Indigene Stadtplanung »Ein Himmel, der mit fliegenden Autos übersät ist, wäre ein Albtraum«

Wolkenkratzer und fliegende Autos seien Zukunftsvisionen von weißen, privilegierten, heterosexuellen Männern, sagen junge Designerinnen – und wollen mit indigenen Techniken moderne Städte lebenswerter und krisenfester machen.
Zukunftsforscherin Monika Bielskyte glaubt, dass indigenes Wissen Städteplanung revolutionieren könnte

Zukunftsforscherin Monika Bielskyte glaubt, dass indigenes Wissen Städteplanung revolutionieren könnte

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Linas Masiokas

Globale Gesellschaft

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Im Bundesstaat Meghalaya im Nordosten Indiens lassen die Khasi, ein indigenes Volk, Brücken wachsen, die lebendig sind: Sie lenken über der Erde wachsende Wurzeln des Gummibaums so, dass sie über die Jahrzehnte hinweg über Flüsse und Schluchten ranken, stabilisieren sie mit ausgehöhlten Stämmen und anderem Material, bis die Wurzeln auch auf der anderen Seite fest im Boden verwachsen.

Anders als klassische Brücken trotzen die flexiblen Übergänge auch Stürmen, Überschwemmungen und Erdbeben in einer der regenreichsten Regionen der Welt – manche Konstrukte währen jahrhundertelang.

Wurzelbrücken können auch starke Unwetter überstehen

Wurzelbrücken können auch starke Unwetter überstehen

Foto: Barcroft Media / Getty Images

Von indigenen Baumeistern, die mit der Natur arbeiten, statt sie zu unterwerfen, lassen sich heute auch westliche Architekten und Städteplaner inspirieren. Neue Studiengänge wie »Green Technologies in Landscape Architecture« an der Technischen Universität München treiben die Baubotanik voran. Die Forscher und Architekten versuchen Elemente wie Stahl und Beton mit Bäumen zu verbinden – und entwerfen etwa Stege, die von Weiden gestützt werden.

Der Corona-Zeitgeist fördert die Rückbesinnung auf Natur, Gemeinschaft und lokalen Lebensraum: Lockdowns haben den Bewegungsradius vieler Menschen auf ihre unmittelbare Umgebung beschränkt. Städte weltweit wollen wieder grüner werden, sie dämmen den Verkehr ein und bauen Fahrradrouten aus.

Zoonosen wie das Coronavirus, aber auch Folgen des Klimawandels wie Fluten und Brände offenbaren zudem, wie hoch der Preis für die Zerstörung der Umwelt ist. Auf viele moderne Herausforderungen könnten indigene Konzepte Antworten liefern – und die Städte der Zukunft nicht nur lebenswerter, sondern auch resilienter gestalten.

Julia Watson, die an den Universitäten Harvard und Columbia Urban Design lehrt, beschreibt in ihrem Buch »Lo-TEK. Design by Radical Indigenism«, wie indigene Innovation im Einklang mit der Natur aussehen kann – von schwimmenden Inseln aus Schilf in Peru oder im Irak bis hin zu natürlichen Recycling- oder Bewässerungssystemen in Indien oder Indonesien.

Die australische Designerin und Landschaftsarchitektin beobachtet derzeit »eine Art Renaissance indigenen Denkens«: Neue Initiativen würden entstehen, die dieses Wissen in Nachhaltigkeitsdebatten einbringen, und auch indigene Expertinnen und Experten selbst fänden zunehmend Gehör.

Die Designerin Julia Watson erforscht indigene Techniken weltweit

Die Designerin Julia Watson erforscht indigene Techniken weltweit

Foto: Aria Isadora

Lange galt das traditionelle Wissen als primitiv, wurde von offiziellen Stadt- und Landschaftsplanern ignoriert: »In der Zeit der Aufklärung und der industriellen Revolution ist eine westliche Vorstellung von Technologie und Fortschritt entstanden, die mit dem Kolonialismus Zivilisationen weltweit aufgezwungen wurde«, sagt Watson. »Hightech-Einheitslösungen widersprechen aber der Vielfalt und Komplexität von Ökosystemen.«

Indigene Techniken würden Watson zufolge auf ortsbasiertem Wissen beruhen – die Gemeinschaften »hören der Natur zu«. Detaillierte Kenntnisse über lokale Flora und Fauna, Erde, Feuer oder Klima fließen in diese Techniken ein, die über Tausende von Jahren hinweg verfeinert und weitergegeben werden, von Generation zu Generation.

Hohe Kunst: Die »Subak«-Bewässerungssysteme in Indonesien sind mittlerweile Weltkulturerbe

Hohe Kunst: Die »Subak«-Bewässerungssysteme in Indonesien sind mittlerweile Weltkulturerbe

Foto: Athanasios Gioumpasis / Getty Images

In asiatischen Ländern filtern Farmer in treppenförmigen Reisterrassen etwa seit Tausenden von Jahren Regenwasser – die Anlagen ermöglichen ein komplexes Wasser- und Nährstoffmanagement, zugleich entstehen so Biotope, in denen sich Vögel und andere Tiere ansiedeln.

Das Prinzip hat die thailändische Landschaftsarchitektin Kotchakorn Voraakhom in die Großstadt gebracht – und die Thammasat-Universität in Bangkok in eine gigantische Rooftop-Farm verwandelt. Das Dach der Universität ist heute Outdoor-Klassenzimmer, Park und Anbaufläche zugleich. Solarzellen speichern Sonnenenergie, die Terrassen absorbieren Regen und schützen das Gebäude vor Überschwemmungen. Mit ihrem Netzwerk Porous City Network will die Architektin weitere öffentliche Flächen in solche produktiven Orte verwandeln, die dem Klimawandel trotzen, die Luft verbessern und die Artenvielfalt erhöhen.

Die Thammasat-Universität in Bangkok ähnelt einem Berg mit Reisterrassen

Die Thammasat-Universität in Bangkok ähnelt einem Berg mit Reisterrassen

Foto: Landprocess

Auch die indigene Technik der Aquaponik, die symbiotische Zucht von Pflanzen und Fisch, hat sich weltweit verbreitet. Indonesische Farmer legen Wasserbassins an, in denen Reispflanzen durch die nährstoffreichen Ausscheidungen der Fische besser wachsen. Die Pflanzen bieten wiederum den Fischen Schutz und Schatten – und ziehen Insekten an, die als Fischfutter dienen. In Berlin produziert die ECF Farm auf ähnliche Weise Buntbarsch und Basilikum und verkauft die Erzeugnisse an Supermarktketten.

Und das Wissen der Aborigines könnte künftig dabei helfen, Brände einzudämmen – die australischen Ureinwohner bekämpfen Feuer mit Feuer. Mit rituellen, kleineren Feuern zu kühleren und feuchteren Jahreszeiten verbrennen sie kontrolliert trockenes Gras und Unterholz, um zu verhindern, dass das Material sich im heißen Sommer entzündet und Flächenbrände auslöst. Firesticks , eine indigene Nichtregierungsorganisation, versucht, das traditionelle Feuermanagement bekannter zu machen.

Aborigines verhindern Großbrände mit traditionellen Techniken – je nach Boden, Bepflanzung und Jahreszeit

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Foto: Rafael Ben-Ari/ Chameleons Eye / ddp images/Newscom

Städte und Regionen von Portugal bis in die USA könnten theoretisch von den Präventionsansätzen gegen Brände profitieren. »Es geht aber nicht darum, zwingend jede indigene Idee aus Australien, Afrika oder Lateinamerika nach New York oder in europäische Städte zu transferieren«, schränkt Watson ein. »Man muss immer analysieren, ob sich Ansätze innerhalb von ähnlichen Klimazonen oder Ökosystemen übertragen lassen.«

Doch indigenes Denken ist mehr als ein Tool, das sich nur in einem bestimmten Kontext verwenden lässt. Für die Zukunftsforscherin und Designerin Monika Bielskyte stellt indigenes Wissen das bisher gängige Gestaltungsprinzip des »Human-centered Design«, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, radikal auf den Kopf – hin zu einem »Life-centered Design«.

Nicht menschliche Organismen sind bei dieser Herangehensweise ebenso wichtig wie Menschen; Erde, Bakterien, Pilze oder Algen spielen als Infrastruktur eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von künftigen Städten. »Das indigene Denken kann uns helfen, unser Verhältnis zu unserer Lebenswelt und auch zueinander in den Städten der Zukunft neu zu gestalten«, sagt Bielskyte, die in Südafrika lebt. »Man wird aufhören, einzelne Gebäude und voneinander getrennte Räume zu entwerfen – und anfangen, in Ökosystemen zu denken.«

Neue Lebensentwürfe statt neue Wolkenkratzer: Indigenes Denken verändert die Herangehensweise an Architektur und Städtebau

Neue Lebensentwürfe statt neue Wolkenkratzer: Indigenes Denken verändert die Herangehensweise an Architektur und Städtebau

Foto: Liu Qinglin / VCG / Getty Images

Bielskyte erforscht derzeit, wie organische Materialien wie Pilze als Bauelemente eingesetzt werden können. Sie beobachtet auch, dass die Dringlichkeit von »Rewilding« deutlicher wird – Stadtplaner verwandeln zunehmend Teile von Betonwüsten zurück in natürliche Korridore, indem sie zum Beispiel einheimische Pflanzen aussähen, Städte also wieder verwildern lassen.

In ihrem neuen Kollektiv Protopia Futures  will Bielskyte Kreative, Wissenschaftler und Praktiker aus aller Welt zusammenbringen, um alternative, inklusive Zukunftsvisionen zu schaffen, die queere und indigene Perspektiven sowie Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen vereinen – als Gegenentwurf zur Mainstream-Science-Fiction.

Fliegendes »Baykar«-Auto: Nicht alle Zukunftsvisionen, die technisch möglich sind, sind wirklich sinnvoll

Fliegendes »Baykar«-Auto: Nicht alle Zukunftsvisionen, die technisch möglich sind, sind wirklich sinnvoll

Foto: Anadolu / Getty Images

»Die Zukunft beginnt mit Fantasie«, sagt sie. »Ich bin gespannt, was passieren würde, wenn jemand aus der jungen, indigenen Generation die alte Riege der Stararchitekten wie Zaha Hadid, Rem Koolhaas oder Frank Gehry ablösen würde und die Macht hätte, die Stadt neu zu gestalten.«

Die bisherigen Zukunftsvisionen seien hauptsächlich von weißen, privilegierten, heterosexuellen Männern geprägt worden. »Die Visionen von Wolkenkratzern oder fliegenden Autos haben uns in unserem Denken darüber, was futuristisch ist und was nicht, fehlgeleitet – wir müssen hinterfragen, was wir wirklich brauchen«, glaubt Bielskyte. »Ein Himmel, der mit fliegenden Autos übersät ist, wäre ein Albtraum.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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