Teenagerschwangerschaften in der Pandemie »Ich war immer von Männern umringt«

Bruna Horana aus Brasilien würde gern wieder zur Schule gehen – stattdessen muss sie in den Kreißsaal
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Bruna Horana muss den Reißverschluss ihrer engen Jeans offen tragen. Sie steht am Praça da Sé im Zentrum São Paulos vor der alten Kathedrale, unter ihrem T-Shirt wölbt sich ihr nackter, runder Bauch hervor. Die 16-Jährige ist im achten Monat schwanger.
Sie steht inmitten der Obdachlosen, die hier am Boden auf Wolldecken dösen, und der Müllsammler, die mit ihren Holzrikschas Pappkartons zusammentragen, inmitten der Tauben und Straßenhunde. »Am Anfang hat mir der Ort Angst gemacht«, sagt sie.

In der Pandemie muss Bruna, 16, Geld und Essen für ihre Familie auftreiben
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGELEs ist dieser Platz, der Praça da Sé, der das Leben der jungen Brasilianerin für immer veränderte. Im vergangenen Jahr schloss Brunas Schule aufgrund der Pandemie. Am Online-Unterricht hat sie nie teilgenommen – es gab zu viel zu tun. Ihre Mutter und ihre Tanten verloren ihre Jobs als Putzkräfte, der Familie fehlte es an allem.
Mit ihrer Tante fuhr Bruna aus ihrem Armenviertel in der Metropolregion von São Paulo zwei bis drei Stunden mit Zug, U-Bahn oder Bussen zum Praça da Sé. Mal waren es Hilfsorganisationen, die dort Lebensmittelspenden verteilten, mal Privatleute, die Bruna einen Schein zusteckten. Damit unterstützte sie ihre Familie.
Schließlich übernachtete sie dort, um das Pendeln zu vermeiden. Doch da waren die Blicke und die Hände. »Ich war immer von Männern umringt«, sagt Bruna. Sie lernte einen kennen, der ihr gefiel und der die anderen fernhielt. Der 24-Jährige habe ihr Essen gebracht, sie gefragt, wie es ihr gehe. Sie verliebte sich. Verhütet habe sie nicht immer. Es werde schon gut gehen, dachte sie.

Weltweit steigt das Risiko für ungewollte Schwangerschaften in der Pandemie
Foto: SOPA Images / LightRocket / Getty ImagesJedes Jahr werden weltweit mehr als zwölf Millionen Teenagerinnen Mutter, viele verlassen deshalb die Schule, finden keinen Start ins Berufsleben und hängen in einem Armutskreislauf fest.
Die Folgen der Pandemie machen junge Frauen in vielen Regionen derzeit noch verletzlicher als zuvor. Viele Kinder und Jugendliche gehen aus wirtschaftlicher Not Beziehungen ein, im Extremfall müssen sie Sex gegen Essen oder Obdach tauschen. Andere werden im Lockdown Opfer sexueller Gewalt. Viele wissen auch nicht, wie sie verhüten sollen – oder haben keinen Zugang zu Verhütungsmitteln, finanziell oder logistisch.
Offizielle Daten gibt es noch nicht, doch die Kinderschutzorganisation Save the Children schätzt, dass es allein aufgrund der Einkommensverluste in der Krise 2020 zu rund einer Million zusätzlicher Teenagerschwangerschaften gekommen sein könnte. Die Zahl der Kinderhochzeiten könnte bis 2025 um 2,5 Millionen steigen – Hilfsorganisationen beobachten, dass Eltern ihre jungen Töchter vermehrt aus Geldnot verheiraten.
Durch die Schulschließungen wurde Mädchen zudem ein wichtiger Schutzraum entzogen. Für 168 Millionen Kinder weltweit fällt seit einem Jahr aufgrund des Lockdowns der Unterricht aus, die Zukunft einer ganzen Generation steht auf dem Spiel – und jedes zehnte Kind auf der Welt muss arbeiten gehen statt in die Schule.
Welche Folgen Lockdowns haben können, weiß Sierra Leone noch aus der Ebola-Epidemie: Als die Seuche ausbrach, blieben die Schulen in dem westafrikanischen Land neun Monate lang geschlossen, auch die wirtschaftlichen Folgen waren massiv . UNFPA zufolge wurden damals mehr als 14.000 Teenager schwanger. Damit sich der Effekt nicht wiederholt, haben Save the Children und der dänische Spieleentwickler Lulu Lab im März 2020 eine interaktive Aufklärungs-App gelauncht.
Im »Dilemma Game« können die Nutzer Orte wie eine Schule, einen Markt oder eine Moschee in Sierra Leones Hauptstadt Freetown erkunden. Sie müssen Aufgaben, Probleme und Quizfragen lösen und lernen in Geschichten und Videos mehr über sexuelle Rechte, Pubertät, Schwangerschaft, Geschlechtskrankheiten, Verhütungsmittel, aber auch Corona-Schutzmaßnahmen.

Jugendliche müssen sich in der App entscheiden, was das richtige Verhalten ist – und lernen fürs Leben
Foto: youtube / Save the Children Sierra Leone»Wir hoffen, dass Jugendliche mit mehr Wissen bessere Entscheidungen treffen können«, sagt Ramatu Jalloh von Save the Children in Sierra Leone. »Es zirkulieren viele Falschinformationen – manche glauben, dass Mädchen nicht schwanger werden, wenn der Junge ein bestimmtes Antibiotikum nimmt.«
Sex ist ein Tabuthema im Land, nur rund 20 Prozent der 15- bis 19-jährigen Frauen nutzen moderne Verhütungsmittel . Früher habe es ein gewisses Maß an sexueller Aufklärung für Kinder gegeben, die aber im Laufe der Jahre aus dem Lehrplan gestrichen worden sei, erzählt Jalloh. »Es gibt den Irrglauben, dass Kinder Sex haben wollen, wenn man offen mit ihnen über sexuelle Themen spricht. Und wenn ein Mädchen schwanger ist, wird es dafür verantwortlich gemacht – anstatt zu hinterfragen, wo die Gesellschaft versagt hat.«
Vor der App-Entwicklung haben Studenten Jugendliche befragt, um herauszufinden, welche Themen junge Menschen bewegen, welches Design sie besonders anspricht. Mehr als 4000 Teenager in Armensiedlungen in Freetown nutzen die App bereits – das Spiel kann auch von mehreren Freunden gleichzeitig gespielt werden. Künftig könnte es auch an Schulen zur Aufklärung beitragen.
Auch in Sierra Leone werden vor allem in ländlichen Gebieten schwangere Mädchen von ihren Familien häufig mit dem Vater des Kindes verheiratet. Das bedeutet meist das Aus für Bildung , Karriere, Freizeit. »Die betroffenen Mädchen fühlen sich oft hoffnungslos, weil sie in das neue Heim aufgenommen werden und nur noch Ehefrau sind«, so Jalloh. »Ihre Rolle besteht darin, Kinder zu bekommen und sich um das Haus zu kümmern.«

Fast jedes zweite Mädchen in Mosambik muss minderjährig heiraten
Foto: Christopher Torchia / APIn Mosambik versucht Linha Fala Criança, die Kindersprechnummer, solche Kinderhochzeiten zu verhindern. Kinder, Jugendliche oder deren Angehörige können sich in einer Notlage an die Hotline wenden. Allein in der Provinz Manica, in der die Hotline seit Oktober 2020 aktiv ist, wurden zwischen Oktober und Dezember insgesamt 106 Kinderhochzeiten gemeldet. 26 Mädchen konnten nach den Notrufen von dem Linha-Fala-Criança-Team, den Behörden oder der Polizei aus ihrer Situation befreit werden.
Mosambik hat eine der höchsten Kinderhochzeitsraten der Welt – fast jedes zweite Mädchen wird vor seinem 18. Geburtstag verheiratet. Seit 2019 stellt ein Gesetz die Praxis zwar unter Strafe, doch vor allem auf dem Land ist den meisten Familien bis heute nicht bewusst, dass sie etwas Illegales tun.
Chance Briggs, Landesdirektor von Save the Children in Mosambik, geht davon aus, dass durch die wirtschaftlichen Corona-Folgen und die Schulschließungen in Mosambik die Zahl der Kinderhochzeiten steigt. Teils würden Mädchen dazu gezwungen, teils würden sie eine Hochzeit manchmal selbst als Ausweg aus der Armut sehen. »Mädchen, die zur Schule gehen, werden in der Regel seltener verheiratet«, sagt Briggs. »Aber die Schulen, die ihnen einen anderen Weg eröffnen könnten, sind jetzt geschlossen.«
Auch Bruna Horana aus São Paulo sehnt sich nach dem Klassenzimmer – sie vermisst ihr altes Leben. Eigentlich, sagt sie, würde sie gern studieren. Was sie mal werden wolle, wisse sie allerdings nicht. Das Baby hat ihre Pläne ohnehin erst mal durchkreuzt. Auch drei Freundinnen von ihr ergeht es so, die ebenfalls während der Pandemie schwanger geworden sind.
Eine Abtreibung war für Bruna schon allein deshalb keine Option, weil sie in Brasilien nur nach einer Vergewaltigung möglich ist – und selbst dann mit großen Schwierigkeiten verbunden. So wurde etwa eine Zehnjährige, die von einem Onkel schwanger war, Opfer einer Hasskampagne.

Bruna Horana: Der Vater des Kindes sitzt mittlerweile im Gefängnis – für mehrere Jahre
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGELAls Bruna im dritten Monat erfuhr, dass sie schwanger ist, fing sie an zu zittern – jetzt freut sie sich auf das Baby. Sie hat schon einen Namen: Ohana Pietra soll die Kleine heißen. Die junge Mutter blieb trotz Schwangerschaft erst am Praça da Sé, sie teilte sich ein Zelt mit einem Trans-Freund und sammelte Babyklamotten und Windeln. Erst vor ein paar Wochen zog Bruna wieder zu ihrer Mutter.
Von dem Vater ihres Kindes ist sie mittlerweile getrennt. Ihr Ex-Freund, erzählt Bruna, habe schon eine neue Freundin. Ihre Stimme zittert. Doch er habe ihr versprochen, dass er sich um die Kleine kümmern wolle. Nur sitze er gerade im Gefängnis, wegen Raubes, wohl sieben Jahre. Sie lächelt. Mit Tränen in den Augen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.