Transgender in Südamerika Bügeln, Kochen, Putzen, Kinder, Bravsein – nicht mit Tam

Seit einem Jahr sind Tam (2. v. l.) und Widad ein Paar. Als sich die beiden auf dem Markt in Bolivien küssen, waren einige Leute neugierig, andere wurden wütend und beschimpften sie
Foto: Irina Werning
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Im Jahr 2018, mit 19 Jahren, verließ Tamara Soldan ihre Heimatstadt Cochabamba in Bolivien und zog nach Buenos Aires, um mit einem Stipendium für eine Tanzschule professionelle Tänzerin zu werden. Im März 2022 kam Tam zurück in die Heimat – mit einem neuen Namen, einem neuen Look und dem Bekenntnis non-binär zu sein, sich also weder ausschließlich als Frau noch als Mann zu fühlen.
»Transsexuelle nicht-binäre Menschen gibt es in Bolivien, Südamerika und auf der ganzen Welt«, sagt Tam. »Es gibt nicht nur eine Art, nicht-binär zu sein, wir sind alle einzigartig.«
Bereits als Kind hatte Tam die Unterwäsche des Vaters vor dem Spiegel anprobiert, und kaufte sich später eigene Männerunterwäsche. Medizinische Eingriffe wie Hormone oder geschlechtsangleichende Operationen hat Tam nicht in Anspruch genommen, sondern wünscht sich vor allem, mit den Pronomen they/them angesprochen zu werden.

In der Heimat: Tam neben einem typischen bunten Bus in der bolivianischen Stadt Cochabamba
Foto: Irina WerningDas Leben in Buenos Aires machte die Transition für Tam einfacher. »Das Leben fern von zu Hause gab mir den Raum, die Veränderungen anzunehmen, wie sie kamen, herauszufinden, wie ich mich präsentieren wollte, und mir keine Gedanken darüber zu machen, wem aus der Highschool ich im Supermarkt begegnet bin, als ich gerade etwas Neues ausprobiert habe.«
Die argentinische Hauptstadt ist kosmopolitisch und kulturell offen; viele lateinamerikanische Transmenschen leben dort. Seit Jahren liegt Argentinien vorne in Bezug auf eine progressive Gesetzgebung zum Schutz und zur Erweiterung der LGBTQ-Rechte. Als erstes Land der Welt erlaubte es Menschen, ihr Geschlecht ohne Erlaubnis eines Arztes oder Richters in juristischen Dokumenten ändern zu lassen. Vor einem Jahr ging das Land noch einen Schritt weiter : Im Juni 2021 verabschiedete Argentinien ein neues Gesetz, das eine Quote für Transgender-Personen im öffentlichen Dienst vorsieht.
Entsprechend offen ist auch die argentinische Gesellschaft: Während laut einer Ipsos-Umfrage unter mehr als 19.000 Menschen aus 27 Ländern im weltweiten Durchschnitt 51 Prozent der Befragten befürworten, dass LGBTQ-Personen offen mit ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität umgehen, war die Unterstützung in Spanien (73 Prozent), Argentinien (69 Prozent) und Chile (68 Prozent) am höchsten.
Im Durchschnitt bezeichnet sich weltweit ein Prozent der Erwachsenen als transgender, non-binär/gender-fluid oder als weder männlich noch weiblich. Der Anteil variiert stark zwischen den Generationen und Ländern: Von vier Prozent der Generation Z (geboren 1997 oder später) und zwei Prozent der Millennials (geboren 1981-1996) bis ein Prozent in der Generation X (geboren 1965-1980) und weniger als ein Prozent unter den Babyboomern (geboren 1946-1964). Länderbezogen sind die Raten in Deutschland und Argentinien mit durchschnittlich drei und zwei Prozent global mit am höchsten.
Fotografin Irina Werning
»Ich denke, dass die jüngeren Generationen offener dafür sind, den Moment zu leben und sich nicht mit einem Etikett zu versehen. Fließend zu sein, ist das neue Ding«, sagt die Fotografin Irina Werning.
Sie hat Tam bei einem Videoclip-Dreh kennengelernt, in dem Tam tanzte. »Wir saßen alle in einem Kreis und stellten uns vor«, erzählt Werning. »Tam sagte: ›Ich bin eine nicht-binäre Transperson und habe während des Lockdowns die Transition gemacht. Nächsten Monat werde ich zum ersten Mal in meine Heimatstadt zurückkehren. Ich komme aus Bolivien und das ist eine sehr traditionelle Gesellschaft, also fühle ich mich ein wenig wie ein Dissident, aber ich bin auch neugierig.‹« Starke Ideologien haben Frauen und LGBTQ-Menschen in Bolivien seit Jahrhunderten zum Schweigen gebracht. Und noch immer bestimmen Geschlechterstereotypen die Entscheidungen der allermeisten Frauen im Land.
Die Fotografin war fasziniert und fragte, ob sie Tam begleiten dürfe, um den Besuch in der Heimat zu dokumentieren. Werning wollte wissen: Was passiert, wenn Transmenschen auf die Straße gehen und mit den Menschen in Kontakt treten, besonders in einer patriarchal geprägten Gesellschaft wie Bolivien?
Sehen Sie hier, wie Tam die Rückkehr nach Cochabamba erlebte*:

»Ich glaube, ich habe meinen Weg gefunden«
Irina Werning
*Die Fotos wurden in Zusammenarbeit mit dem Pulitzer Center produziert.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.