Tagebuch aus Nordsyrien "Ich will nicht, dass meine Kinder wieder frieren"

Die Familie Hajj Abdo lebt seit bald einem Jahr in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien. Nun steht die kalte Jahreszeit vor der Tür. Vater Omer fürchtet, die Kinder könnten sich an den Horror des vergangenen Winters erinnern.
Aufgezeichnet von Maria Stöhr
Eine syrische Flüchtlingsfamilie bei Azaz im vergangenen Februar. Die Vertriebenen müssen sich bald für den kommenden Winter rüsten

Eine syrische Flüchtlingsfamilie bei Azaz im vergangenen Februar. Die Vertriebenen müssen sich bald für den kommenden Winter rüsten

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KHALIL ASHAWI/ REUTERS

Globale Gesellschaft

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Die Schrecken der Vergangenheit irgendwie verarbeiten. Weitermachen. Das sind die Dinge, die Omer Abdulhamid Hajj Abdo gerade am meisten beschäftigen.

Deshalb will er unbedingt verhindern, dass sich seine Kinder an den vergangenen Winter erinnern. Es war der Winter, in dem die syrische Familie - Vater, Mutter, sechs Kinder - völlig überstürzt ihr Haus verlassen musste. In dem ihr Leben ein völlig anderes wurde. Der Winter, der sie zu Flüchtlingen machte. Denn durch ihr Dorf Teqad bei Aleppo zog sich damals die Front des Krieges, die Truppen des Machthabers Assad standen kurz davor, den Ort einzunehmen.

Omer und seine Familie flüchteten, wie Hunderttausende andere Syrerinnen und Syrer, Richtung Norden und türkische Grenze. Dort, in einem Flüchtlingslager bei Azaz, leben sie seitdem in einem Zelt.

Omer Abdulhamid Hajj Abdo mit seiner Frau (links) und vier seiner sechs Kinder im Sommer 2020

Omer Abdulhamid Hajj Abdo mit seiner Frau (links) und vier seiner sechs Kinder im Sommer 2020

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privat

Die Region um Idlib ist nach mehr als neun Jahren Bürgerkrieg die letzte große Rebellenhochburg. Seit Anfang 2019 wurden mindestens 1,4 Millionen Menschen durch die Kämpfe in dem Gebiet vertrieben. Russland unterstützt im syrischen Bürgerkrieg den Präsidenten Baschar al-Assad, die Türkei dagegen Rebellen.

Bei russischen Luftangriffen in der Region waren am Montag mindestens 78 Rebellen ums Leben kommen, als Reaktion darauf haben Rebellen im Nordwesten Syriens nach Angaben von Aktivisten bei Bombardements mindestens zwölf Regierungskämpfer getötet. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte schätzte am Dienstag, dass die mit der Türkei verbündeten Milizen rund 900 Raketen und Granaten auf Stellungen der Armee und ihrer Verbündeten abgefeuert hätten. In einem Telefonat zwischen Kremlchef Wladimir Putin und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sei es auch um die Lage in Syrien gegangen, heiß es hinterher. Details wurden nicht bekannt.

Die Familie Hajj Abdo sorgt sich derweil vor allem um die kommenden Wintermonate. Der SPIEGEL hält seit Februar Kontakt zu den Hajj Abdos, begleitet ihr Leben als Vertriebene im eigenen Land. Die Aufzeichnungen entstehen aus Telefonaten, Videos und WhatsApp-Nachrichten, die ein Vermittler vor Ort übersetzt.

Bald kommt ein neuer Winter. Omer hat Angst, dass die Kälte der Trigger sein könnte, der die Gedanken seiner Kinder zurücklenkt zu erlebtem Horror.

"Jedes Jahr sterben Menschen, weil die Öfen in den Zelten Feuer fangen."

Omer Abdulhamid Hajj Abdo, 43, Arabischlehrer aus Teqad

Freitag, 9. Oktober 2020:

"Draußen sind die Temperaturen noch mild, 25 bis 26 Grad hatte es in den vergangenen Tagen. Aber meine Gedanken sind schon im Winter. Es wird unser erster ganzer Winter im Flüchtlingslager sein.

Die Familien, die schon länger hier in der Gegend um Azaz sind, haben kleine Heizkörper in ihren Zelten. Sie werden entweder mit Holz oder Diesel betrieben. Die Holz-Heizkörper sind billiger. Aber sie verursachen so viel schwarzen Rauch, dass man manchmal zwischen den Zelten, auf den Wegen, kaum zwei Meter weit sieht. Das kann nicht gesund sein. Aber ich glaube, ich werde nicht umhinkommen, auch so einen zu kaufen.

Das Schlimmste an diesen Öfen ist, dass sie wahnsinnig gefährlich sind, wenn man sie in Zelten aufbaut. Jedes Jahr sterben Menschen, weil die Zelte Feuer fangen. Manche explodieren. Aber was soll ich machen? Frieren?"

Montag, 12. Oktober 2020:

"Es gibt viele Corona-Fälle in den anderen Camps; hier offiziell keine. Ich habe Angst vor dem Virus. Im Herbst sind die Kinder sowieso oft erkältet. Was, wenn das Virus dazukommt? In unserer Gegend gibt es quasi keine Intensivbetten und fast keine Beatmungsgeräte. Ich habe gehört, dass statistisch ein Krankenhausbett für 150.000 Syrerinnen und Syrer vorhanden ist.

"Jedes Kind muss seine eigene Seife mitbringen, nach jeder Stunde werden die Schülerinnen und Schüler zum Händewaschen geschickt."

Die Schule im Camp hat in der Pandemie wieder geöffnet

Aber die gute Nachricht: Trotz der Pandemie sind die Schulen wieder geöffnet. Meine Kleinste geht vier Tage in der Woche in die Camp-Schule, je drei Stunden am Tag. Dienstags bleibt sie zu Hause. Da wird die Schule grundgereinigt und desinfiziert. Früher haben sich drei Kinder einen Tisch im Klassenzimmer geteilt, nun sitzt an jedem Tisch nur noch ein Kind.

Jedes Kind muss seine eigene Seife mitbringen, nach jeder Stunde werden die Schülerinnen und Schüler zum Händewaschen geschickt. Und natürlich muss auch während des Unterrichts eine Maske getragen werden."

Dienstag, 13. Oktober 2020:

"Ich arbeite weiter bei einer Organisation hier im Camp, jeden Tag von 9 bis 14 Uhr. Dort gebe ich psychologische Hilfe für die Vertriebenen in der Umgebung. Wir gehen auch oft von Zelt zu Zelt und klären über das Coronavirus auf.

Und wir helfen Frauen und Kindern, die Gewalt oder Missbrauch erlebt haben. Es bringt schon viel, wenn Betroffene wissen, dass sie zu uns kommen können, dass wir zuhören, helfen.

Hier im Camp geschieht nicht mehr Gewalt als anderswo. Aber es kommt auch hier vor. Ich habe das Gefühl, diese Situation - die Enge, die Hoffnungslosigkeit, dass jeder Tag dem nächsten gleicht - trägt dazu bei, dass manche aggressiv werden. Das ist keine Entschuldigung, muss aber mitgedacht werden, wenn man nach den Ursachen für Gewalt fragt.

Es ist wichtig, dass überhaupt über das Thema gesprochen wird. Dann sind die Menschen sensibler: Opfer suchen sich eher Hilfe, Nachbarn sind aufmerksamer - und Täter fühlen sich nicht ganz so unbeobachtet."

Samstag, 17. Oktober 2020:

"Ich habe lange Unterwäsche aus Wolle für die Kinder gekauft. Die werden sie bald tragen müssen unter ihren Jeans und Shirts. Jetzt fehlen noch Decken und Matratzen, die meine Kinder vor der Kälte schützen. Mich beschäftigt der kommende Winter wirklich sehr. Wir alle wissen noch, wie kalt es in den ersten Wochen nach unserer Vertreibung aus unserem Dorf war, im Februar und im März. Wir konnten damals nur wenig aus unserem Haus mitnehmen, und der Winter war unerbittlich. Ich will nicht, dass meine Kinder wieder frieren. Ich will nicht, dass sie dadurch an diese schreckliche Zeit erinnert werden."

Mittwoch, 21. Oktober 2020:

"Ich habe ein paar Verbesserungen an unserem Zelt vorgenommen. Zum Beispiel eine Schicht Zement an der Stelle ausgebracht, auf der unser Zelt steht. Der Zement isoliert, hält den Schmutz vom Zeltboden weg und schützt vor Kälte und Feuchtigkeit."

Montag, 26. Oktober 2020:

"Meine Töchter Aisha und Fatima sind zu einem Englischkurs zugelassen worden, den eine NGO anbietet. Dort üben sie Grammatik und Vokabeln, beide bekommen sehr gutes Feedback. Die Lehrerin meinte, sie sollen so viel wie möglich üben und sich auf Englisch unterhalten, damit sie mehr Praxis bekommen. Ich wünsche mir, dass Mädchen aus anderen Familien hier auch mehr zu solchen Kursen geschickt werden. Wir müssen ihnen so gut es geht ein Fundament bauen, damit sie eine Zukunft haben."

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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