Istanbul-Konvention Die Türkei ringt mit den Frauenrechten

Demonstration in Istanbul: Überall in der Türkei gehen Menschen gegen Gewalt gegen Frauen auf die Straße
Foto: Dilara Acikgoz / INA Photo Agency/ imago images/INA Photo AgencyNachdem die Studentin Pinar Gültekin im Juli von ihrem Ex-Freund getötet wurde, schrieb der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Twitter: "Ich verfluche alle Verbrechen gegen Frauen." Er habe keinen Zweifel daran, "dass der Mörder, der Pinar Gültekin getötet hat, die schwerste Strafe erhalten wird, die er verdient." Immer mehr Frauenrechtsorganisationen kommt sein Tweet inzwischen wie Hohn vor.
Die junge Frau war in diesem Jahr bereits das 235. Opfer eines Femizids , wie die türkische Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" zählt. Femizide werden Morde an Frauen genannt, wenn diese allein deshalb verübt werden, weil die Opfer Frauen sind. Und in der Türkei sind die Zahlen dieser Morde laut der Organisation in den letzten Jahren gestiegen: zwischen 2015 und 2019 um mehr als 50 Prozent. 474 Femizide gab es demnach 2019 in der Türkei. Während der Coronakrise kam es nochmals vermehrt zu häuslicher Gewalt, wie die "Federation of Women Associations of Turkey " berichtete.
Dennoch bewegt sich die Debatte in der Türkei gerade in eine andere Richtung. Während Frauen seit Wochen für ihre Rechte auf die Straße gehen und eine bessere Umsetzung der Gewaltschutz-Konvention des Europarates fordern, diskutiert die Regierungspartei AKP darüber, aus dem völkerrechtlich bindenden Vertrag auszutreten, der den Staat zum Schutz der Frauenrechte verpflichtet. Es geht um die Istanbul-Konvention des Europarats, die ausgerechnet den Namen der türkischen Stadt trägt, in der sie von den ersten Mitgliedern unterzeichnet wurde. Die Türkei hatte sie 2012 als erster Staat ratifiziert.
Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, jegliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie alle Formen häuslicher Gewalt als Verbrechen einzustufen. Das Abkommen ist völkerrechtlich bindend - alle staatlichen Organe müssen die Verpflichtungen damit in ihrer nationalen Gesetzgebung umsetzen.
Es ist bereits von allen Mitgliedern des Europarates unterzeichnet worden , bis auf Russland und Aserbaidschan. 34 Staaten haben es ratifiziert. In Deutschland trat die Konvention erst 2018 in Kraft. Nicht alle Staaten verfolgen übrigens dieses Ziel: Bulgarien und Ungarn weigern sich etwa strikt gegen eine Ratifizierung, weil sie die Konvention für "Gender-Ideologie" halten, dahinter steckt ein konservatives Familienbild, das in diesen Staaten vor allem von der katholischen Kirche befördert wird.
Ein "völlig verzerrtes Verständnis von Gewalt"
Teile der türkischen Regierungspartei AKP finden, dass das Abkommen traditionelle Familienwerte untergrabe. Präsident Erdogan hatte deshalb bereits im Februar angekündigt, die Konvention überprüfen zu lassen. Und nicht nur in der Türkei gibt es nun Gegenwind: Auch die national-konservative Regierung Polens hat kürzlich angekündigt, sich aus der Konvention zurückziehen zu wollen. Frauenrechtsorganisationen im Land liefen Sturm. Entschieden ist allerdings noch nichts.
Mit einem Austritt aus der Konvention für Frauenrechte könnte die Türkei den Weg freimachen für Gesetzesinitiativen, die den traditionellen Familienwerten des Landes entsprechen. Die SPD-Politikerin Lale Akgün befürchtete im Deutschlandfunk , das wäre ein Schritt in Richtung eines islamischen Staates. Frauenorganisationen befürchten eine Wende in der Gesellschaftspolitik.
Tatsächlich hatte die Türkei es mit der Umsetzung der Maßnahmen der Frauenrechts-Konvention allerdings nie so genau genommen. Immer wieder hatten Experten kritisiert, die Türkei wende in der Praxis die Rechtsnormen nicht an und realisiere keine Hilfsmaßnahmen für Frauen.
Bereits 2018 hatte der Europarat die Türkei für ihren Umgang mit Frauenrechten gerügt und dem Land ein "völlig verzerrtes Verständnis von Gewalt" attestiert. In der Türkei würden Vergewaltigungen oft als Verfehlungen der Frauen gesehen, die damit die Familie "entehrten", stellten die Experten fest. Zudem ließen Richter teils willkürlich Milde gegenüber Gewalttätern walten. Auch die hohe Anzahl von Kinderehen in der Türkei missfiel dem Europarat. Obwohl das Mindestalter für eine Eheschließung in der Türkei bei 18 Jahren liegt, kommen immer wieder Ehen mit Minderjährigen zustande.
Zuletzt wollte die AKP einen Gesetzentwurf durchbringen , in dem Kindesmissbrauch rückwirkend für straffrei erklärt wird, wenn der Täter sein Opfer heiratet. Der Staat müsse verhindern, dass moderne Strafgesetze mit der traditionellen Verheiratung Minderjähriger kollidierten, hieß es. Der Entwurf war in der Vergangenheit auf heftigen Protest von Frauenorganisationen gestoßen. Sie bemängelten: Er wirke wie eine Amnestie für Vergewaltiger.