Überschwemmungen im Sudan "Wo immer die Menschen Platz finden, dort gehen sie hin"

Überflutungen nach einem Dammburch im Sudan (Anfang Oktober 2020)
Foto: ANDREEA CAMPEANU / REUTERSSPIEGEL: Bereits im September wurde im Sudan wegen starker Überschwemmungen der Notstand ausgerufen, wie ist die Situation zurzeit im Land?
Hameed Nuru: Glücklicherweise beginnen die Fluten, sich langsam zurückzuziehen und die Regenfälle lassen nach. Aber wir sprechen hier von den schlimmsten Überschwemmungen, die wir in den vergangenen hundert Jahren gesehen haben. Den schlimmsten, seit hier Messungen vorgenommen und aufgezeichnet werden. Etwa 875.000 Menschen sind allein im Sudan von den Überschwemmungen betroffen. Etwa 150 Menschen sind bisher ums Leben gekommen.

Hameed Nuru, 56, ist seit 2019 der Landesdirektor des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen im Sudan. Zuvor war er verantwortlich für die Arbeit der Organisation in Indien. Er stammt aus Botswana.
SPIEGEL: Welche Landesteile sind betroffen?
Nuru: Es gibt Überschwemmungen in weiten Teilen des Landes. Am stärksten betroffen sind Nord-Darfur, die Hauptstadt Khartum, der Blue Nile State, West-Darfur und Sannar. Die Lage ist noch immer sehr schlimm.
SPIEGEL: Wohin fliehen die Menschen?
Nuru: Viele kommen bei Familie oder Freunden unter, die nicht so stark betroffen sind. Aber rund 175.000 Häuser sind entweder zerstört oder teilweise beschädigt worden. Viele Menschen können nirgendwo hin. Vor etwa drei Wochen habe ich eine Grundschule besucht, die wegen Corona geschlossen war, wo etwa 28 Familien in den verschiedenen Klassenzimmern wohnten. Wo immer die Menschen Platz finden, dort gehen sie hin. Es ist eine extrem schwierige Zeit für die Menschen.
SPIEGEL: Was werden die Folgen der Fluten sein?
Nuru: Durch die starken Regenfälle und Dammbrüche wurden viele Felder überschwemmt, große Teile des Ackerlandes und der Ernten wurden beschädigt oder zerstört. Zahlreiche Menschen haben alles verloren. Das Vieh ist vielerorts gestorben. Häuser müssen wiederaufgebaut werden. Die Lebensgrundlage vieler Menschen ist zerstört, weil sie nicht mehr ihren täglichen Geschäften nachgehen können.
SPIEGEL: Nicht nur Hunger wird in den kommenden Monaten ein Problem sein.
Nuru: Krankheiten sind schon jetzt auf dem Vormarsch. Wir beobachten bereits eine Zunahme von Cholera-Fällen. Auch Denguefieber, Rifttalfieber und Malaria nehmen deutlich zu, weil es wegen des vielen Wassers nun viel mehr Moskitos gibt.
SPIEGEL: Was tut das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen?
Nuru: Gegenwärtig hat das WFP mehr als 112.000 Menschen mit Nahrungsmittel-Notrationen versorgt. Wir hoffen, bald insgesamt 247.000 betroffene Menschen zu erreichen. Zusätzlich zu unseren laufenden Operationen, durch die wir in diesem Jahr bisher mehr als sechs Millionen Menschen im Sudan versorgt haben. Es stehen uns genügend Nahrungsmittel zur Verfügung; diese in die Überschwemmungsgebiete zu bringen, ist allerdings manchmal schwierig.
Aber man kann den Menschen nicht ewig einfach nur Nahrung geben. Wir müssen auf die nächste Erntezeit, auf die nächste Regenzeit blicken. Pläne machen, die dazu beitragen können, die Überschwemmungen einzudämmen, bevor sie passieren. Pläne erarbeiten, wie die Menschen mit den Folgen besser umgehen können.
SPIEGEL: Schon vor den Überschwemmungen war die Ernährungsunsicherheit im Sudan ein großes Problem.
Nuru: Früher hatten wir Hotspots. Aber der zentrale und der östliche Teil des Landes waren immer ernährungssicher. Wir beobachten aber eine deutliche Zunahme der Unsicherheit, insbesondere aufgrund der stärker werdenden Überschwemmungen. So wurden in 2019 etwa 5,8 Millionen Menschen als nahrungsunsicher eingestuft - sie sind also von Hunger bedroht. Dieses Jahr haben wir es mit etwa 9,6 Millionen Menschen zu tun. Und das war vor den Überschwemmungen. Nun werden es weit mehr als 10 Millionen Menschen werden. Das ist die höchste jemals in diesem Land verzeichnete Zahl.
SPIEGEL: Gerade die Sahelzone ist besonders hart vom Klimawandel betroffen.
Nuru: Ja, der Klimawandel sorgt dafür, dass diese sporadischen Überschwemmungen immer häufiger und immer intensiver werden. Aber es kommen im Sudan auch wirtschaftliche Faktoren ins Spiel und verschärfen die Lage. Die Inflation ist deutlich angestiegen. Der Preis für Grundnahrungsmittel wie Sorghum liegt 680 Prozent über dem Fünfjahresdurchschnitt.
SPIEGEL: Der Sudan ist in diesem Jahr eines der am schlimmsten betroffenen Länder, aber ganz Ostafrika wird von Überschwemmungen heimgesucht. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Laut Uno waren im Jahr 2016 1,1 Millionen Menschen von Überschwemmungen betroffen, in diesem Jahr sind es fast 6 Millionen.
Nuru: Ja, es gibt auch in den Nachbarländern erhebliche Probleme mit Überschwemmungen. Im Südsudan und in Äthiopien, aber auch in Somalia und Kenia. Die Menschen brauchen Nahrung. Die Menschen brauchen Unterkünfte. Die Menschen brauchen Kleidung und Decken.