Transgender in Bangladesch Drei Minuten Ansage an alle

Tashnuva Shishir, 29, trat Anfang März als erste Transgender-Nachrichtensprecherin in Bangladesch vor die Kameras
Foto:Fabeha Monir / The New York Times / Redux / laif

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Dafür, dass es die schwierigste Frage von allen ist, gibt es auf der Welt wenig Anerkennung für Menschen, die eine Antwort darauf gefunden haben: Wer bin ich?
Bevor Tashnuva Shishir herausfand, wer sie ist, und bevor sie zu Bangladeschs erster Transgender-Nachrichtensprecherin wurde, bestand ihr Leben, wie sie sagt, ausschließlich aus unermesslichem Schmerz. Aus dem Kampf, irgendwo dazuzugehören. Nun ist ihre Geschichte eine, die Vielen Hoffnung macht.

»Ich zitterte, ich weinte, als die Kamera ausging. Ich spürte: Etwas ist passiert in diesen drei Minuten«, sagt Shishir über ihren ersten Auftritt on air
Foto:Fabeha Monir / The New York Times / Redux / laif
Shishir, 29 Jahre, aus einer konservativ-muslimischen Familie aus dem Süden von Bangladesch, wurde in der Schule geschubst, geschlagen, als schwach und krank beschimpft, von einem Onkel vergewaltigt. Der Vater hörte auf, mit ihr zu sprechen. Irgendwann tippte Shishir in die Suchmaske bei Google:
»Bin ich allein auf dieser Welt?«
»Gibt es noch mehr Menschen wie mich?«
Sie fand heraus, dass es noch mehr Menschen wie sie gibt, und lernte ein Wort dafür, transgeschlechtlich. »Ich war gefangen in einem männlichen Körper mit einem männlichen Namen«, sagt sie. »Aber ich bin trans, und ich bin eine Frau.«
Wurde als Banner während Shishirs erster TV-Sendung eingeblendet: »Transgender wird Nachrichtensprecherin, schreibt Geschichte«
Als die Familie Shishir endgültig verstieß, sei sie dann mit 15 allein in die bangladeschische Hauptstadt Dhaka gekommen, in einen Slum, ohne Essen und ohne Wohnung, erzählt sie. Ärzte, an die sie sich wandte, stellten die Diagnose »psychisch krank« und verschrieben Tabletten, die sie erst krank machten. Shishir dachte darüber nach, wie es wäre, dieses Leben zu beenden. »Ich war total allein«, so sagt sie. »Ich versuchte die ganze Zeit zu beweisen, dass ich existieren darf.«
Sie arbeitet als Tänzerin und am Theater und finanziert sich so endlich eine Hormonbehandlung. Sie fängt an, sich als Transfrau vorzustellen. Dann hört sie von einem Regisseur, ein TV-Sender suche eine Moderatorin für ein neues Format. Zuerst zögert sie. Dann schickt sie die Bewerbung.
Es folgten die drei Minuten Anfang März, die alles verändern.
8.3.2021, Dhaka: Das Fernsehstudio des Privatsenders Boishakhi ist hell ausgeleuchtet, an der Decke hängen Heliumballons in Lila. Dann tritt Tashnuva Shishir ins Bild, sie hält einen Moderationszettel in der Hand, setzt sich an das große Pult in der Mitte. Während sie live die Nachrichten des Tages ansagt, läuft unten ein Banner durchs Bild. »Shishir takes to airwaves for first time«, steht da, »Shishir zum ersten Mal on air«, und: »Transgender becomes Anchor, creates history«.
Shishir wird die erste Trans-Nachrichtensprecherin ihres Landes. Medien in der ganzen Welt berichten plötzlich von ihr und ihrem Leben, die »New York Times« , die Deutsche Welle , »Al Jazeera« . Ihr Auftritt wird als »erdbebenhaft« für die Trans-Community in Bangladesch eingeschätzt. Als großer Durchbruch in dem konservativ-muslimischen Land, in dem 160 Millionen Menschen leben, davon nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen bis zu 500.000 Transpersonen – meist am Rand der Gesellschaft.
Denn zwar erkennt Bangladesch, ähnlich wie Pakistan, Nepal und Indien, seit dem Jahr 2013 ein drittes Geschlecht an – als »Hijras« werden dort Trans- oder intersexuelle Menschen bezeichnet, denen das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, die sich aber als weiblich identifizieren. Doch Transpersonen sind weiter oft extremer Armut ausgesetzt, werden verstoßen, als sündhaft oder krank diskriminiert, haben schlechteren Zugang zu Bildung, betteln oder prostituieren sich, um zu überleben. Sie werden überdurchschnittlich oft angegriffen, vergewaltigt, ermordet.
Intergeschlechtlich: Eine mögliche Selbstbezeichnung von Menschen, die mit Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale geboren werden. Das heißt, sie entsprechen nicht eindeutig den medizinischen Normen, die für das weibliche und männliche Geschlecht festgelegt wurden.
Häufig wird auch der Begriff »intersexuell« verwendet. Er wird jedoch von vielen Betroffenen abgelehnt, da die körperlichen Geschlechtsmerkmale nicht unbedingt etwas mit der Sexualität zu tun haben.
Intergeschlechtliche Menschen wurden in der Vergangenheit häufig auch »Zwitter« oder »Hermaphrodit« genannt. Heute werden diese Bezeichnungen jedoch als abwertend empfunden.
Transgeschlechtlich: Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht oder nur teilweise dem Geschlecht entspricht, das bei Geburt in ihre Geburtsurkunde eingetragen wurde. Bei einigen Betroffenen ist der damit verbundene Leidensdruck so groß, dass sie ihre körperlichen Geschlechtsmerkmale mit Hormontherapien und/oder Operationen angleichen.
Inter*: Ein emanzipatorischer Oberbegriff für die Vielfalt intergeschlechtlicher Körperlichkeiten und Realitäten, der unter anderem Selbstbezeichnungen wie intergeschlechtlich, intersex, zwischengeschlechtlich, Hermaphrodit, Zwitter, intergender oder intersexuell umfasst.
Trans*: Ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht unbedingt derjenigen entspricht, die ihnen nach der Geburt zugeteilt wurde. Es gibt auch trans* Personen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren.
Einige der Begriffe sind umstritten. Deshalb ist es immer wichtig, darauf zu achten, wie eine Person über sich selbst spricht.
Quellen: Trans-Inter-Beratungsstelle , Genderdings
Als Shishir sich ein paar Wochen später bei einem WhatsApp-Telefonat an ihren ersten Auftritt erinnert, sagt sie: »Ich zitterte, ich weinte, als die Kamera ausging. Ich spürte: Etwas ist passiert in diesen drei Minuten.«

Der Privatsender, der Shishir einstellte, sagt, man hoffe, dass »die Gesellschaft ihr Verhalten überdenkt«, was Transpersonen angeht. Transgender werden in dem konservativ-muslimischen Land oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt und diskriminiert
Foto: Fabeha Monir / The New York Times / Redux / laifShishir sagt: »Es muss sich noch viel ändern in Bangladesch. Transgender-Rechte müssen ins Gesetz geschrieben werden. Wir müssen auch eine Familie gründen dürfen. Wir müssen mehr tun, damit unsere Community nicht mehr auf der Straße landet oder von den Schulen fliegt.«
Dann sagt sie: »Aber durch meinen Auftritt haben Transpersonen in meiner Heimat zum ersten Mal eine Bühne. Ein Gesicht. Wir brauchen eine Plattform, damit wir gesehen werden.«
Reflexartig werden Menschen, die erreicht haben, was Shishir gelungen ist, oft gefragt: Wie hast du das geschafft? Woher die Kraft und das Selbstbewusstsein? Shishir sagt dann, dass sie immer geglaubt habe, dass etwas im Leben auf sie warten würde. In den schlimmsten Momenten habe sie gelesen, über Stephen Hawking oder andere Menschen, die oft im Leben kämpfen mussten, aber ihre Hoffnung nicht verloren haben. Die Wahrheit ist vielleicht sogar, dass Shishir nicht weiß, woher ihre Kraft gekommen ist. Am Ende hat sie es einfach: getan.
Trans-Schauspieler*innen in der Netflix-Doku »Disclosure«
Der Nachrichtensender, der Shishir einstellte, sagt über seine Entscheidung, man hoffe, dass, was Transpersonen angehe, »die Gesellschaft ihr Verhalten überdenkt«.
Die Frage ist, wie viele Bühnen Transpersonen noch zum ersten Mal besteigen müssen, bis Gesellschaften überall auf der Welt anfangen, ihr ausgrenzendes Verhalten zu überdenken.
Mitte März 2021, New York City: Elliot Page erscheint als erster Transmann auf dem Titel des »Time Magazine «. Man liest von einem Durchbruch für die Trans-Community, und Page sagt: »Ich habe es satt, mich zu verstecken.«
Actor Elliot Page, @TIME cover. pic.twitter.com/Brwr9hviuV
— Heisel Mora ⚯͛ (@MCHeisel) March 16, 2021
März 2018, Lahore, Pakistan: Marvia Malik, damals 21 Jahre, wird Pakistans erste Transgender-Nachrichtensprecherin. Sie sagt: »Wir müssen den Eltern sagen, dass sie sich nicht für ihre Kinder schämen müssen, die nicht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen.«
März 2021, Chhattisgarh, Indien: Der indische Staat rekrutiert erstmals Transgender-Polizist*innen.
Februar 2021, Deutschland: 185 schwule, lesbische, queere, nichtbinäre, transgender Schauspieler*innen veröffentlichen im »SZ-Magazin« ein Manifest , das mit den Worten beginnt: »Wir sind hier und wir sind viele!«
Juni 2020, Hollywood: Netflix veröffentlicht die Doku »Disclosure« (Offenlegung), in der Trans-Schauspieler*innen ihre Rollen in US-Filmen kritisieren, die oft darin bestanden, Serienkiller, gefährliche, lächerliche oder abstoßende Karikaturen darzustellen. Die Interviewten sagen aber, dass die Bühne wichtig bleibt: »Wir sind überall. Je mehr wir gesehen werden, desto mehr sind wir am Leben.«
Vielleicht wird es die Gleichberechtigung von Menschen aller Identitäten erst geben, wenn wir uns nicht mehr an den Einzelfall erinnern, wenn aus der Ausnahme das Normale geworden ist, nämlich dass eine Transperson in Bangladesch oder Pakistan oder Deutschland auf dem Cover einer Zeitung erscheint oder in den 20-Uhr-Nachrichten eine Ansage an alle macht.
Bis es so weit ist, können in Bangladesch jetzt Transpersonen eine Fernsehsendung sehen, sie können Tashnuva Shishir zuhören und dann sagen: Das bin ich.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.