Griechenland sperrt EU-Hotspot Moria "Es gibt kein Boot, geht zurück!"

Proteste von Flüchtlingen auf Lesbos: Elende Bedingungen.
Foto: ARIS MESSINIS/ AFPMit der linken Hand hält Imam ein Kind, auf dem rechten Arm hebt sie ein Baby in die Luft. Es ist heiß an diesem Tag auf Lesbos, mehr als 20 Grad. Imam ist müde, aber sie lächelt. "Ich gehe zum Hafen", sagt die Syrerin. "Und von da auf ein Boot nach Athen. Endlich!"
Hinter und vor ihr reihen sich Tausende anderer Migranten und Flüchtlinge in den Konvoi ein, der vom Elendslager Moria nach Mytilini, in die Hauptstadt von Lesbos, führt. Sie alle haben eine Hoffnung: Ein Boot soll kommen, um sie zu holen. Das Gerücht hat sich zuvor wie ein Lauffeuer verbreitet.
Wer das Land irregulär betritt, soll abgeschoben werden
Statt auf ein Boot nach Athen trifft Imam aber auf Bereitschaftseinheiten der Polizei. "Es gibt kein Boot, geht zurück!", schreien sie. "Freiheit", antwortet Imam. Wenig später jagt die Polizei die Leute durch die Straßen.
Seinen Ursprung hat das Gerücht in einer neuen Linie der griechischen Regierung. Nach SPIEGEL-Informationen werden keine Asylbewerber mehr im völlig überfüllten Lager Moria auf Lesbos registriert. Stattdessen sollen neu ankommende Flüchtlinge am Hafen eingesperrt werden. Die Regierung will Boote schicken, um sie aufs Festland zu bringen. Dort sollen sie in geschlossenen Lagern untergebracht werden, um sie dann abzuschieben - ohne Asylverfahren.
Seit Sonntag akzeptiert Griechenland keine Asylanträge mehr. Wer das Land irregulär betritt, soll abgeschoben werden.
Rund 600 Migranten und Flüchtlinge erreichten die Insel, seit der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sie ermuntert hatte, nach Europa zu gehen. Seine Grenzschützer schauen seitdem weg oder helfen den Migranten, Richtung Griechenland zu kommen.

Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos ist seit Jahren überfüllt
Foto: Angelos Tzortzinis/ picture alliance/dpaInnerhalb eines Monats will die Regierung aber auch das Camp in Moria entlasten. 3000 bis 4000 Migranten und Flüchtlinge, die vor März ankamen, sollen nach Möglichkeit noch diesen Monat auf dem Festland unterkommen.
Die neue griechische Linie ist ein weiterer Nagel im Sarg des Flüchtlingspaktes zwischen der EU und Türkei. Zwar hat die Regierung immer mal wieder Flüchtlinge aufs Festland gebracht. 3000 bis 4000 ist allerdings eine außergewöhnlich hohe Zahl. Der Deal sah vor, dass die Asylbewerber auf den Inseln bleiben und unter Umständen in die Türkei zurückgeschickt werden. Passiert ist das kaum.
Durch die separate Unterbringung von Neuankömmlingen will die Regierung aber offenbar einen Sogeffekt vermeiden. Sie sollen möglichst in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden.
Rechtsextremisten auf Lesbos greifen Journalisten und NGO-Mitarbeiter an
Die Bewohner von Lesbos jedoch haben sich durchgesetzt. Die meisten von ihnen wollen seit Monaten oder Jahren, dass die Flüchtlinge von der Insel aufs Festland gebracht werden. Einige aus Mitleid für die Menschen, andere aus Hass.
Seit Montag greifen Rechtsextremisten Journalisten und NGO-Mitarbeiter auf Lesbos an. Sie lassen Geflüchtete nicht anlanden, schüchtern sie ein. Zuvor hatten sie Polizisten vertrieben, die den Bau eines neuen Flüchtlingslagers garantieren sollten.
Die Regierung ist eingeknickt - und muss nun Unterkünfte auf dem Festland bereitstellen. Wenn sie tatsächlich alle nun ankommenden Flüchtlinge einsperren will, bis sie abgeschoben werden, sind unhaltbare Zustände in Flüchtlingsgefängnissen nur eine Frage der Zeit. Hässliche Szenen gäbe es dann nicht nur auf den Inseln, sondern zunehmend auch auf dem Festland.

Der türkische Präsident Erdoğan setzt die Europäer in der Migrationspolitik unter Druck
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFPErdoğan macht unterdessen keine Anstalten, im Nervenkrieg mit den Europäern nachzugeben. Auch am Dienstag fuhren in Istanbul wieder Busse ab, die Flüchtlinge an die griechische Grenze brachten. Von einer "Reise der Hoffnung" sprechen die Veranstalter.
Der türkische Präsident will durch sein Grenzmanöver die Europäer dazu zwingen, seinen Krieg in der syrischen Provinz Idlib zu unterstützen. Ein Regierungsvertreter sagte am Dienstag, die Türkei erwarte von der Nato unter anderem die Bereitstellung eines Raketenabwehrsystems. "Flüchtlinge werden wieder einmal zu Verhandlungsmasse in einem gefühllosen, politischen Spiel", kritisiert Amnesty International.
Bislang ist offen, ob Erdoğan damit durchkommt. "Wir halten die Reihen geschlossen", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterdessen bei einem Besuch an der türkisch-griechischen Landgrenze. Wenig später wiederholte der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis die Worte. Die Migranten nannte er eine asymmetrische Bedrohung. Griechenland sei der "Schild der EU", sagte von der Leyen. Zeitweise klangen die beiden wie Generäle an der Front.
Griechische Grenzer schießen mit Tränengas
Griechische Grenzer halten seit Freitag Tausende Migranten und Flüchtlinge an der Landgrenze zur Türkei auf. Sie schießen mit Tränengas und wohl auch Geschossen aus Hartgummi.
Die Grenzer bekommen nun Unterstützung aus anderen EU-Staaten. Die Kommission stellte Griechenland zudem 700 Millionen Euro in Aussicht. Das Geld soll dem "Migrationsmanagement" dienen.
Rund 20.000 Geflüchtete hielten sich nach Einschätzung des UNHCR am Montag an der Landgrenze und an der türkischen Küste in der Nähe der griechischen Inseln auf. Am Grenzübergang in Kastanies wird es zunehmend ruhiger, nach der harschen Reaktion der Griechen versuchen viele ihr Glück nun weiter im Süden.
Wer dort auf die andere Seite des Grenzflusses Evros gelangt, hat es aber noch nicht geschafft. Die griechischen Grenzer jagen sie auf den Feldern und Straßen in Grenznähe.
Am Mittag sitzen in Kastanies zwei junge Männer auf dem Kantstein. In ihren Augen sammeln sich Tränen. Die griechische Polizei hat sie aufgegriffen, als sie auf der Straße weg vom Grenzübergang liefen. Sie geben an, Syrer zu sein. "Was ist passiert?", fragt einer der beiden. "Du bist illegal hier", antwortet der Polizist.
Wenige Minuten später stoppt ein Lieferwagen ohne Kennzeichen, die beiden Männer müssen durch die Kofferraumtür einsteigen, sie werden auf die Ladefläche getrieben.
In der EU werden sie wohl nicht lange bleiben: Neuerdings werden Migranten, die die Grenze illegal übertreten haben, teilweise zu Haft- und Geldstrafen verurteilt. Immer wieder berichten Geflüchtete zudem von illegalen Abschiebungen in die Türkei.