Taliban erobern Kunduz Röttgen warnt vor »Desaster« in Afghanistan

Norbert Röttgen (CDU): »Es darf jetzt nicht zugelassen werden, dass die Taliban militärisch einseitig Fakten schaffen«
Foto:Kay Nietfeld / dpa
Nach der Eroberung der afghanischen Stadt Kunduz durch die radikalislamischen Taliban hat Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, vor einem internationalen »Desaster« gewarnt. Zudem brachte er die Beteiligung der Bundeswehr an einem Militäreinsatz ins Spiel.
In Afghanistan bestehe die Gefahr, dass die Islamisten das ganze Land eroberten, einschließlich der Hauptstadt Kabul, sagte der CDU-Politiker am Sonntag der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung «: »Es darf jetzt nicht zugelassen werden, dass sie militärisch einseitig Fakten schaffen.« Dann bestünde auch keine Aussicht mehr auf eine politische Lösung.
CDU-Politiker Norbert Röttgen
Röttgen appellierte an die internationale Gemeinschaft, insbesondere US-Präsident Joe Biden, den Vormarsch der Taliban zu stoppen – aus Verantwortung für die eigene Sicherheit und die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung. Dies könne auch eine Beteiligung der Bundeswehr bedeuten.
Die Ergebnisse von 20 Jahren dürften nicht zunichtegemacht werden, sagte er. »Wenn es also militärische Fähigkeiten der Europäer, auch der Deutschen, gibt, die jetzt benötigt würden, dann sollten wir sie zur Verfügung stellen«. Gegenwärtig gehe es offenbar vor allem darum, den Vormarsch der Taliban durch Luftschläge zu stoppen. Damit hätten die Amerikaner ja bereits begonnen, so Röttgen.
Widerspruch kam am Sonntagabend vom CDU-Fraktionsvize Johann Wadephul. »Der Bundeswehreinsatz wurde auf Nato-Ebene beendet. Ich sehe weder politisch noch militärisch einen Ansatzpunkt für eine neue Einsatzentscheidung«, sagte er der dpa. Auch die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann äußerte sich ablehnend: »Mit Vorschlägen von N. Röttgen würden wir wieder in 2002 ankommen. So hatte es begonnen«, schrieb sie auf Twitter. »Neben versprochener Luftunterstützung der USA muss Bundesregierung auf UN-Sondersitzung dringen.«
Deutsche waren zehn Jahre lang in Kunduz stationiert
In Kunduz hatte die Bundeswehr rund ein Jahrzehnt lang einen Stützpunkt betrieben. Von 2003 bis 2013 überwachten deutsche Soldaten vom Feldlager aus die Sicherheit im Norden des Landes. Am Sonntag eroberten die Taliban die Provinzhauptstadt – es ist einer ihrer wichtigsten Erfolge, seit die internationalen Truppen mit ihrem Abzug begonnen haben.
Die Islamisten hätten die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen, bestätigten drei Provinzräte am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. »Die Leute von der Regierung sind geflohen. Die Taliban haben Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen. Wir haben weder Wasser noch Strom«, berichtete Anwohner Schekib Salarsai. »Die Straßen sind gesperrt. Keiner kann die Verletzten in die Krankenhäuser bringen.« Die Polizisten hätten ihre Waffen niedergelegt und liefen in ziviler Kleidung herum. Seine Nachbarn seien dabei, ihre Sachen zu packen.

Kunduz am Sonntag: Menschen inspizieren die Trümmer von Geschäften, die bei den Kämpfen zerstört wurden
Foto: Abdullah Sahil / dpaProvinzrat Amruddin Wali sagte der Nachrichtenagentur, Sicherheitskräfte und Regierungsvertreter hätten sich in das ehemalige deutsche Feldlager am Rande des Flughafens zurückgezogen. Die Regierung halte nur noch ein Gebiet rund um den Flughafen und diese Basis. Am Sonntagnachmittag Ortszeit dauerten die Gefechte rund um den Flughafen an.
Taliban erobern mehr und mehr Städte
Kunduz ist ein wichtiges Handelszentrum nahe der Grenze zum Nachbarland Tadschikistan. Die Taliban hatten die Stadt bereits 2015 und 2016 kurzzeitig eingenommen. Beide Male wurden die Islamisten durch US-Luftangriffe zurückgedrängt. Auch momentan fliegen die USA Luftschläge.
Die US-Truppen sind jedoch praktisch schon abgezogen. In weniger als drei Wochen endet die US-Militärmission offiziell. Bisher gab es noch kein Zugeständnis der USA, die afghanischen Sicherheitskräfte auch danach gegen die Taliban zu unterstützen. Am Sonntag war zunächst unklar, ob Regierungskräfte in einer großen Aktion versuchen würden, Kunduz zurückzuerobern.
Seit dem Beginn des Abzugs der US- und Nato-Truppen Anfang Mai haben die Taliban in mehreren Offensiven massive Gebietsgewinne verzeichnet. Sie eroberten zudem mehrere Grenzübergänge. Kunduz ist bereits die vierte Provinzhauptstadt, die von den Islamisten binnen drei Tagen erobert wurde.
Am Freitag war schon Sarandsch in Nimrus an der iranischen Grenze gefallen – praktisch kampflos. Am Samstag folgte Schiberghan in Dschausdschan im Norden. Fast zeitgleich mit Kunduz nahmen die Islamisten Sar-i Pul ein, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Norden.
Die USA hatten die »neue gewaltsame Offensive der Taliban gegen afghanische Städte« bereits am Samstag verurteilt. Das Auswärtige Amt sieht nun eine zunehmende Verschlechterung der Sicherheitslage. Die Situation entwickle sich rasant, sagte ein Ministeriumssprecher am Sonntag in Berlin.
Die Taliban versuchen nun offenbar, ihren Vormarsch fortzusetzen. Sie drangen lokalen Medienberichten zufolge ins Zentrum von Talokan vor, der Hauptstadt der Provinz Tachar, die an Kunduz grenzt.