche Hilfsorganisationen von der Krise profitieren – und welche massive Einbrüche erleiden

Ein Winter ohne Spenden: Weihnachtsmärkte, Tombolas und Galas fallen aus – die Haupteinnahmequelle für kleine NGOs. Andere wiederum verzeichnen sogar Zuwächse.
Die krebskranke Olga Gashchyts aus Lwiw (Ukraine) ist auf die kostenlosen Medikamente eines Hilfsprojekts aus Deutschland angewiesen

Die krebskranke Olga Gashchyts aus Lwiw (Ukraine) ist auf die kostenlosen Medikamente eines Hilfsprojekts aus Deutschland angewiesen

Foto: Till Mayer
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Als Olga Gashchyts von Nummer 130 spricht, ruhen ihre Hände still. Kurz verschwindet das leichte Zittern. »Nummer 130 war das schönste Schmuckstück, das ich jemals gemacht habe«, sagt sie. Ein schmaler Ring mit einem roten Stein, eingefasst von goldenen Blättern. 

Es ist lange her, dass die 75-Jährige beruflich Schmuck mit ihren Händen fertigte. Schon seit 35 Jahren kämpft sie gegen den Krebs in ihrem Körper. Aber die alte Frau erzählt gern von vergangenen Zeiten, von ein wenig Glück und deswegen von Nummer 130.

Ihre ganze Welt besteht heute aus einer kleinen Wohnung in einem grauen Wohnblock im westukrainischen Lwiw. An ihre geliebten Spaziergänge ist schon lange nicht mehr zu denken. Die Kraft fehlt. Und dann ist da noch das Infektionsrisiko durch die Pandemie.

Für die älteren Klientinnen und Klienten sind die Schwestern des Projekts wichtige Bezugspersonen (Archivbild)

Für die älteren Klientinnen und Klienten sind die Schwestern des Projekts wichtige Bezugspersonen (Archivbild)

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Till Mayer

Ohne Hilfe durch ein kleines Projekt des Roten Kreuzes hätte sie den Kampf gegen den Krebs vermutlich schon verloren. An der Tür klingelt Rotkreuz-Schwester Nadja Masiuk. Sie kommt regelmäßig, um nach dem Gesundheitszustand von Olga Gashchyts zu sehen. Und um ihr die kostenlosen onkologischen Medikamente und Schmerzmittel zu bringen.

»Meine Rente beträgt 2240 Hrywna (circa 66 Euro). Wenn ich Lebensmittel, Strom und Heizung bezahlt habe, ist das Geld weg. Ich könnte mir nicht einmal die schmerzlindernden Medikamente leisten. Sie nicht zu haben, wäre furchtbar. Der Krebs quält mich schon jetzt genug«, sagt die 75-Jährige.

Knapp 40 Prozent der ukrainischen Rentenbezieher haben weniger als umgerechnet 60 Euro Rente im Monat zum Leben. Davon müssen sie auch den Großteil ihrer Medikamente bezahlen.

Die Rotkreuz-Schwestern bereiten im Medico-sozialen Zentrum die Medikamente und Lebensmittel für die Verteilung vor. Auch ihre Gehälter bezahlt das Hilfsprojekt: den Mindestlohn von rund 125 Euro netto im Monat

Die Rotkreuz-Schwestern bereiten im Medico-sozialen Zentrum die Medikamente und Lebensmittel für die Verteilung vor. Auch ihre Gehälter bezahlt das Hilfsprojekt: den Mindestlohn von rund 125 Euro netto im Monat

Foto: Till Mayer

Die Verteilung der kostenlosen Medikamente ermöglicht ein Grassroot-Projekt des DRK-Landesverbands Badisches Rotes Kreuz. In den vergangenen zehn Jahren hat das privat organisierte Projekt insgesamt rund 400.000 Euro an Spendengeldern gesammelt. Damit finanziert es das Gehalt von fünf Besuchsschwestern, die Medikamente und Lebensmittelpakete sowie den Unterhalt für ein kleines Medico-soziales Zentrum (MSZ). Das MSZ ist eine Anlaufstelle für alte Menschen und zugleich die Schwesternstation, es gibt Kaffeerunden und Kuchen. 

 »Gerade zur Weihnachtszeit sammeln wir normalerweise zwischen 12.000 und 15.000 Euro an Spenden ein«, sagt Andreas Formella, stellvertretender Geschäftsführer des DRK-Landesverbands Badisches Rotes Kreuz. Doch infolge der Pandemie könnten im kommenden Sommer die Mittel für die Medikamente aufgebraucht sein. Denn dieses Jahr fielen und fallen die traditionellen Spendenaktionen komplett aus: die Vorträge bei den Rotariern, bei Vereinen und an Schulen oder die Kinoabende. Der Glühweinstand. »Das ist verheerend für unser Projekt in der Ukraine«, so Formella.

Kleine und sehr kleine Organisationen stellen die übergroße Mehrzahl der rund 630.000 gemeinnützigen Organisationen in Deutschland. Und während die großen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen bisher offenbar kaum oder keine Spendeneinbrüche durch die Pandemie zu verzeichnen haben, trifft es die kleinen besonders hart. Und das in einer Zeit, in der noch mehr Menschen als zuvor von Arbeitslosigkeit, Armut oder den Folgen der Pandemie betroffen sind.

Laut dem Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen (DZI) sind die Spendeneinnahmen der großen Spendenorganisationen in Deutschland im ersten Halbjahr 2020 sogar durchschnittlich um 11,6 Prozent gestiegen. Dies ergab eine außerordentliche Umfrage des DZI unter den 30 Organisationen. »21 dieser Organisationen verzeichnen einen Zuwachs der Spendeneinnahmen, bei neun ist das Spendenaufkommen gesunken«, sagt Burkhard Wilke, DZI-Geschäftsführer.

Deutlich schlechter sieht es bei kleineren Hilfswerken aus. Eine zweite Umfrage des DZI, an der sich 67 Prozent aller 231 Spenden-Siegel-Organisationen beteiligt haben, zeigt: »Bei 29 Prozent der kleineren Organisationen bis eine Million Euro Spendeneinnahmen sind die Geldspenden von Januar bis August 2020 gestiegen, bei 38 Prozent von ihnen jedoch gesunken«, sagt Wilke. Bei den restlichen 33 Prozent seien die Einnahmen im Wesentlichen gleich geblieben. 

Ein Grund: Kleine Organisationen seien viel stärker als die großen Hilfswerke auf den direkten Kontakt zu ihren Spendern angewiesen. »Viele kleine Organisationen haben deshalb schon im ersten Halbjahr mit deutlichen Einnahmerückgängen zu kämpfen gehabt, und sie werden auch weiter damit zu tun haben«, beobachtet Wilke.

»Die Hälfte der Einnahmen kommt immer erst im Dezember«

Martin Kasper, ehrenamtlicher Vorsitzender der Stiftung Childaid Network

Für Martin Kasper, ehrenamtlicher Vorsitzender der Stiftung Childaid Network in Königstein, ist wie für die meisten NGOs ohnehin die Weihnachtszeit ausschlaggebend. »Die Hälfte der Einnahmen kommt immer erst im Dezember«, so Kasper. 

Die von ihm gegründete Stiftung baut Bildungsprojekte in Indien, Nepal, Bangladesch und Myanmar auf. 2020 hatten sie eigentlich mit einem Spendenzuwachs von 30 Prozent geplant. Doch als fast alle Veranstaltungen abgesagt werden mussten – eine Fahrradrallye in Wiesbaden mit 600 Schülern, Charity-Flohmärkte, Weihnachtsbasare, eine Oldtimer-Tour – überlegte Kasper, was für Alternativen es geben könnte, um die Einnahmen aufrechtzuerhalten. »Dabei haben wir schnell gemerkt, wie kraftvoll die digitalen Kanäle sind«, sagt er.

Die NGO organisierte digitale Vorträge und streamte Ende November eine Gala aus einem Darmstädter Zirkuszelt. An diesem Abend wurden mehr als 350.000 Euro an Spenden erzielt. »Ein absoluter Rekord«, sagt Kasper. »Normalerweise kommen an so einem Abend mit Gästen vor Ort, wenn es gut läuft, knapp hunderttausend Euro zusammen.« 

Die Pandemie hat die Lebensverhältnisse vieler Menschen weltweit massiv verschärft

Inzwischen hofft der Vorsitzende, dass sie die Vorjahreseinnahmen von 2,3 Millionen Euro erreichen. »Doch ohne die zusätzliche Energie unseres Teams wäre dieses Jahr ein Desaster geworden.«

Es sind jedoch nicht nur die geringeren Spendeneinnahmen, die den Menschen vor Ort nun fehlen. Gerade in diesem Jahr sind weltweit weitaus mehr Menschen als zuvor auf finanzielle Unterstützung angewiesen: Viele haben finanzielle Einbußen oder ihren Arbeitsplatz verloren, können ihre Familie nicht mehr ernähren. 

»Unsere Ärzte berichten, dass sie noch nie so viele Unterernährte behandelt hätten wie dieses Jahr«, sagt Florian Rühmann, Teamleiter für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising bei German Doctors. Pro Jahr entsendet die NGO rund 200 Ärztinnen und Ärzte etwa nach Indien oder Sierra Leone. »Es ging nicht mehr um medizinische Versorgung. Wir haben Nothilfe geleistet, Nahrungsmittelpakete verteilt.« Genau das sei ja die Tragik, so Rühmann. »Die normale medizinische Versorgung reicht zurzeit gar nicht mehr aus.« 

Mitarbeit: Fiona Weber-Steinhaus

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

Hinweis der Redaktion: Till Mayer, der Autor dieses Textes, begleitet das Projekt in Lwiw seit vielen Jahren journalistisch und unterstützt es auch privat. Die Multimedia-Dokumentation »Winter in Lwiw «, die er zusammen mit Freunden gedreht hat, wurde mehrfach ausgezeichnet. 

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