Interview mit Stockholms Bürgermeisterin Wie sieht Stockholm in zehn Jahren aus, Frau Jerlmyr?

Politikerin Jerlmyr: »Es müssen nicht alle zur gleichen Zeit unterwegs sein«
Foto: Magnus HallgrenSPIEGEL: Was machen Sie in Stockholm anders als Ihre Kollegen in anderen Hauptstädten?
Jerlmyr: Wer hierher zieht, ist vom ersten Tag an Bürger dieser Stadt. Egal, ob die Menschen aus Syrien oder Uppsala kommen, welchen Status und Hintergrund sie haben, sie sind Stockholmer. Meine Botschaft ist: Wir sind alle gleichberechtigt und gleich bedeutsam. Schweden ist eines der am wenigsten religiösen Länder der Welt, deshalb stellt sich hier schon früh die Frage nach dem Lebenssinn, zu welchem größeren Ziel die Menschen beitragen wollen, was sie einmal hinterlassen. Wir sind ein Ort der Möglichkeiten, an dem sie diese Ziele erreichen können.
Anna König Margaretha Jerlmyr, 42, ist eine schwedische Lokalpolitikerin. 2018 wurde sie zur Bürgermeisterin von Stockholm gewählt. Als Vorstandsmitglied der C40, einem Verbund von 97 Städten weltweit, hat sich Jerlmyr dem Klimaschutz verschrieben. Eines der Hauptziele der C40 ist die Reduktion von Emissionen.
SPIEGEL: Sie werben damit, den Stockholmern seien Werte wichtiger als ein hohes Gehalt und Boni. Ist das nicht eine Luxusdebatte?
Jerlmyr: Natürlich ist es schwierig, wenn man keine berufliche Beschäftigung hat oder alleinerziehend ist. Aber die Bedeutung unseres Lebens hängt nicht allein an der Arbeit. Uns geht es nicht nur darum, Wirtschaftskapital anzuziehen, wir wollen junge Menschen gewinnen, die für wertegetriebene Organisationen arbeiten, auch als Ehrenamtliche. Unsere Werte wie Freiheit, Transparenz, Gleichheit und Glaubwürdigkeit sollen für sie attraktiv sein.
SPIEGEL: Was ist mit den weniger privilegierten Stockholmern?
Jerlmyr: Hier leben über 190 verschiedene Nationalitäten, Arme und Reiche, alte und junge Menschen. Es geht darum, sie mit ihren Bedürfnissen anzunehmen. Jeder soll sich repräsentiert fühlen und eingeladen, die Stadt, in der wir gemeinsam leben, zu gestalten. Die Statistik zeigt, wo sich Bürger aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Raums beteiligen, da gehen Raub, Drogenmissbrauch und Kriminalität zurück, und es wird wieder sicherer.
»Müll und Produktion können einen Kreislauf bilden«
SPIEGEL: Wie motivieren Sie die Bürger zu mehr Engagement?
Jerlmyr: Wir versuchen, Menschen aus möglichst vielen diversen Gruppen zu rekrutieren, die bereit sind, sich in der Politik zu engagieren. Das ist nicht einfach. Junge Leute arbeiten heute lieber in Non-Profit-Organisationen als in Parteien. Wenn sie aber einmal gewonnen sind, setzen wir ihre Ideen um. Ein Beispiel ist das Projekt Kinderstraßen, wo wir auch die Kinder einladen, aktiv zu sein. Dann steht plötzlich das Trampolin mitten auf der Straße oder ein Platz wird zur Skatingstrecke. Beton wird aufgebrochen, Dächer werden begrünt. Die Bedürfnisse von Kindern sind uns wichtig.

Park in Stockholm: »Ein Teil der Bürger könnte erst nachmittags ins Büro gehen«
Foto: Anders Wiklund/ APSPIEGEL: Stockholm will bald nicht klimaneutral, sondern klimapositiv werden. Wie geht das?
Jerlmyr: Wo viele Menschen dicht aufeinander leben, stellen sich natürlich die größten Herausforderungen. Wir haben aber Lösungen. Energiekonsum, die Produktion und Verwertung von Müll und die Reduktion von Emissionen können in einem Kreislauf positiv ineinandergreifen. Wir testen das seit fünf Jahren in einem Industriegebiet, dem Stockholmer Schlachthofviertel. Emissionen wurden um siebzig Prozent reduziert, die Schwertransporte sogar um neunzig Prozent.
»Wir werden noch fahren, aber kein Auto besitzen«
SPIEGEL: Wie entsteht die grüne Hauptstadt?
Jerlmyr: Grüne Werte sind das Zentrum dieser Transformation. Wir schaffen grüne Jobs und setzen neue Technologien zur Energieerzeugung ein. Es muss mehr Grünflächen geben – grüne Dächer, weniger Beton, die Städte sollten dahin gehend investieren, dass sie eben nicht alles zubauen. Wir werden weiter elektrisch Autofahren, aber im Carsharing. Wir müssen die Autos nicht besitzen. Die Benutzungsdichte von Städten sollte reduziert werden. Ein Teil der Bürger könnte erst nachmittags ins Büro gehen, andere morgens. Ältere Kinder lernen oft besser, wenn sie erst später in die Schule gehen. Nicht alle müssen immer zur gleichen Zeit unterwegs sein.
SPIEGEL: Welche Lehren ziehen Sie aus der Coronazeit?
Jerlmyr: So wie wir die Welle der Inzidenzen brechen konnten, lassen sich auch Stoßzeiten auf der Straße brechen. Der Umweltstress der Rushhour könnte halbiert werden.
SPIEGEL: Sie haben drei Kinder und behaupten, in Stockholm sei es kein Problem, eine erfolgreiche Politikerin und fantastische Mutter zu sein. Wie geht das?
Jerlmyr: Die ältere Generation von Frauen hat viel Zeit zu Hause verbracht, geputzt, gekocht, gewaschen. Aber verbrachten sie auch viel Zeit mit ihren Kindern? Mit unseren Steuergesetzen werden Haushaltshilfen bezahlbar, das Essen kann geliefert werden. Wir haben ausgezeichnete Vorschulen und Kindertagesstätten. Ich kann intensiv arbeiten und verbringe trotzdem viel Zeit mit meiner Familie.

Gegen die Verdichtung planen: Nachts sollen die Straßen den Bürgern gehören
Foto: MAXIM THORE/ imago images/BildbyranSPIEGEL: Wie sieht Stockholm in zehn Jahren aus?
Jerlmyr: Grüner, mit intelligenten, elektrischen Mobilitätsdienstleistern, die Straßen sollen nachts von Bürgern und Restaurants genutzt werden. Schon jetzt sind wir eine der besten vernetzten Städte. Früher suchte man sich die richtige Firma aus, in der man aufsteigen will. Jetzt sucht man sich die Stadt aus, in der man leben will, und arbeitet von dort digital und weltweit.